Nach den früheren Morden an Ahmaud Arbery und Breonna Taylor und einer endlosen Reihe von weiteren Tötungen durch die Polizei war es dieser jüngste Fall, der das Fass zum überlaufen brachte. Eine Notwendigkeit drückt sich hier durch einen Zufall aus – obwohl der Mord an Floyd kein Zufall war.
In Minneapolis setzte die Polizei das volle Kampfarsenal (Tränengas, Schockgranaten usw.) gegen friedliche DemonstrantInnen ein, was eine weniger friedliche Reaktion hervorrief. Konfrontiert mit einer wütenden Menge mussten die Behörden schlussendlich das Revier das 3. Polizeibezirks (der Bezirk des Mörders von George Floyd) evakuieren, woraufhin dieses von den Protestierenden niedergebrannt wurde. Die Bilder der fliehenden PolizistInnen, deren Einsatzwagen während der Flucht die Parkgitter durchbrachen, erinnern an die Evakuierung der US-Botschaft in Saigon zum Ende des Vietnamkriegs im Jahre 1975. Im Angesicht der wutentbrannten Massen blieb den „Formationen bewaffneter Menschen“ des US-amerikanischen Kapitals nichts anderes übrig, als um ihr Leben zu laufen.
Nach fünf Nächten massenhafter Proteste in Minnesota verhängte der Bürgermeister eine Ausgangssperre, die von den Protestierenden prompt außer Kraft gesetzt wurde. Während der Proteste kam es zu Brandstiftungen und Plünderungen, aber es gibt klare Beweise dafür, dass viele dieser Fälle von Polizeiprovokateuren und Rechtsextremisten ausgingen, um einen Vorwand für noch härtere Repressionen zu liefern. Vor dem Revier des 5. Polizeibezirks sammelten sich Menschenmengen, die drohten, es ebenfalls anzuzünden. Die Polizeidienststelle ist jetzt verbarrikadiert und bewaffnete PolizistInnen positionieren sich auf dem Dach.
Auch Einheiten der Nationalgarde und Staatspolizei wurden auf die Straßen von Minneapolis mobilisiert und versuchen die Ausgangssperre durchzusetzen und der Situation Herr zu werden. Zuerst forderte Gouverneur Tim Walz 500 Soldaten der Nationalgarde an, doch mittlerweile sind schon 1700 daraus geworden. Die Grenzschutzbehörde beteiligte sich mit einer unbemannten Aufklärungsdrohne an den Einsätzen, um Informationen über den Verlauf der Proteste zu erlangen.
Während Minnesota weiterhin das Zentrum der Bewegung ist, haben sich die Proteste bis zum Wochenende auf mindestens 22 weitere Städte ausgebreitet. In Detroit gab es große Demonstrationen und ein 19-Jähriger Demonstrant wurde im Vorbeifahren erschossen. Es ist wahrscheinlich, dass der Täter einen rechten Hintergrund hat. In New York City kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, als DemonstrantInnen sich einem Versammlungsverbot (aufgrund von COVID-19) widersetzten. In Brooklyn wurde ein Polizeiwagen angezündet. In Kalifornien blockierten und sperrten Protestierende Autobahnen in Oakland, San Jose und Los Angeles und attackierten Polizeistreifen.
Auch in Atlanta wurden Polizeifahrzeuge angezündet, der Ausnahmezustand wurde ausgerufen und die Nationalgarde patrouilliert auf den Straßen. Es gab einen Schlagabtausch zwischen Polizei und DemonstrantInnen vor dem CNN-Gebäude, in dem sich auch ein Polizeirevier befindet.
In der Hauptstadt Washington DC wurde kurz das Weiße Haus blockiert und in der Nacht von Freitag aus Samstag gab es immer wieder Rangeleien mit dem Geheimdienst Secret Service [u.a. zuständig für den Personenschutz des Präsidenten] auf Barrikaden vor dem Weißen Haus. In Phoenix gab es einen Gedenkmarsch für Dion Johnson, einen 28-jährigen Schwarzen, der von der Staatspolizei von Arizona in einem „Handgemenge“ getötet wurde. Die Beweislage ist dürftig. Ähnliche Proteste brachen auch in Louisville aus, der Anlass in diesem Fall die Tötung von Breonna Taylor, einer 26-jährigen schwarzen Rettungssanitäterin, die im Schlaf in ihrer eigenen Wohnung erschossen wurde. Die Polizei verfolgte einen mutmaßlichen Drogendealer, der nicht nur in einer anderen Wohnung lebte – sondern, wie sich herausstellte, sogar bereits verhaftet war. Als die Beamten unangekündigt die Wohnung stürmten, feuerte Breonna Taylors Partner zur Selbstverteidigung einen Schuss ab. Daraufhin schossen die Polizisten mehr als 20-mal in die Wohnung: Breonna Taylor trafen acht Kugeln. Später zündete eine aufgebrachte Menge als Antwort das örtliche Gericht an.
