Am 25. Mai wurde der Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis von der amerikanischen Polizei ermordet. Das Video und die Bilder, die sein Leiden bezeugen, verbreiteten sich viral. Millionen von Menschen konnten mit eigenen Augen sehen, wie sich die amerikanische Polizei verhielt. Viele identifizierten sich mit dem Schmerz und der Ungerechtigkeit. Als Reaktion auf dieses Ereignis fanden trotz der Coronavirus-Pandemie, der verhängten Ausgangssperren und der gewaltsamen Polizeirepression in den wichtigsten amerikanischen Städten Massendemonstrationen statt. Das belebte die Black Lives Matter-Bewegung.
Nachdem die Proteste in Minnesota begannen und sich auf das ganze Land ausbreiteten, lösten sie in mehreren Ländern eine Welle der Solidaritätsdemonstration aus, wobei insbesondere Frankreich und das Vereinigte Königreich gezwungen wurden, sich ihrer rassistischen Geschichte zu stellen. Auch in Deutschland fanden viele Demonstrationen statt, zu denen vor allem junge Menschen kamen.
Nicht bloß Einzelfälle
Wir alle wissen, dass der Mord kein Einzelfall war und dass die Hautfarbe eine entscheidende Rolle spielt. Laut der Datenplattform US Statista weist die Rate der tödlichen Schüsse der Polizei in den Vereinigten Staaten große Unterschiede bezüglich der ethnischen Zugehörigkeit auf. Bei Afroamerikanern lag die Rate der tödlichen Schüsse zwischen 2015 und Juni 2020 bei 31 pro Million Einwohner, während bei weißen US-Amerikanern die Rate bei 13 tödlichen Schüssen pro Million Einwohner lag.
Die Vereinigten Staaten sind das reichste und mächtigste Land der Welt und verfügen über mehr als genug Reichtum, um allen dort lebenden Menschen eine hohe Lebensqualität zu bieten. Und doch sind schockierende Ungleichheit und Rassismus allgegenwärtig. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der anhaltenden Dominanz des US-Kapitalismus. Trotz der Massenkämpfe der Vergangenheit und der Reformen früherer Jahrzehnte bleiben die Schwarzen, Indigene, Latinos, Asiaten und Hawaiianer, die am meisten ausgebeutete und unterdrückte Schicht der US-Gesellschaft. Schwarze Jugendliche sind täglich mit Schikanen und Einschüchterungen durch die Polizei konfrontiert und leiden unter einer unverhältnismäßig hohen Arbeitslosenquote.
Arbeitslosigkeit und Armut
Mittlerweile hat die Zahl der Corona-Infizierten in den USA fast 3,5 Millionen erreicht. Mit über 136.000 Toten ist die USA das am schlimmsten betroffene Land der Welt. Die ganze Situation hat eine bereits bestehende Wirtschaftskrise noch verschärft und in der Folge stieg die Arbeitslosenquote in den USA von 4,4% im März auf 14,7% im April. Die neuesten Zahlen zeigen, dass die Gesamtzahl der Anträge auf Arbeitslosenunterstützung während der Coronavirus-Pandemie 50 Millionen erreicht hat. Die Arbeitslosenquote lag im Juni immer noch bei 11,1%. Dies bedeutet, dass ein Teil der Lohnabhängigen wieder an den Arbeitsplatz zurückgekehrt ist, viele jedoch nicht. Die Corona-Krise kommt zu der tiefsten Wirtschaftskrise hinzu, die der Kapitalismus je erlebt hat.
In den letzten dreißig Jahren ist die Schere zwischen Arm und Reich dramatisch aufgegangen. Die Reallöhne für die Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter in den USA stiegen in jedem Jahrzehnt von 1830 bis 1970. Aber seit Mitte der 1970er Jahre stagnierten oder sanken die inflationsbereinigten Reallöhne. Während aber die Reallöhne sanken und zwischen 1998 und 2006 Millionen von Industriearbeitern entlassen wurden, stieg die Produktivität der Arbeit in der verarbeitenden Industrie um 43,7 Prozent. Dies bedeutet eine massive Zunahme der Ausbeutung der Arbeitskraft: weniger Lohnabhängige leisten mehr Arbeit für weniger Lohn.
Mittlerweile leben 38 Millionen US-Amerikaner, das sind 13,2 Prozent der Bevölkerung, in Armut. Die Armutsquote der schwarzen Bevölkerung liegt bei 25,3 Prozent (fast 9 Millionen Menschen), mehr als doppelt so hoch wie die der weißen US-Amerikaner (10,5 Prozent, fast 23 Millionen Menschen). Vor allem schwarze Frauen leben am ehesten in Armut. Die Sterblichkeitsrate für die schwarze Bevölkerung ist mehr als doppelt so hoch wie die des Durchschnitts.
Streiks und Machtfrage
US-amerikanische Arbeiterinnen und Arbeiter haben begonnen, sich zu wehren. In einigen großen Fabriken begann bereits Monate vor der Pandemie eine Streikwelle. Der wilde Streik vom 15. September 2019 bei General Motors führte zur Arbeitsniederlegung von 48.000 Arbeiterinnen und Arbeitern, die einen sicheren Arbeitsplatz, die Aussicht auf eine unbefristete Anstellung für Zeitarbeitskräfte, bessere Bezahlung und Gesundheitsleistungen forderten. Der 40 Tage dauernde Kampf, bei dem das Unternehmen mehr als 2 Milliarden Dollar verlor, war siegreich.
