Kategorie: Amerika

Venezuela: Die Wirtschaftskrise verschärft sich – Wie geht es weiter?

Die wirtschaftliche Situation für die Massen in Venezuela hat sich in den letzten Wochen extrem verschlechtert. Die schon bestehenden Probleme haben sich verschlimmert, die Preise geraten außer Kontrolle, das Transportsystem steht vor einem weiteren Kollaps und es ist zu einer Verschlimmerung der Lebensmittel-, Benzin- und Geldknappheit gekommen. Das hat zu vereinzelten Protesten und Plünderungen geführt.


Die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlungen im Juli letzten Jahres hatte unter den bolivarischen Massen Hoffnungen geweckt, dass Maßnahmen ergriffen werden würden, um die wirtschaftlichen Probleme der arbeitenden Menschen zu lösen. Diese sind schwer enttäuscht worden. Gesetze, Projekte und hochtrabende Ankündigungen haben sich abgewechselt, aber die Lage vor Ort verschlimmert sich nur noch.

Proteste und Plünderungen

Die Regierung und die Führung der PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) hatten alle möglichen Versprechungen, wie die Verteilung von Lebensmittelpaketen, besondere Lebensmittellieferungen zu Weihnachten etc. gemacht, um eine hohe Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen vom 10. Dezember zu garantieren, aber diese wurden nicht gehalten. Nachdem die Menschen von der aktuellen Situation die Nase voll hatten, kam es vor Weihnachten im ganzen Land zu kleineren Menschenansammlungen in den Stadtvierteln. Sie gingen spontan auf die Straße, um gegen höhere Fahrpreise, den Mangel an Lebensmitteln, Stromausfälle, die Benzinknappheit etc. zu protestieren. Die Proteste verstärkten sich in der letzten Woche des Jahres und in einigen Fällen kam es zu Plünderungsversuchen. Die Menschen protestierten dagegen, dass die von der Regierung versprochenen Lebensmittelpakete und der traditionelle Weihnachtsschinken (‚pernil‘) nicht geliefert wurden. Es muss betont werden, dass diese Proteste überwiegend in chavistischen Gegenden stattfanden und nichts mit der rechten Opposition zu tun haben. Sie fanden in Bundesstaaten wie Aragua, Nueva Esparta, Bolívar, Anzoátegui, Portugesa, Guárico, Táchira und der Hauptstadt Caracas statt.

Mit dem neuen Jahr verschlechterte sich die Lage und es kam zur Plünderung von Lebensmittellagern und Supermärkten sowie zu Angriffen auf LKWs, die Lebensmittel geladen hatten. In Cagua (Aragua) errichteten die Einwohner Straßenblockaden und beschlagnahmten Nahrungsmittel von vorbeifahrenden LKWs. Es kam in mindestens sechs Bundesstaaten sowohl zu Plünderungen als auch zu anderen Protestformen, die sich alle auf den Lebensmittelmangel und die Knappheit bei anderen Grundprodukten bezogen.

Die schlimmsten Vorfälle fanden in ländlichen Gebieten entlang der Panamericana (längste Straße der Welt, von Alaska bis Feuerland) im Norden von Merida am 11. und 12. Januar statt. Hier kam es in einer Reihe von Städten zu Plünderungen von Supermärkten, Angriffe auf LKWs und in einem Fall stürmten Hunderte Menschen eine Farm und töteten und stahlen über 100 Rinder. Bei diesen Vorfällen wurden vier Menschen getötet und 15 verletzt. Die Umstände sind immer noch nicht klar, einigen Berichten zufolge eröffneten schwerbewaffnete Männer (möglicherweise Paramilitärs) das Feuer auf Plünderer in Arapuey.

Am 16. Januar geriet ein LKW, der lebende Hähnchen geladen hatte, in eine Straßenblockade in Villa de Cura (Aragua). Die Menschen gingen auf die Straße, plünderten den LKW und nahmen die Hähnchen mit. Am 18. Januar wurde ein Fischerboot voller Sardinen geplündert, bevor es die Küste der Insel Margarita erreichte.

