Eine Meuterei der Polizei, Scharfschützen, die auf Bergarbeiter schießen, ein OAS-Bericht, der die Rechtmäßigkeit der Wahlergebnisse in Frage stellt und schließlich die Armee, die ihm „vorschlägt“, zurückzutreten, waren nur die letzten Schritte am Wochenende. Wir haben uns von Anfang an gegen diesen reaktionären Putsch ausgesprochen und gleichzeitig darauf hingewiesen, wie die Bedingungen dafür geschaffen wurden.
Der unmittelbare Ablauf der Ereignisse begann mit der Meuterei der Polizei am Freitag, 8. November. Beginnend mit der Cochabamba UTOP (Bereitschaftspolizei) hatte diese sich bis Samstag, 9. November, auf acht der neun Bezirke des Landes ausgedehnt. Die Polizisten meuterten, weigerten sich, weiterhin auf der Straße zu arbeiten und schlossen sich in ihren Kasernen ein. Der nationale Polizeichef versuchte, die Situation herunterzuspielen und verleugnete, dass es eine Meuterei gab. Die Polizei sei einfach „in ihre Kasernen gegangen“, sagte er. Kurz darauf erklärte die Armee, dass sie „nicht auf die Straße gehen“ werde. Sie forderte noch nicht, dass Evo Morales zurücktritt, aber sie war offensichtlich auch nicht bereit, ihn zu verteidigen. Die Regierung hatte die Kontrolle über die staatlichen Repressionskräfte verloren.
In dieser Situation beschlossen die Bergleute von Huanuni, die in die Hauptstadt gereist waren, um sich dem Putsch zu widersetzen, sich zurückzuziehen. Eine Karawane, die in Opposition zu Evo Morales stand und von Potosí zur Hauptstadt marschierte, wurde in Vila Vila überfallen. Als Reaktion darauf beschlossen 2.500 Bergleute aus Potosí, die Karawane zu unterstützen und die Blockade zu beseitigen. Im Gegenzug wurden sie in Challapata von Scharfschützen angegriffen, so dass drei Bergleute verletzt wurden. Diese Vorfälle haben in Potosí Empörung ausgelöst. Die Bergarbeitergewerkschaft im riesigen Bergwerk San Cristobal gab eine Erklärung heraus, in der sie alle Bergleute, die an diesem Tag nicht arbeiten mussten, aufforderte, die Angegriffenen zu unterstützen. Die regionale Bergarbeitergewerkschaft nahm die gleiche Position ein.
Dann, am Sonntag, 10. November, um 2 Uhr morgens, gab die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die die Wahlen vom 20. Oktober überprüft hatte, eine vorläufige Erklärung der Kommission heraus. Das offizielle Ergebnis des vorläufigen Berichts war eigentlich für den 12. November geplant. In der Erklärung wurde mitgeteilt, dass die OAS „das Wahlergebnis nicht bestätigen“ könne und dass sie „empfohlen“ habe, Neuwahlen durchzuführen und das Wahlgremium zu ersetzen. Dies war ein schwerer Schlag für Evo Morales, der gegen die Opposition (die entweder eine zweite Runde oder seinen Rücktritt forderte) darauf bestanden hatte, dass alle auf die OAS-Überprüfung warten mussten und dass er die Ergebnisse respektieren würde. Die OAS hat ihre Erklärung deutlich vorgezogen, um das Ende von Morales voranzutreiben.
Ein Sieg für die Reaktion
Evo Morales berief dann eine Pressekonferenz ein, bis dahin hatte er bereits die Unterstützung der Gewerkschaftsbürokraten der COB verloren, die seiner Regierung gegenüber die ganze Zeit loyal gewesen waren. Um 7 Uhr morgens kündigte Morales die Annullierung der Wahlen an und forderte die Durchführung von Neuwahlen mit dem Ziel, das Land zu „befrieden“. OAS-Generalsekretär Almagro bestand darauf, dass Morales in der Zwischenzeit an der Macht bleiben und seine Amtszeit beenden sollte. Was der Imperialist Almagro wollte, war ein geordneter Machtwechsel, nicht die Tür für die Vorstellung offen zu halten, dass der Sturz von Regierungen durch Massenaktion akzeptabel sei. In der Tat verließ sich Morales zu diesem Zeitpunkt auf die Unterstützung der OAS.
