In der zweitgrößten Stadt Alexandria wurde ein Anschlag am Eingang der St.- Markus- Kathedrale verübt, bei dem 16 Menschen starben. Zwei Stunden vorher tötete eine Bombe in einer Kirche in Tanta, einer Stadt im Nildelta, 29 Menschen. Es gibt unbestätigte Informationen über weitere Anschläge auf Kirchen im gesamten Land. Der Islamische Staat (IS) hat die Verantwortung für die Attentate übernommen, die mit den Feierlichkeiten der koptischen Christen in Ägypten anlässlich des Palmsonntags zusammenfielen. Bereits im Dezember letzten Jahres war es in der Kirche St. Peter und Paul in Kairo zu einem Selbstmordattentat mit 29 Toten gekommen, danach war im Februar ein Video von einer Gruppe aus der Provinz Sinai veröffentlicht worden, die sich selbst als Untergliederung des IS ausgab, in dem weitere Anschläge auf die Kopten in ganz Ägypten angedroht wurden.
Präsident al-Sisi hat einen dreimonatigen Ausnahmezustand verhängt und verkündet, dass es zu einem verstärkten Einsatz der Armee in den ägyptischen Städten kommen wird, um „die staatlichen Institutionen zu schützen“.
Diese sinnlosen barbarischen Terrorakte gegen gewöhnliche ÄgypterInnen, die sich an einem Feiertag erfreuen, müssen aufs Schärfste verurteilt werden. Aber wir müssen auch die Frage stellen: Warum ist das passiert? Es ist sicherlich der Fall, dass die Bombenanschläge vor dem Hintergrund einer zunehmenden Gewalt gegen Kopten auf der Sinai-Halbinsel durch Anhänger des IS erfolgten. Koptische BürgerInnen in Al-Arisch werden in ihren Häusern angegriffen, oft gefoltert und getötet und Flüchtlinge, die in Ismailia angekommen sind, haben berichtet, dass sie mit dem Tode bedroht wurden und deshalb fliehen mussten. Aber die genannten Ziele und Aktionen von monströsen fundamentalistischen Reaktionären geben nicht das gesamte Bild der gestrigen Ereignisse oder deren Beziehung zur aktuellen Lage in Ägypten insgesamt wieder.
Von ÄgypterInnen wird oft angemerkt, dass sie infolge einer langen Geschichte von repressiven Regimes und sektiererischer Gewalt gegenüber Ereignissen, wie den gestrigen, desensibilisiert sind. Aber in der Altstadt von Alexandria, in der die Anschläge stattfanden, ist die Stimmung gedrückt. Läden und Geschäfte blieben gestern geschlossen und diejenigen, die ihrer Arbeit nachgingen, taten das in aller Stille. Die Einwohner wurden vor starkem Verkehr und zunehmender militärischer Präsenz gewarnt, aber beides blieb aus. Es scheint, dass viele Menschen in ihren Häusern Zuflucht suchen, was für die Stadt ungewöhnlich ist, um mit ihrem schweren Trauma zurechtzukommen. Wenn sie zu den Anschlägen gefragt werden, zeigen aber die meisten mit dem Finger direkt auf die Regierung.
Außerdem kam es in Alexandria nach dem Anschlag, im Gegensatz zur unheimlichen Stille in den meisten anderen Städten, zu einer spontanen Protestveranstaltung von 3000 muslimischen und christlichen Jugendlichen vor der Kathedrale. Angesichts schwerbewaffneter Polizei und starker militärischer Präsenz, riefen die DemonstrantInnen „Gegen al-Sisi!“, „Gegen die Polizei!“, „Christen und Muslime gehen Hand in Hand“, womit sie das Hand-in-Hand-Motto der ägyptischen Revolution wiederholten.
Die fortgeschrittenen Schlussfolgerungen, die viele Menschen aus der Reaktion des ägyptischen Staats auf diese Terroranschläge ziehen, werden durch die tatsächliche Lage bestätigt. Die totale Inkompetenz der Armee und der Polizei bezüglich dieser Ereignisse und deren Unvermögen angesichts der Guerillakriegsführung des IS auf der Sinai-Halbinsel, haben im gesamten Land eine weitverbreitete Wut verursacht. Es war vor allem die vermeintliche Fähigkeit des Staates, die Menschen vor der islamischen Reaktion zu schützen, die al-Sisi in den ersten Monaten seines Regimes eine gewisse Glaubwürdigkeit verschaffte. Jetzt stellt sich heraus, dass das Regime nicht in der Lage ist, sein wichtigstes Versprechen zu erfüllen.