Wie oft bei spontanen Protesten und Plünderungen beteiligten sich hier auch kriminelle Elemente aus den ureigensten Motiven. Es gab Fälle, in den Spirituosengeschäfte geplündert wurden, in anderen gab es deutliche Anzeichen dafür, dass es sich nicht um die verzweifelte Suche nach Lebensmittel handelte. Maßgeblich bei all diesen Protesten aber war, dass sie überwiegend in Gegenden stattfanden, in den viele Arme und Angehörige der Arbeiterklasse leben, die traditionell die Bolivarische Revolution unterstützen und jetzt durch echte Missstände und den Mangel an Lebensmitteln motiviert wurden. Dabei handelt es sich um verzweifelte Versuche einfacher Menschen, um ihre Wut auszudrücken. Die Opposition hat die Plünderungen sofort kritisiert und sich deutlich für die Verteidigung des Privateigentums ausgesprochen.

Das Scheitern der Opposition bei den gewalttätigen Versuchen die Regierung von März bis Juli 2017 zu stürzen und das anschließende Abebben der konterrevolutionären Bewegung hat die Menschen wahrscheinlich ermutigt, offener zu protestieren, ohne Gefahr zu laufen mit der verhassten reaktionären Opposition in einen Topf geworfen zu werden.

Preissteigerungen

Die enormen Preissteigerungen zur Jahreswende spielten bei der Auslösung vieler Proteste eine wichtige Rolle und sind zu einem bedeutenden Problem für die Menschen geworden. Hier nur einige Beispiele: Maismehl ist seit Oktober von 15.000 Bolívar (BsF) auf 60.000 pro Kilogramm gestiegen; der Preis von Margarine stieg von 65.000 BsF im Dezember auf 120.000 BsF im Januar; ein Kilo Fleisch kostete im September noch 26.000 BsF, heute aber 280.000, Hähnchenfleisch wurde im Oktober für 25.000 BsF das Kilo verkauft, im Dezember für 85.000 und heute für 180.000.

Viele dieser horrenden Preissteigerungen fanden statt, als die Regierung eine weitere Erhöhung des Mindestlohns verkündete. Der Mindestlohn lag bei 177.000 BsF plus Lebensmittelgutscheinen im Wert von 279.000 BsF, das sind insgesamt 456.000 BsF, er ist erhöht worden auf 248.000 BsF plus Lebensmittelgutscheine im Wert von 549.000 BsF, auf insgesamt 797.000 BsF. Aber die häufigen Lohnsteigerungen (sieben in 12 Monaten) werden sofort von der Inflation aufgefressen. In einem besonderen Fall hielten die Supermärkte ihre Produkte zurück als Lohnerhöhungen verkündet wurden und brachten sie – zum doppelten Preis - erst wieder in den Verkauf, als diese wirksam wurden. (Quelle: Lucha de Clases Venezuela)

Zusätzlich zu den Lohnerhöhungen verkündete die Regierung eine Reihe besonderer Vergünstigungen und Boni, die zu Weihnachten und Neujahr gezahlt wurden, von denen acht Mio. Familien profitierten. In seiner Neujahrsansprache an die Verfassungsgebende Versammlung verkündete Präsident Maduro weitere Unterstützungsleistungen, u. a. eine Familienbeihilfe für vier Mio. Familien (von 320.000 BsF für eine zweiköpfige Familie bis zu einer Mio. BsF für eine sechsköpfige) eine Schwangerschaftsbeihilfe in Höhe von 700.000 BsF pro Monat.

Diese Maßnahmen sind doppelt problematisch, erstens gehen sie das Hauptproblem der Versorgung und Produktion nicht an und zweitens werden sie durch das Drucken von Geld finanziert, was wiederum die Inflation anheizt.