Natürlich akzeptierte die rechte Opposition unter der Führung von Camacho, dem Führer des „Comité Cívico“ in Santa Cruz und Vertreter der reaktionären Cruceña-Oligarchie, diese Bedingungen nicht. Die Reaktion fühlte sich stark genug, da sie viele Menschen auf den Straßen mobilisiert hatten, gut organisierte faschistische Banden und große Teile der Polizei sie unterstützte und sie die Zustimmung des Oberkommandos der Armee erfuhr. Sie forderte den Rücktritt von Morales und war bereit, diesen mit allen notwendigen Mitteln herbeizuführen. Die reaktionären Kräfte wussten, was sie tun mussten, um ihre Ziele zu erreichen, und rückten Schritt für Schritt vor. Unterdessen schwankte die Regierung, zog sich zurück, bot Zugeständnisse an und war an selbst geschaffene verfassungsmäßige und rechtliche Zwänge gefesselt.
Mesa, der Oppositionskandidat, der bei den Wahlen vom 20. Oktober gegen Morales angetreten war und einen „gemäßigteren“ Flügel der bürgerlichen Opposition vertritt, lehnte ebenfalls die Forderung nach Neuwahlen durch Morales ab und bestand darauf, dass er zurücktreten müsse. Der Unterschied zwischen Mesa und Camacho war eine Frage des Verfahrens. Während Mesa einen „geordneten und verfassungsmäßigen“ Putsch unter seiner Kontrolle wollte, wollte Camacho einen scharfen, sauberen Neuanfang unter seiner Führung.
Am frühen Nachmittag kündigte die Armee an, einzugreifen, um zu verhindern, dass „irreguläre bewaffnete Gruppen die Bevölkerung angreifen“, unter Bezugnahme auf die Scharfschützen, die die Potosí-Bergarbeiter angegriffen hatten. Sie brachen die Befehlskette und handelten eigenmächtig und befolgten nicht mehr die Befehle des Präsidenten. Kurz darauf sollten sie in einer offiziellen Erklärung Morales „vorschlagen“, zurückzutreten. Der Putsch war vollendet.
Eine tödliche Politik der Zugeständnisse
Das Präsidentenflugzeug von Evo Morales verließ den Flughafen El Alto. Es gab Gerüchte, dass er nach Argentinien fliegen würde, aber dass ihm in letzter Minute der Zutritt in den Luftraum verweigert wurde. Schließlich landete das Flugzeug in der Nähe von Cochabamba, in der Region Chapare, aus der er stammt und die ihm gegenüber sehr loyal ist. Um 16:50 Uhr gab Evo Morales eine Erklärung aus Chimoré in der Region Trópico de Cochabamba ab und kündigte seinen Rücktritt als Präsident an. Es folgte sein Vizepräsident Alvaro García Linera, der ebenfalls zurücktrat. Während des Tages waren Dutzende von MAS-Funktionären zurückgetreten, einige als Ratten, die ein sinkendes Schiff verließen, andere als Folge von Drohungen durch die Reaktion (in einigen Fällen wurden ihre Häuser in Brand gesetzt oder ihre Familien bedroht oder entführt). Die Reaktion hatte gesiegt.
Wir haben uns vom ersten Tag an gegen den sich entwickelnden Putsch ausgesprochen und argumentiert, dass er nur mit revolutionären Mitteln bekämpft werden kann. Die Regierung von Evo Morales hat genau das Gegenteil getan.
Es ist wichtig zu verstehen, wie wir zu dieser Position gekommen sind. Bei der letzten Wahl 2014 hatte Evo Morales noch über 63 Prozent der Stimmen errungen, jetzt war der Stimmenanteil auf 47 Prozent gesunken. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es die Politik der Klassenversöhnung und der Zugeständnisse an die Kapitalisten, internationalen Konzerne und Grundbesitzer war, die die Unterstützung für seine Regierung durch die Arbeiter und Bauern untergraben hat.