Bei den gestrigen Ereignissen sind die Beweise eindeutig. Ein riesiges Polizeiaufgebot bewachte die Kathedrale, welche der älteste Sitz der koptischen Kirche ist und in dem sich zu diesem Zeitpunkt der koptische Papst aufhielt. Die Polizeipräsenz sollte genau einen solchen Terroranschlag verhindern. Videoaufzeichnungen zeigen aber, dass der Angriff über eine der Begrenzungen der Kathedrale möglich war, obwohl ein Körperscanner-Alarm ausgelöst wurde, bevor ein Sprengstoffgürtel an einem der Eingänge explodierte. Das Attentat in Tantra wurde in derselben Kirche ausgeführt, in der die Polizei am 29. März eine kontrollierte Sprengung durchführen musste. Gladys Haddad, eine Augenzeugin, erklärt, wie die Lage der Trümmer vermuten lässt, muss der Attentäter die erste Reihe der Kirchenbänke erreicht haben und sie fragt sich, wie es ihm so leicht gemacht wurde, in die Kirche zu gelangen.
Die Schwäche des Staats ist jedoch nicht auf seine Unfähigkeit begrenzt, solche Attentate zu verhindern. Die Stärke der kleinen Demonstration vor der Kathedrale illustriert das ganze Ausmaß seines Unvermögens. Vor dem Anschlag gab es eine sichtbare militärische Präsenz, die danach um das Vielfache erhöht wurde, so dass fast 50 gepanzerte Fahrzeuge und hunderte bewaffneter Sicherheitsbeamte aufgeboten wurden. Beim Versuch, den Protest aufzulösen, wurden vier Menschen verhaftet und vor den versammelten DemonstrantInnen zusammengeschlagen. Aber durch diese Repressionsmaßnahmen ließen sich die DemonstrantInnen nicht einschüchtern, der Protest ging bis in die Nacht und die Polizei erwies sich als machtlos, um auf die provokativen Sprechchöre gegen sie zu reagieren.
Es gibt in Ägypten aber auch Menschen, die meinen, dass die Rolle des Regimes über eine reine Unfähigkeit und ein reines Unvermögen hinausgeht und verweisen auf eine Verschwörungstheorie hinsichtlich der Anschläge. Es besteht keine Notwendigkeit für solche Theorien, die auf die schädliche Rolle des ägyptischen Staates bei der Unterstützung und Begünstigung der islamischen Reaktion zur Spaltung der Massen entlang sektiererischer Linien, verweisen. Es ist für die meisten Menschen offensichtlich, die vollkommen unangemessene Reaktion des Regimes auf die Bekämpfung dieses Elends der Bevölkerung in Ägypten zu erkennen.
Al-Sisi und seine Verbrecherbande sind durchaus bereit, die Bedrohung durch die Muslimbruderschaft als Deckmantel zu nutzen, um tausende ehrlicher Revolutionäre ins Gefängnis zu werfen, wenn es aber zur dunkelsten fundamentalistischen Reaktion kommt, sind sie ohnmächtig, die Terroranschläge zu verhindern. Beim so genannten Krieg gegen den Terror auf der Sinai-Halbinsel sind viele normale Menschen getötet worden oder haben ihre Existenzgrundlage verloren, während der IS relativ unversehrt geblieben ist. Wir dürfen nicht die Rolle des westlichen Imperialismus bei der Schaffung des IS, der diese Anschläge inspiriert hat, vergessen, nämlich die Bombardierung des Iraks und die Unterstützung islamistischer Milizen in Syrien, um seine eigenen begrenzten Interessen durchzusetzen. Die Plage, mit der Ägypten konfrontiert wird, ist die gleiche Plage mit der die meisten Länder weltweit als Ergebnis dieser reaktionären imperialistischen Politik konfrontiert werden.