Der Anstieg der Geldmenge hat ein bisher nie gekanntes Niveau erreicht. Zwischen den Kommunalwahlen am 10. Dezember und dem Jahresende stieg das Geldvolumen um 26%, zwischen den Regionalwahlen am 15. Oktober und dem Jahresende um 163%, zwischen den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung und dem Jahresende um 466% und im gesamten Jahr 2017 auf sage und schreibe 1.121%. Trotz der Beteuerung von Ökonomen, die der Regierung nahestehen, ist klar, dass die massive Erhöhung des Geldvolumens in Zusammenhang mit der schlimmen Wirtschaftskrise der Hauptfaktor für die aktuelle Hyperinflation ist. (Quelle: Venezolanische Zentralbank)

Gründe für den Mangel

Gleichzeitig ist die Versorgung des venezolanischen Marktes mit Produkten durch eine Reihe von Faktoren negativ beeinflusst worden. Dazu gehört der Zusammenbruch der Wirtschaft des Landes in vier aufeinanderfolgenden Jahren. Laut offiziellen Quellen lag das BIP-Wachstum 2014 bei -3,9%, 2015 bei -6,2% und 2016 bei -16,5%. Obwohl es für 2017 noch keine offiziellen Zahlen gibt, schätzt die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) ein Wachstum von -9,5%. Das würde einen Gesamtrückgang um fast ein Drittel seit 2014 bedeuten. (Quelle: Bericht der Regierung Venezuelas an die US-Börsenaufsicht)

Der wichtigste Faktor für diesen ökonomischen Zusammenbruch ist natürlich der stark gesunkene Ölpreis von ca. 100 US-Dollar pro Barrel 2013 auf durchschnittlich 35 Dollar 2016. Im Jahre 2017 ist es zu einer leichten Preiserholung gekommen (durchschnittlich $ 46 und $ 56 am Ende des Jahres), aber dem hat ein Produktionsrückgang entgegengewirkt, der aufgrund des Mangels an Mitteln zur Investition in die Unterhaltung und Erneuerung der Ausrüstung zustande kam (aber auch aufgrund offener Sabotage und Korruption). Die venezolanische Ölproduktion ist von über 2,8 Mio. Barrel pro Tag auf 1,6 Mio. im Dezember 2017 zurückgegangen. In einem Land, in dem 96% des Einkommens in harter Währung aus den Ölexporten stammt, hatte dies eine große Auswirkung auf die öffentlichen Finanzen und die Fähigkeit des Landes, Lebensmittel und andere Grundprodukte zu importieren.

Ausländische Währungsreserven sind aus diesem Grund von $30 Mrd. 2012 auf $22 Mrd. 2014 und auf weniger als $10 Mrd. heute aufgebraucht worden. Die Importe des Landes sind folglich zusammengebrochen, von einem Gesamtwert von $57 Mrd. 2013, auf $47 Mrd. 2014, $33 Mrd. 2015 und $16 Mrd. 2016. Die Zahlen von 2017 sind noch nicht veröffentlicht worden, aber wir können einen zusätzlichen Rückgang erwarten. In der Zwischenzeit hat die Regierung das sinkende Einkommen in harter Währung genutzt, um die Auslandsschulden pünktlich zu bezahlen. In einer Rede am 8. Januar machte Präsident Maduro eine Bilanzaufstellung und erklärte, dass das Land $74 Mrd. an Auslandsschulden bezahlt habe. (Quelle: Bericht der Regierung Venezuelas an die US-Börsenaufsicht)

Das ist natürlich ein bedeutender Faktor bei der Erzeugung von Mangel und Mangel ist wiederum ein wichtiger Faktor für das Entstehen von Schmuggel, Schwarzmarkthandel und Korruption, welcher diese Aktivitäten zu einer lukrativen Sache machen. An der Korruption, dem Schwarzmarkt und dem Schmuggel sind auf allen Ebenen Regierungsbeamte, Kapitalisten und Offiziere beteiligt. Diese obszöne Bereicherung durch diese skrupellosen Individuen erzeugt bei den einfachen Menschen, welche die Folgen der Knappheit spüren, für zusätzliche Wut.