Nur um ein paar Beispiele zu nennen. Morales hatte mit der Agrarindustrie von Santa Cruz ein Abkommen getroffen, indem er alle möglichen Zugeständnisse machte (Aufhebung des Verbots von gentechnisch veränderten Kulturen, weitere Abholzungen werden möglich, Verträge mit China über den Export von Fleisch). Er war so zuversichtlich, dass er genügend Unterstützung gewonnen hatte, dass er bei der Eröffnungskundgebung seines Wahlkampfes in Santa Cruz die „Geschäftsleute aus Santa Cruz..., die immer Lösungen für ganz Bolivien vorschlagen“ begrüßte und sich der Geschäfte mit China für den Export von Fleisch, Sojabohnen und Quinoa rühmte.
In Potosí haben wir eine Massenmobilisierung gegen Evo Morales erlebt, die in ihrer sozialen Zusammensetzung nicht mit der reaktionären Bewegung in Santa Cruz gleichzusetzen war. Dafür gibt es einige Gründe. Hier gab es Proteste gegen die Erteilung einer Lithium-Abbaukonzession an einen deutschen Konzern. Der Vertrag sah vor, dass ACI Systems (ein Unternehmen ohne Vorkenntnisse in diesem Bereich) einen 70-jährigen Vertrag (im Gegensatz zu Standardverträgen mit einer Laufzeit von 30 Jahren in anderen lateinamerikanischen Ländern) und die volle faktische Kontrolle über das Management des Unternehmens, das ein Joint Venture mit dem Staat sein sollte, erhielt. Dies wurde von vielen als Aushändigung der natürlichen Ressourcen des Landes an einen ausländischen Konzern angesehen, mit wenig Nutzen für die lokale Bevölkerung, und das durch eine Regierung, die behauptet, antiimperialistisch zu sein,. Der Vertrag war einer der Hauptgründe für die Massenproteste gegen die Regierung in Potosí, die vor der Wahl begonnen hatten. Am Samstag, den 9. November, erließ Evo Morales schließlich ein Dekret zur Aufhebung der Konzessionen. Das war zu wenig und kam mit zu großer Verspätung.
Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, ernannte Evo Morales den Bergwerksbesitzer und ehemaligen rechten Politiker, Orlando Careaga zum Spitzenkandidaten für das Amt des Senators in Potosí. Er war Teil der gehassten MNR von Goñi Sánchez de Losada gewesen, die 2003 von der revolutionären Bewegung der Arbeiter und Bauern gestürzt wurde. Careaga wurde dann von 2004 bis 2009 Senator für eine andere rechte Partei, während Morales bereits Präsident war. Seine Ernennung wurde von lokalen MAS-Funktionären abgelehnt und von sozialen Bewegungen mit Wut aufgenommen. In Chuquisaca war die MAS-Kandidatin Martha Noya Laguna, stellvertretende Ministerin unter Goñi. All dies trug dazu bei, die MAS von ihrer eigenen sozialen Basis zu entfremden und die Entwicklung einer Massenbewegung gegen sie in Bereichen zu ermöglichen, die Evo Morales in der Vergangenheit fest unterstützt hatten.
In ähnlicher Weise verband Evo Morales sein Schicksal mit dem rechtsgerichteten, reaktionären, proimperialistischen Generalsekretär der OAS, Luis Almagro. Morales verlor das Referendum 2016 über die Verfassungsreform. Dabei ging es um die Möglichkeit, dass er sich für eine weitere Amtszeit zur Wahl stellen sollte. Das Ergebnis: 51 Prozent dagegen, 48 Prozent für die Abschaffung der Befristung, war bereits ein Hinweis auf den Verlust der Unterstützung seiner Regierung durch die Bevölkerung. Dann argumentierte der Oberste Gerichtshof Boliviens, dass die Wiederwahl ein Menschenrecht sei und Evo Morales daher wieder antreten könne. Luís Almagro hat sich öffentlich für diese Entscheidung ausgesprochen, die den Zorn der gesamten bolivianischen Opposition hervorgerufen hat. Auf diese Weise verknüpfte Evo sein Schicksal mit dem Wohlwollen von Almagro. Die OAS wurde von Morales eingeladen, die Wahlen zu überwachen, und als die Opposition dann Betrug rief, forderte Morales selbst die OAS auf, eine Prüfung durchzuführen. Es war die logische Fortsetzung seiner Politik der Zugeständnisse an die Kapitalisten und den Imperialismus, die ihn teuer zu stehen kam.
