Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war die Ankündigung des Präsidenten Abdelaziz Bouteflika, ein fünftes Mal zu den Wahlen im April anzutreten. Seit einem Schlaganfall 2013 ist er in einem halbvegetativen Zustand und dient als Marionette einer eng verschmolzenen herrschenden Clique aus Generälen, Big-Business und Staatsbürokratie. Mit der Ankündigung des verfassungswidrigen Wahlantritts explodierte die über Jahrzehnte angestaute Wut der Massen auf das korrupte, extrem repressive und degenerierte Regime. In etlichen Städten im ganzen Land strömen sie auf die Straße und skandieren zunehmend radikale Slogans, die sich nicht mehr nur gegen Bouteflika richten, sondern gegen das gesamte System. Die Ankündigung des Militärs, „unter allen Umständen Sicherheit zu gewährleisten“ waren leere Worte, als am 15. März Millionen Menschen protestierten. Hätten die Generäle einen Angriff auf die Bewegung gewagt, wäre das Heer entlang von Klassenlinien zerbrochen. Ein Video eines Polizisten, der sich mit der Bewegung solidarisierte, wurde binnen eines Tages zehntausende Male geteilt.
Die Macht der Arbeiterklasse
Eine signifikante Wendung kam nach dem 8. März: Nach Massenprotesten von mehreren Millionen wurde der Ruf nach einem Generalstreik laut. Ab 10. März traten immer weitere Teile der Arbeiterklasse in Streik. Zunächst organisierten sie sich individuell in Gruppen via Social Media, doch binnen weniger Tage beteiligte sich die große Mehrheit der Ortsgruppen der größten Gewerkschaft, UGTA (Union Générale des Travailleurs Algériens) gegen den Willen ihrer regierungstreuen Führung am Streik. Häfen, Autofabriken, Züge, U-Bahnen, Landwirtschaftsbetriebe, kleine Läden, Schulen und auch der wirtschaftlich mächtigste Sektor des Landes, die Ölindustrie, wurden bestreikt.
In den Revolutionen in Tunesien und Ägypten 2011 war der Eintritt der Arbeiterklasse in die Bewegung der entscheidende Wendepunkt, der zum Sturz der Diktatoren führte. Auch in Algerien begann sich die Arbeiterklasse in einer Streikwelle im Frühjahr 2011 zu regen. Doch damals schaffte es das Regime, die Bewegung zu stoppen: Erstens genoss die Regierungspartei FNL (Nationale Befreiungsfront) aufgrund vergangener sozialer Errungenschaften noch Rückhalt in der Bevölkerung. Zweitens war die Drohkulisse eines erneuten Bürgerkriegs nach dem schrecklichen Krieg der 1990er Jahre noch zu frisch im Gedächtnis der Menschen und drittens konnte das Regime dank der hohen Ölpreise sozialen Frieden „erkaufen“: Die öffentlichen Ausgaben stiegen damals um 25%. Doch all diese Faktoren sind heute aufgebraucht. Nach dem Einbruch des Ölpreises 2014 folgte eine brutale Sparpolitik. Die korrupte „Revolutionspartei“ FNL diskreditiert sich immer weiter. Einst der Träger des antikolonialen Kampfes, ist sie heute nichts als ein Agent des französischen Imperialismus im Land. Sie ist der Beweis für die Grenzen eines Kampfes für Demokratie innerhalb des Kapitalismus, und für die Notwendigkeit einen demokratischen Kampf in einen Kampf für Sozialismus weiterzutragen.
Herrschende in Panik – internationale Solidarität der Massen
Als das Regime sah, dass die algerische Arbeiterklasse den gleichen Weg wie im Arabischen Frühling einschlug, ruderten sie zurück. Plötzlich erklärte Bouteflika (bzw. seine Sprachrohre), er würde doch kein fünftes Mal zu Wahlen antreten. Stattdessen würden die Wahlen auf unbestimmte Zeit verschoben werden und indes eine „Nationale Konferenz“ einberufen werden, die eine Verfassungsänderung anstreben sollte. Zudem wurden zwei Minister ausgetauscht. Der Zweck dieser Manöver ist klar: Die Bewegung soll gespalten und desorientiert werden, um einen Gegenschlag der Regierung zu ermöglichen.
Doch die Massen ließen sich von diesen Ablenkungsmanövern nicht täuschen und die Proteste weiteten sich sogar noch weiter aus. Der Zorn der Massen führt umgekehrt dazu, dass das Regime in einer Sackgasse steckt. Sollten sie einen neuen Kandidaten ins Rennen schicken würde das vorsichtig errichtete Gefüge der Machtteilung ins Wanken geraten; doch jedes Zugeständnis an die Massen würde der Bewegung noch mehr Selbstbewusstsein verleihen.
Neben den algerischen Kapitalisten ist auch der französische Imperialismus, die ehemalige Kolonialmacht Algeriens, besorgt. Emmanuel Macron, der nur wenige Wochen zuvor die reaktionäre Opposition in Venezuela mit dem Argument der „Demokratie“ verteidigte, hat keine Bedenken, eine degenerierte Militärdiktatur mit zivilem Anstrich in Algerien zu unterstützen. Zunächst ignorierte er die Angriffe auf die Demonstrierenden und das unrechtmäßige Vorgehen in Bouteflikas Wahlkampagne, nur um später dessen Entschluss, nicht zur Wahl anzutreten zu loben und für eine „Übergangsperiode von angemessener Dauer (!)“ zu argumentieren. Die Massen in Algerien reagierten mit Slogans wie „Macron raus!“. Gleichzeitig gingen zehntausende Algerier in Frankreich aus Protest auf die Straße. Umgekehrt solidarisierte sich die Bewegung in Algerien mit den Gelbwesten in Frankreich.
Das Regime am Ende – die Revolution vor der Geburt
Die Bewegung in Algerien zeigt die Sackgasse auf, in der der Kapitalismus steckt. Das Regime versucht auf Zeit zu setzen, um die Bewegung ins Leere laufen zu lassen und dann zurückzuschlagen. Um dies zu verhindern, muss die Bewegung auf eine höhere Ebene gehoben werden: Die Streikbewegung, die langsam abklingt, muss gestärkt werden, indem Streikkomitees in allen Schulen, Fabriken und Betrieben gewählt werden. Diese müssen auf nationaler Ebene zusammengeführt werden, um gemeinsam dem Regime den Garaus zu machen. In Tunesien fiel das alte Regime nach 3 Tagen von landesweiten Massenstreiks. In Ägypten musste Mubarak nach zwei Tagen gehen. Während sich die revolutionäre Bewegung in Algerien erhebt, brodelt es in allen Ländern der Region unter der Oberfläche, wo jederzeit revolutionäre Erhebungen ausbrechen können. Wird das Bouteflika-Regime gestürzt, wird sich in der Region eine mächtige revolutionäre Welle ausbreiten, in der die Arabische Revolution erneut ihr Haupt erhebt.
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