Angesichts des Zusammenbruchs der Öleinkünfte ist die Regierung dazu übergegangen, das Staatsdefizit durch den Druck von Geld zu finanzieren. Laut offiziellen Zahlen lag das Staatsdefizit 2014 bei 8,8% des BIP, 2015 bei 10,3% und 2016 bei 17%. In diesen Jahren hat das Geldvolumen 2014 um 64% zugenommen, 2015 um 100%, 2016 um 158% und 2017 um rekordverdächtige 1.121%. (Quelle: Bericht der Regierung Venezuelas an die US-Börsenaufsicht)

Zusätzlich zu all den genannten Problemen haben die USA 2017 die venezolanische Wirtschaft mit zielgerichteten Sanktionen unter Druck gesetzt, welche hauptsächlich die Fähigkeit der Regierung beeinträchtigt, weitere Schulden aufzuladen und über bestehende Schulden zu verhandeln, ebenso die Fähigkeit ausländischer Unternehmen Geld an die venezolanische Regierung zu zahlen. Damit wird die Unterwerfung der Regierung bezweckt.

Die Knappheit an harter Währung hat den Dollar in eine wertvolle Ware verwandelt, einem Spekulationsobjekt. Das offizielle System mit dem der Staat Importeuren zu einem Vorzugspreis Dollar zuweist, ist zu einem System der extrem lukrativen Kapitalflucht geworden. Importeure, die mit Regierungsbeamten unter einer Decke stecken, wurden Dollars zu einem Preis von 10 BsF gegeben, als der Schwarzmarkt 10.000 BsF pro Dollar zahlte. Anstatt sie für Importe zu verwenden, gelangten die subventionierten Dollars entweder auf den Schwarzmarkt oder sie wurden direkt aus dem Land geschafft. Es gibt Berechnungen, die besagen, dass auf diese Weise 300 Mrd. Dollar in einem Zeitraum von 15 Jahren von Kapitalisten, falschen Geschäftsleuten und korrupten Regierungsbeamten abgezweigt wurden.

Dieses System ist beinahe zusammengebrochen, aber auch noch nicht durch anderes ersetzt worden. Im letzten Jahr organisierte die Regierung Dollarauktionen über das DICOM-System, bei dem der Wechselkurs bei 10.000 BsF pro Dollar lag, der Schwarzmarktpreis lag da aber schon bei 23.000 BsF. DICOM wurde im September 2017 eingestellt, da die Regierung nicht in der Lage war, weiteres Geld zur Verfügung zu stellen. Der Schwarzmarktpreis für den Dollar ist gerade auf 200.000 BsF gestiegen.

Während die Regierung darauf besteht, dass der Schwarzmarkpreis manipuliert ist und von denen festgelegt wird, welche die venezolanische Wirtschaft mit Hilfe der Website Dólar Today in den Ruin treiben wollen, ist klar, dass die Menschen keine Marktmanipulation akzeptieren würden, wenn es nicht eine Nachfrage nach dem Dollar zu diesem Preis geben würde. Wir haben es mit einer massiven Entwertung des Bolívar zu tun, welche die Hauptursache für die Inflation ist. Das wiederum verschärft das Problem der Inflation in einem Land, welches viele der Waren, die es konsumiert, importieren muss.

Die Wirtschaftskrise hat einen negativen Einfluss auf eine ganze Reihe von Sektoren, von den öffentlichen Verkehrsmitteln bis zum Gesundheitswesen. Die Kombination all dieser Faktoren und das Fortdauern der Wirtschaftskrise haben zu einer bedeutenden Auswanderungswelle von Venezuela in andere südamerikanische Staaten, nach Europa und in die USA geführt. Das betrifft vor allem die Mittelschichten, Fachleute und Menschen mit genug Geld, um den Flug zu bezahlen und ins Ausland überzusiedeln.

Im Gegensatz zu dem, was die kapitalistischen Medien behaupten, hat die Wirtschaftskrise nichts mit dem „Versagen des Sozialismus“ zu tun. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. 2003 führte Präsident Chávez eine Reihe von Maßnahmen durch, die darauf zielten, den Kapitalismus nach der, von der reaktionären Opposition und dem Großkapital organisierten schädlichen Sabotage in der Ölindustrie, zu regulieren.