Das al-Sisi-Regime befindet sich in einer tiefen Krise. Viele haben seinen baldigen Niedergang vorhergesehen, deshalb ist es klar, dass diese Anschläge auf zynische Weise benutzt werden, um das Regime vorübergehend zu stabilisieren. Nach den Bespielen von Frankreich und Britannien zu urteilen, wird der gestern vom ägyptischen Präsidenten erklärte Ausnahmezustand als Vorwand genutzt werden, um eine viel größere Bedrohung für das Regime als die Terroranschläge zu zerschlagen: die revolutionäre Jugend und die ArbeiterInnenklasse. So wird deutlich, dass der islamische Fundamentalismus und das brutale Regime - die sich scheinbar als Todfeinde gegenüberstehen – versuchen werden, sich gegenseitig zu stützen.
Das ist bereits die ganze Zeit die Methode von al-Sisi gewesen. Die Sinai-Region befindet sich schon seit einigen Jahren in einem Ausnahmezustand und al-Sisis Regierung hat versucht, dies als Vorwand zu benutzen, um konterrevolutionäre Gesetze durchzuboxen und Streiks und Demonstrationen im restlichen Ägypten zu beenden. Zweifelsohne wird al-Sisi die Anschläge als Vorwand nehmen, um die Repression zu verschärfen.
Aufgrund des Glaubwürdigkeitsmangels der Regierung sind die fortschrittlichsten Schichten der ägyptischen Gesellschaft, und viele darüber hinaus, zu dem Schluss gelangt, dass reaktionäre Gewaltakte ausgeübt werden, weil Ägypten von einem kollabierenden Regime regiert wird, das ersetzt werden muss. Wir sollten ergänzen, dass das Monstrum dieser reaktionären Gewalt durch das weltweite kapitalistische System, die Grundlage des gegenwärtigen ägyptischen Regimes, geschaffen wurde und deshalb zerstört werden muss, damit jede andere Regierung mit diesem Problem erfolgreich umgehen kann.
Wie sich gestern gezeigt hat, fürchtet sich die revolutionäre ägyptische Jugend nicht bei ihrem Wunsch, das Regime loszuwerden. Aber, wie einer der lokalen Aktivisten erklärte, hat sie kein Programm für dieses Vorhaben. Er verglich den revolutionären Eifer der Jugend mit den Übergangsforderungen der Krankenschwestern, deren Proteste er in der vergangenen Woche erlebt hatte und wies darauf hin, dass die Trennung zwischen den beiden Protestaktionen ein Haupthindernis sei, dass die ägyptische Revolution beseitigen müsse, um zukünftig Erfolg zu haben.
Das Fehlen einer revolutionären Führung mit einem klaren Plan zum Sturz des ägyptischen Kapitalismus ist der entscheidende Grund, dass die Revolutionen von 2011 und 2013,trotz der revolutionären Energie und der Kraft der Massenaufstände, nur eine Fraktion der herrschenden Klasse stürzten, um eine andere an die Macht zu bringen. Es hat sich nichts Grundlegendes geändert. Die Staatsmacht und die Wirtschaft befinden sich weiterhin in den Händen der gleichen Personen. Da es trotz der heldenhaften Bemühungen zu keinen Veränderungen gekommen ist, ist die Revolution abgeebbt. Die Massen sind müde und desorientiert. Unter solchen Bedingungen können solche Kreaturen wie das al-Sisi-Regime und die Fundamentalisten auf der Sinai-Halbinsel ihre schmutzigen Köpfe heben. Die traurige Wahrheit ist, dass durch das Hinauszögern der ägyptischen Revolution derartige Schreckenstaten, wie die gestrigen Bombenattentate, hervorgerufen werden. Die einzige Möglichkeit, die Blutflecken des reaktionären Fundamentalismus zu entfernen, ist der Sturz des schwachen Regimes, der diesen Fundamentalismus beherbergt, und des verrotteten Systems, der ihn verursacht hat.
Die ägyptische Revolution ist natürlich nicht beendet. Die Massen haben sich vorübergehend zurückgezogen, aber die herrschende Klasse ist äußerst schwach. Sie ist nicht in der Lage, die grundlegenden gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Die Armut steigt steil an und überall ist eine Unzufriedenheit zu spüren. Zu einem bestimmten Zeitpunkt werden die Massen wieder die Bühne betreten. Um einen vollständigen Sieg und eine Gesellschaft, die fähig ist, Sicherheit und Freiheit für die normalen ÄgypterInnen zu garantieren, zu gewährleisten, muss die Bewegung zu ihrem endgültigen Abschluss geführt werden, damit dem System selbst der Garaus bereitet wird.
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