„Das ist keine Randale, das ist eine Revolution!“
Die ungehobelte und brutale Reaktion des Staatsapparats gießt nur weiteres Öl ins Feuer. Eine besonders tollpatschige Demonstration des der Polizei innewohnenden Rassismus war die live im Fernsehen übertragene Verhaftung eines CNN-Nachrichtenteams, das über die Proteste berichtete. Der Reporter war ein schwarzer Latino. Gleichzeitig hatte ein weißer Journalist keine Probleme bei der Berichterstattung über dieselbe Demonstration. In Louisville feuerte die Polizei Tränengas in die Menge und schoss mit Gummipatronen auf eine Journalistin, die live auf Sendung war.
Auffällig ist, dass in den Protestzügen Menschen aller Hautfarben und Ethnien marschieren – und insbesondere Jugendliche. Dies erinnert an den Höhepunkt der Black Lives Matter-Bewegung vor einigen Jahren. Das politische Bewusstsein ist dieses Mal allerdings weiter fortgeschritten als damals, zusätzlich verstärkt durch die wirtschaftliche Katastrophe, die Millionen von US-AmerikanerInnen erfasst hat. Zu jener Zeit gab es viele Diskussionen darüber, wie man die Polizei zur Rechenschaft ziehen könne: verpflichtende Kameras am Körper, „Gemeinschaftsprüfungskommissionen“, usw. Nichts wurde durch diese Vorschläge gelöst. Tatsächlich ist die Zahl der Morde an unbewaffneten, schwarzen Menschen durch die Polizei in den letzten sechs Jahren weiter gestiegen. Jetzt zünden Protestierende die Polizeireviere an – faktisch ein Akt des Aufstands. In Minneapolis erklären die Organisatoren: „Das ist keine Randale, das ist eine Revolution!“
Der herrschenden Klasse ist die Bedeutung dieser Bewegung mehr als bewusst, genauso wie die Bedrohung, die sie in sich verkörpert. So schreibt die Zeitung Washington Post: „Dieser Tumult, in den breiteren Zusammenhang der Wirtschafts- und Gesundheitskrise gestellt, könnte einen genauso dramatischen Bruch in unserer Geschichte darstellen, wie die Große Depression und die sozialen Unruhen von 1968“
Solche Szenen sind in den USA sicherlich nicht normal. Wer sich die Videos ohne konkreten Bezug anschaut, könnte glauben, dass sich alles in Chile, dem Libanon oder Algerien anspiele, aber nicht in der vorherrschenden imperialistischen Weltmacht. Was wir gerade beobachten können, ist nur der Funke, der eine Explosion jahrelang angestauter Wut zündet. Verstärkt wird das Ganze noch durch die jüngste Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie ausgelöst wurde. Man könnte es wohl mit der Selbstverbrennung Mohmad Bouazizis in Tunesien vergleichen, die unmittelbar das Ventil für die kochende Wut über tausendundeine Ungerechtigkeiten im Nahen Osten und Nordafrika öffnete und den Arabischen Frühling auslöste.
Die bürgerliche Presse zeigt in ihren Reportagen nur Vandalismus und Plündereien und versucht so, die öffentliche Meinung gegen die Proteste zu richten. Jacob Frey, der Bürgermeister von Minneapolis, hielt eine beleidigende und heuchlerische Rede, in der er die Protestierenden rügte: „Es ist unehrenhaft, seine eigene Stadt niederzubrennen. Es liegt kein Stolz im Plündern.“
Aber die organisierte Arbeiterklasse solidarisiert sich mit dem ausgebrochenen Volkszorn. Beispielsweise weigern sich die BusfahrerInnen in Minneapolis, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Diese wollte die Busse für Massenverhaftungen nutzen. Dasselbe sehen wir in New York. Als die Polizei einen Bus für einen Gefangentransport beschlagnahmte, verweigerte der Fahrer die Zusammenarbeit und ließ den Bus stehen.