Es wurde eine Devisenmarkt- und Preiskontrolle eingeführt, um die Kapitalflucht zu verhindern und die Menschen aus der Arbeiterklasse vor Inflation und Spekulation zu schützen. Zusätzlich verbot die Regierung Entlassungen. Das Problem aber ist, dass der Kapitalismus nicht reguliert werden kann. Die Kapitalisten fanden legale und illegale Mittel und Wege, um diese Kontrollen zu umgehen.

Obwohl die Regierung über ausreichende Mittel verfügte, waren die negativen Auswirkungen dieser Kontrollen nicht wirklich erkennbar. Die Regierung konnte die Einkünfte aus den Ölexporten in harter Währung nutzen, um Lebensmittel zu importieren und die Versorgung der ArbeiterInnen und Armen mit subventionierten Nahrungsmitteln zu garantieren. Als aber der Ölpreis zusammenbrach, konnte die Regierung sich dieses Vorgehen nicht länger leisten. Wenn sich die Kapitalisten weigern, Lebensmittel zu produzieren, die sie zu einem regulierten Preis verkaufen müssen und die Regierung es sich nicht leisten kann, Nahrungsmittel zu importieren und diese zu einem regulierten Preis zu verkaufen, führt das im Endeffekt zu einer Knappheit.

In Venezuela hat nicht der Sozialismus versagt, sondern der Versuch, den Kapitalismus zu regulieren, um ihn im Interesse der arbeitenden Menschen wirken zu lassen. Es gibt nur zwei Lösungen für diese Krise. Eine besteht darin, alle Kontrollen aufzuheben und es der kapitalistischen Wirtschaft zu ermöglichen „normal“ zu wirken, d. h. im Interesse des privaten Profits. Das würde für die ArbeiterInnen und die Armen eine vollständige Katastrophe bedeuten. Diese Maßnahme würde zwar Nahrungsmittel in die Regale bringen, aber zu Preisen, die sich niemand leisten kann. Sie würde auch zu Massenentlassungen im öffentlichen und privaten Sektor führen.

Die Politik der Regierung war bisher eine Kombination von Zugeständnissen an den privaten Sektor (die regulierten Preise sind fast abgeschafft und durch „vereinbarte Preise“ ersetzt worden), der massenhafte Druck von Geld, um die Lohnerhöhungen und die gezielten Lebensmittelsubventionen (CLAP Lebensmittelpakete) zu bezuschussen. Diese Politik löst nicht die Probleme der Arbeiterklasse, deren Einkommen durch die Inflation aufgefressen wird, stellt aber auch die Kapitalistenklasse nicht zufrieden, die eine vollständige Aufhebung aller Vorschriften will, um die Produktion wiederaufzunehmen.

Politische Auswirkungen

Die Wirtschaftskrise und vor allem die Unfähigkeit der Regierung diese, trotz regelmäßiger und wiederholter großspuriger Ankündigungen, anzugehen, hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Unterstützung der Bolivarischen Revolution. Das führte zur Niederlage bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Dezember 2015. Das bedeutendste Merkmal im Jahr 2017 war, dass der revolutionäre Geist der Massen, unter der Peitsche der Konterrevolution, wiederbelebt wurde, was sich an der enormen Beteiligung an den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung zeigte.

Ein harter Kern von ca.30% der Bevölkerung hält dem revolutionären Geist des Chavismus die Treue. Der durch Gewalt geprägten Kampagne der Opposition in der ersten Hälfte des letzten Jahres ist es nicht gelungen, die Arbeiterklasse und die Armen auf ihre Seite zu ziehen. Mit einem gesunden Klasseninstinkt haben die Massen erkannt, dass die Machtergreifung der reaktionären, proimperialistischen Opposition die drängendsten Probleme der Lebensmittelknappheit nicht lösen wird.