Arbeiter und Bauern: Lasst eure revolutionären Traditionen wieder aufleben!
Der Sieg der Reaktion in Bolivien wird über die Landesgrenzen hinaus Auswirkungen haben. Er hat die reaktionäre Opposition in Venezuela bereits ermutigt. In Bolivien selbst gibt es einen offenen Kampf zwischen verschiedenen Flügeln der herrschenden Klasse. Camacho und die Cruceña-Oligarchie wollen einen Neuanfang, die Verhaftung aller MAS-Funktionäre und einen anschließenden Strafprozess gegen sie. Sie wollen eine Übergangsregierung, an der sie selbst, die Polizei und die Armee beteiligt sind, sowie Wahlen zu für sie günstigen Bedingungen. Unterdessen kämpft Mesa hektisch um eine „verfassungsgemäße Lösung“, bei der das derzeitige Parlament für die Durchführung von Neuwahlen zuständig ist. Was auch immer das Ergebnis dieses Kampfes sein mag, in Bolivien hat die Rechte die Macht übernommen und wird eine (irgendwann durch Wahlen legitimierte) Regierung bilden, die eine Welle von Angriffen auf Arbeiter, Bauern und die indigene Bevölkerung auslösen und jede der noch verbleibenden Errungenschaften der letzten 14 Jahre zerstören wird.
Das Bild der „Civico“-Führer Camacho und Pumari, die mit der Bibel in der Hand und mit einer altbolivianischen Flagge (rot-gelb-grün) den Palacio Quemado (den ehemaligen Regierungssitz in La Paz) betreten (im Gegensatz zur indigenen Whiphala, die das Inka Teilreich Quilasuyu repräsentiert, die jetzt aus allen Amtsgebäuden entfernt wurde), vermittelt ein klares Bild vom Charakter der Kräfte hinter diesem Putsch.
Arbeiter und Bauern in Bolivien müssen den Kampf organisieren. Dazu ist es notwendig, die Lehren aus der MAS-Regierung zu ziehen. Es war die Politik der Zugeständnisse an die Kapitalisten, die multinationalen Konzerne und die Agroindustrie, die die Grundlage für die Unterstützung der Regierung zunichte machte und damit den Weg für den Putsch ebnete. Die Kapitalisten, die alle Zugeständnisse nutzen, zu denen Morales bereit war, waren nie ganz mit der Idee einer Regierung unter der Führung eines indigenen Gewerkschafters einverstanden, einer Regierung, die ein Nebenprodukt der revolutionären Aufstände von 2003 und 2005 war. Sie warteten nur auf den richtigen Moment, um zurückzuschlagen und die Macht zurückzugewinnen. Der Sturz der Regierung Evo Morales ist eine weitere Bestätigung für den Bankrott reformistischer Methoden.
Die Schlussfolgerung ist klar: Der einzige Weg, dauerhafte Errungenschaften für die Arbeiter und Bauern zu garantieren, besteht nicht in Vereinbarungen und Deals mit den Kapitalisten, Bankiers, Grundbesitzern und multinationalen Unternehmen, sondern in der revolutionären Massenmobilisierung der Unterdrückten, um die Wirtschaftskraft der kapitalistischen Oligarchie und des Imperialismus zu brechen. Nur durch die Enteignung der Produktionsmittel sowie der Land- und Bodenschätze der herrschenden Klasse unter Arbeiterkontrolle können sie als Teil eines demokratischen Produktionsplans zur Befriedigung der Bedürfnisse der Mehrheit genutzt werden. Die bolivianischen Arbeiter und Bauern haben stolze revolutionäre Traditionen. Sie müssen den Geist und das Programm der Pulacayo-Thesen wiederherstellen, die 1946 von der Bergarbeitergewerkschaft angenommen wurden: „Das Proletariat der unterentwickelten Länder ist gezwungen, den Kampf für bürgerlich-demokratische Aufgaben mit dem Kampf für den Sozialismus zu verbinden.“
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