Brennbares Material
Wie üblich schürt Trump die Situation weiter an. Indem er sich hinter die Kräfte von „Recht und Ordnung“ stellt, versucht er seine reaktionäre Unterstützerbasis vor den kommenden Wahlen aufzuwiegeln. Er tweetete, dass die Protestierenden „THUGS“ (Schlägertypen) seien, die „das Andenken an George Floyd schänden.“ Er fügte hinzu: „When the looting starts, the shooting starts” (“Wenn das Plündern anfängt, fängt das Schießen an“), ein Zitat des rassistischen Ex-Polizeichefs von Miami, der diese Worte 1967 geprägt hat.
Das ist keine leere Drohung. Schon bevor das Coronavirus alles auf den Kopf gestellt hat, bereitete sich die herrschende Klasse angesichts der sich verschärfenden kapitalistischen Krise schon auf zunehmende gesellschaftliche Unruhen vor. Sie werden jedes Mittel nutzen – egal ob innerhalb oder außerhalb des gesetzlichen Rahmens – um an der Macht zu bleiben. Zusätzlich zur grassierenden Polizeigewalt gab es auch schon Fälle von rechts motivierter Selbstjustiz, wie z.B. Erschießungen in Detroit aus einem vorbeifahrenden Fahrzeug.
Das Pentagon gab einen bisher selten erteilten Befehl heraus und versetzte in einigen Stützpunkten die Militärpolizei und die regulären Truppen in Alarmbereitschaft. Den SoldatInnen in Fort Bragg (North Carolina) und Fort Drum (New York) wurde befohlen, innerhalb von Stunden einsatzfähig zu sein. Die Rechtsgrundlage dafür ist das Aufstandsgesetz von 1807, das dem Präsidenten die Macht verleiht, Bundestruppen in den einzelnen Staaten einzusetzen, um „jeden Aufstand, innere Gewalt, ungesetzlichen Zusammenschluss oder Verschwörung“ zu unterdrücken. Das letzte Mal wurde dieses Gesetz im Jahr 1992 genutzt, um den Aufstand in Los Angeles zu unterdrücken, der ausbrach, nachdem Polizisten, die den Schwarzen Rodney King misshandelt hatten, freigesprochen wurden. Aber anstatt die Massen niederzuschlagen, treibt die Peitsche der Konterrevolution sie oft erst weiter an, wie wir in zahlreichen Protestbewegungen auf der ganzen Welt im letzten Jahr beobachten konnten, z.B. in Chile, Kolumbien, Libanon usw.
Erinnern wir uns auch daran, dass 2008, während die Republikaner im kleinen Städtchen St. Paul in Minnesota ihren Kongress abhielten, 50.000 PolizistInnen aus dem ganzen Land zusammengekarrt wurden, um die Proteste in Schach zu halten. Und selbst das schafften sie nicht vollständig. Die herrschende Klasse hat nicht genug Polizei – oder sonstige Truppen – um das ganze Land niederzuhalten.
Die Tatsache, dass Derek Chauvin (der Polizist, der George Floyd ermordete) entlassen und des Mordes angeklagt wurde, versetzte der Protestbewegung keinen Dämpfer. Das haben die Massen schon oft genug gesehen. Das Problem sind nicht ein oder zwei „schwarze Schafe“, sondern das gesamte verrottete System.
Es reicht nicht, dass George Floyds Mörder aus „dem Dienst entfernt“ und einer von ihnen angeklagt wurde. Tatsächliche Gerechtigkeit für alle, die von diesem System ausgebeutet und getötet werden, kann es nur geben, wenn die KapitalistInnen „von den Produktionsmitteln entfernt“ werden. Die Arbeiterbewegung sollte sich den Protestierenden anschließen und mit ihnen gemeinsam die Bewegung aufbauen und auf eine organisierte Basis stellen. Es braucht ein Programm und einen Aktionsplan, um den Kampf für eine vollständige Veränderung der Gesellschaft auf die Tagesordnung zu setzen. Nur eine sozialistische Revolution – in den USA und im Rest der Welt – wird der grausamen Spirale der Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende setzen.
(Stand: 30. Mai 2020)
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