Die Bürokratie in der PSUV und im Staatsapparat hat daraus die falschen Schlüsse gezogen. Sie nahm an, dass die Unterstützung durch die Massen garantiert sei und mobilisierte sie in zwei weiteren Wahlkämpfen, für die Wahl der Gouverneure der Bundesstaaten im Oktober und die der Bürgermeister im Dezember. In der Zwischenzeit wurde aber keines der wichtigsten Probleme, mit denen die Massen konfrontiert werden, angegangen. Die ungezügelte Korruption, die steigende Inflation und der allgemeine Mangel gingen unvermindert weiter.

Bei den Wahlen im Oktober und Dezember gab es schon eine verdeckte Opposition und Kritik an der Führung, weil es dieser wiederum nicht gelungen war, eine Antwort auf die Wirtschaftskrise zu liefern. Die Funktionäre der PSUV zogen diese Wahlen durch und benutzten klientelzentrierte Methoden, bei denen PSUV-Kandidaten Lebensmittelpakete und andere Subventionen versprachen, um die WählerInnen zu mobilisieren. Diese Praktiken sind revolutionären AktivistInnen zuwider, weil sie genau die gleichen sind, die von der Acción Democratica benutzt wurden, um in der Vierten Republik (1958-1999) auf Stimmenfang zu gehen.

Bei den Kommunalwahlen wandten die PSUV und der Staatsapparat undemokratische Methoden an, um die Herausforderung einer Anzahl linker bolivarischer Kandidaten, die gegen die offiziellen Kandidaten der PSUV antraten, zu verhindern. Das passierte in einer Reihe von Einzelfällen, hatte aber eine bedeutende Auswirkung auf die revolutionäre Avantgarde, die an diesen Kampagnen in Caracas und einem halben Dutzend Orten, besonders in den ländlichen Gebieten, beteiligt war.

Die Parteiführer werden zunehmend als abgestumpfte Bürokraten betrachtet, die nur an ihren Posten kleben und darüber hinaus nicht in der Lage sind, die bestehenden Probleme der Massen zu lösen. Das spielt auch bei der aktuellen spontanen Protestwelle eine Rolle.

Während die Massen unter den Auswirkungen der Krise leiden, beteiligt sich die Regierung an Gesprächen mit der reaktionären Opposition in der Dominikanischen Republik. Viele VenezolanerInnen fragen sich, warum sich die Regierung mit diesen Terroristen an einen Tisch setzt, anstatt mit den ArbeiterInnen, den Bäuerinnen und Bauern und den Armen den Dialog aufzunehmen. Viele befürchten, dass es zu einer Neuauflage des berüchtigten Abkommens von Punto Fijo aus dem Jahre 1958 kommt, bei dem es sich um eine Übereinkunft der bürgerlichen Parteien zur Aufteilung der Macht handelte.

Bei den Diskussionen in der Dominikanischen Republik dreht es um verschiedene Fragen. Eine ist die Anerkennung der Konstituierenden Versammlung durch die Opposition statt die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Nationalversammlung durch die Regierung. Die andere dreht sich um die Bedingungen, unter denen die Präsidentschaftswahlen 2018 stattfinden werden und die Zusammensetzung des Nationalen Wahlrats, der diese überwacht.

Es ist nicht klar, ob es zu einer Übereinkunft kommt. Die Regierung hat eine Fraktion der Opposition umworben (Manuel Rosales’ Un Nuevo Tiempo). Andere wie Ramos Allups Acción Democrática sind so begierig darauf, sich an der Macht zu beteiligen, dass sie auch mit einbezogen werden könnten. Wieder andere lehnen solche Abkommen mit der Regierung vollständig ab und bevorzugen den Sturz der „Diktatur“, dazu gehören besonders die Kräfte um Maria Corina Machado. Zwischen diesen beiden Flügeln befindet sich der Rest der MUD (Tisch der Demokratischen Einheit), Parteien, die zwischen der einen oder anderen Position schwanken. In Wirklichkeit ist dies für die meisten reaktionären Oppositionsführer keine Grundsatzfrage, sondern eine der Taktik. Sie wollen die Maduro-Regierung beseitigen und die Macht übernehmen. Wenn sie der Meinung sind, stark genug zu sein, um dies mit Gewalt (mit terroristischen Methoden, mit Hilfe einer imperialistischen Intervention oder eines Militärputsches) zu erreichen, werden sie diesen Weg beschreiten. Momentan sind die zu schwach, gespalten und ihre Mitglieder sind durch die Niederlagen im letzten Jahr demoralisiert und deshalb werden sie versuchen, irgendein Abkommen mit der Regierung zu treffen, in der Hoffnung Maduro bei einer Wahl zu besiegen. Wenn sie merken, dass dieser Weg versperrt ist, werden sie nicht zögern, mit gewalttätigen und terroristischen Methoden auf die Straßen Venezuelas zurückzukehren.

Zwischenzeitlich wirbt eine Fraktion der herrschenden Klasse für den Geschäftsmann Lorenzo Mendoza, dem Besitzer des Lebensmittelgroßhandelsmonopolisten Grupo Polar, der als Kandidat bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen antreten soll. Er ist eine Art Macron, der vorgibt, die „Mitte“ zu repräsentieren und mit seinen „Erfahrungen als Geschäftsmann“ als Aktivposten aufwartet. Er gibt den Anschein einer „von den politischen Parteien und Klassen unabhängigen“ Lösung der gesellschaftlichen Probleme. Ein solcher Kandidat, der nicht mit der gewalttätigen Kampagne der Opposition im letzten Jahr in Verbindung steht, könnte – so hoffen sie – die WählerInnen der Mitte und sogar unzufriedene Chavisten für sich gewinnen.

Der Kampf der ArbeiterInnen

Es ist bedeutungsvoll, dass es in den letzten Wochen Hinweise auf eine Wiederbelebung der Kämpfe der ArbeiterInnen gab. Am 9. November besetzte eine Gruppe von ArbeiterInnen und GewerkschaftsvertreterInnen das Gelände des Arbeitsministeriums und forderte eine Lösung ihrer täglichen Probleme. Im Januar gingen ArbeiterInnen der verstaatlichten Zementfabrik Venceremos in Anzoategui auf die Straße, um aus Angst um ihre Arbeitsplätze gegen die beinahe Stilllegung der Fabrik zu protestieren. Noch bedeutsamer war eine Protestaktion der ÖlarbeiterInnen bei Petrocedeno, einem Joint-Venture-Unternehmen (PVDSA-TOTAL-Statoil), die einen Jahresendbonus forderten, da sie von ihrem Lohn nicht leben können. Diese ÖlarbeiterInnen betonten, dass sie nichts mit den guarimberos (Randalierer aus der Opposition) zu tun hätten und nicht vorhätten die Produktion lahmzulegen (eine Aktion, welche der Wirtschaft enormen Schaden zufügen könnte, wie das 2002 geschah, als es zu einer von der Opposition initiierten Aussperrung in der Ölindustrie kam).

Es handelt sich erst um einige wenige Einzelfälle, diese sind aber für die allgemeine Stimmung in der Gesellschaft symptomatisch und zeigen die Auswirkungen auf die Arbeiterklasse. Die ArbeiterInnen und die Armen leiden am meisten unter dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Sie wollen auf jeden Fall nicht, dass die reaktionäre Opposition an die Macht kommt, nehmen aber den Kampf auf, um ihre Existenzgrundlage zu verteidigen.

Die Lage ist höchst explosiv und die spontanen Proteste, die wir zu Beginn des Jahres beobachten konnten, können größer werden und zu weiteren Plünderungen führen. Nur die organisierte Arbeiterklasse kann den Menschen eine Plattform gegen ihre Wut und Unzufriedenheit geben.

Wie geht es weiter?

Als MarxistInnen haben wir wiederholt erklärt, dass wir die Politik dieser Regierung nicht unterstützen können. Solange sie an der Macht ist, hat sie keine wirklich ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um die Wirtschaftskrise anzugehen. Sie hat darauf bestanden, immer weitere Teilzugeständnisse an die Kapitalisten zu machen, wie die Aufhebung der Preiskontrollen, das neue Gesetz über Auslandsinvestitionen etc., die keine spürbare Wirkung gezeigt haben.

Wir müssen uns natürlich über eins im Klaren sein: Wenn die reaktionäre Opposition an die Macht käme, wäre das für die ArbeiterInnen und die Armen eine große Katastrophe. Sie würde die gesamte Last der Krise auf die Arbeiterklasse abladen und alle Schutzbestimmungen und Rechte, die noch existieren, zerstören. Anstatt Geld zur Finanzierung des Defizits zu drucken, würde sie die öffentlichen Ausgaben massiv kürzen und die Überreste des bolivarischen Sozialprogramms (misiones) zerschlagen. Sie würde sofort das Gesetz gegen Entlassungen außer Kraft setzen und Entlassungen in einem großen Stil im öffentlichen und privaten Sektor durchführen. Sie würde die subventionierten Lebensmittelpakete abschaffen und damit Millionen Familien aus einer schwierigen Situation direkt in den Hunger treiben. Unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Freiheiten würde es zu einer Hexenjagd gegen bolivarische AktivistInnen und deren Organisationen kommen, die noch bestehenden Überreste der Kommunen (Communes) und die ArbeiterInnenräte und  -kontrolle würden abgeschafft.

Die Regierung Maduro und die Führung der PSUV haben sich bei der Änderung der Lage als unfähig erwiesen. Die Bürokraten an der Spitze der PSUV und des Staatsapparates scheinen sich nur dafür zu interessieren, an der Macht zu bleiben. Die ArbeiterInnen, die Armen und die Bäuerinnen und Bauern können nur auf die eigene Kraft vertrauen.

Die Organisationen der ArbeiterInnen und der bolivarischen revolutionären Linken haben die Verantwortung ein Programm vorzuschlagen, dass eine echte Lösung für die Wirtschaftskrise anbietet, ein Programm, das im Widerspruch zur Regierungspolitik steht, dass aber auch die Pläne der Opposition vollständig zurückweist.

Ein solches Programm müsste mindestens die folgenden Schwerpunkte enthalten:

  • Ein staatliches Außenhandelsmonopol, so dass der Bourgeoisie keine weiteren Dollars übergeben werden.
  • Eine Untersuchung durch ArbeiterInnen über die bevorzugte Dollar-Vergabe in den letzten 15 Jahren. Die Beschlagnahme des Eigentums und die Verhaftung derjenigen, die an Diebstählen und Missmanagement beteiligt waren (Kapitalisten und Bürokraten).
  • Verstaatlichung und Zusammenlegung der Banken und Versicherungskonzerne, so dass alle ihre Ressourcen einem rationalen Produktionsplan unter Arbeiterkontrolle zur Verfügung gestellt werden.
  • Verstaatlichung aller Unternehmen unter Arbeiterkontrolle, die sich am Horten, an der Spekulation und dem Schwarzmarkt beteiligt haben.
  • Enteignung des gesamten Grundbesitzes, der von den in den Kommunen organisierten Bäuerinnen und Bauern übernommen wird. Den landwirtschaftlichen Kommunen werden Kredite gegeben, um Saatgut, Dünger, Maschinen etc. zu kaufen.
  • Verstaatlichung der gesamten Lebensmittelproduktion, -verarbeitung und des -vertriebs unter der demokratischen Kontrolle der Bauernkommunen, ArbeiterInnen und KonsumentInnen.
  • Errichtung revolutionärer Versorgungskomitees in jedem Stadtviertel mit der Vollmacht, Lebensmittel auf Grundlage der Bedürftigkeit zu kontrollieren, organisieren und zu verteilen.
  • Aussetzung der Bezahlung sämtlicher Auslandsschulden. Die Einfuhr von Grundnahrungsmitteln und Medikamente hat Priorität.
  • Alle Macht der Arbeiterklasse und der organisierten Bevölkerung. Nieder mit der Bürokratie.
  • Internationalistischer Appell an die ArbeiterInnen, Bäuerinnen und Bauern in Lateinamerika und der Welt, um der venezolanischen Revolution gegen eine imperialistische Intervention zu Hilfe zu kommen und diese zu verteidigen.

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