In mehreren Fabriken hat die Pandemie die Machtfrage aufgeworfen. Unter dem Zwang zur Arbeit zu gehen und dem Risiko von Infektionen ausgesetzt zu sein, traten viele Arbeiterinnen und Arbeiter in den Streik, um eine Anpassung des Arbeitsschutzes zu fordern. Gestreikt wurde bei Amazon und in mehreren Logistik-, Produktions- und lebensmittelverarbeitenden Betriebe. Im Gesundheitswesen, in dem zu 80% Frauen arbeiten, traten viele im Februar in den Streik, um bessere Bezahlung und sicherere Arbeitsbedingungen zu fordern. Viele von ihnen sagten, sie könnten sich nicht einmal eine eigene Gesundheitsversorgung leisten! Die Arbeiterinnen und Arbeiter von General Electric legten die Arbeit nieder und forderten die Fabriken umzurüsten, um Beatmungsgeräte herzustellen. Es ist klar, dass die Lohnabhängigen eine klare Vorstellung davon haben, wie eine Fabrik laufen sollte, in welchem Sicherheitszustand und welche Prioritäten bei der Produktion gesetzt werden sollten.
Am 19. Juni legte die Internationale Gewerkschaft der Longshore- und Lagerarbeiter (ILWU), eine kämpferische Gewerkschaft mit 42.000 Mitgliedern, 29 Häfen an der Westküste der Vereinigten Staaten und Kanadas für acht Stunden still. Der Streik wurde organisiert, um die Solidarität der Arbeiterbewegung mit Schwarzen zu demonstrieren. Er fand am Jahrestag der Befreiung der letzten Sklaven in den USA im Jahre 1865 statt. Im Rahmen der Aktion zog eine Massendemonstration durch den Hafen und die Innenstadt von Oakland, an der mehrere Tausend Menschen teilnahmen. Boots Riley, ein kommunistischer Rapper und Filmemacher, hielt eine kämpferische Rede vor der Menge, in der er die entscheidende Bedeutung von Streiks für die Weiterentwicklung der Bewegung hervorhob. In seinen Worten bezog er sich auf die Streikenden: "Unsere Macht kommt aus der Tatsache, dass wir Reichtum produzieren und die Möglichkeit haben, unsere Arbeitskraft zurückzuziehen".
Genau das ist es, was die Gewerkschaftsführer erklären sollten. Jeder Streik trägt Schritt für Schritt zum Entstehen eines Klassenbewusstseins. Die Arbeiterklasse verfügt über immense Macht. Indem sie die Produktion einstellen, gewinnen die Arbeiterinnen und Arbeiter durch ihre eigenständige Aktion Vertrauen in die eigene Kraft.
Die Rolle der Polizei
In mehreren Städten kam es während der friedlichen Demonstrationen auch zu Ausschreitungen und Plünderungen. Die Regierung reagierte mit starker Repression. Um ihren Reichtum und ihre Macht in einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft zu erhalten, brauchen die Kapitalisten ein besonderes Instrument: Den Staat, verkörpert durch eine Armee von Funktionären und der Polizei. Er dient dazu, den Willen der Herrschenden durchzusetzen und ihre Interessen zu verteidigen.
Dieser Repressionsapparat existiert, um die winzige Minderheit zu verteidigen, die die Produktionsmittel besitzt. Als Teil dieses Apparates ist die Institution der Polizei voll von Rassismus und Machtmissbrauch. Sie ist ein Spiegelbild des Systems, das sie aufrechterhält. Als der Bürgermeister von Minneapolis, J. Frey, während einer Versammlung öffentlich gefragt wurde, ob er der Polizei die Finanzierung entziehen wolle, antwortete er salopp mit "Nein". Daraufhin wurde er von der Versammlung ausgeschlossen. Sein Versuch, die Bewegung zu bevormunden, wurde mit echtem Klassenhass beantwortet.
Die "polizeifreie Zone" in Seattle zeigte, dass es unmöglich ist, eine "gemeinschaftliche Kontrolle" über unsere eigenen Stadtviertel zu etablieren und unsere Sicherheit zu garantieren, solange es grundlegende Ungleichheit in jedem anderen Aspekt des Lebens gibt. Die Weigerung der Busfahrer in New York und Minnesota, Demonstranten ins Gefängnis zu fahren, ist ein bewundernswertes Beispiel für Klassensolidarität, das wir voll und ganz unterstützen. Aber vorübergehende oder kosmetische Maßnahmen werden die Grundursachen von Ungleichheit, Armut und Kriminalisierung nicht beseitigen - und der kapitalistische Staat existiert genau zur Verteidigung dieser Ungleichheit. Was wir brauchen, ist weiter auf eine vollständige Umgestaltung der Gesellschaft und das Ende des kapitalistischen Systems hinzuarbeiten.
Wie kann es weiter gehen?
Krawalle haben keine Perspektive und entstehen spontan aus den Bedingungen der Armut heraus. Demonstrationen waren weitgehend spontan, es fehlt ihnen eine Richtung und ein Programm, das die Gesellschaft verändern kann. Um diesen Kampf auf die nächste Stufe zu heben, müssen sich die gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter in die Proteste gegen das rassistische kapitalistische System einbringen. Plünderungen sollten sofort aufhören, da sie die Bewegung diskreditieren, den politischen Inhalt der Bewegung verschleiern und Demonstrationen riskanter machen, als sie sein könnten. Mit den Ressourcen und der Größe der Gewerkschaften würde die Bewegung einen völlig anderen Charakter annehmen. Ein landesweiter Generalstreik in den USA als Reaktion auf den Mord an George Floyd, den Rassismus und die Corona-Krise ist jetzt nötig.
Das Gift des Rassismus wird von der herrschenden Klasse bewusst gefördert, um die Arbeiterklasse gespalten zu halten, um die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen des amerikanischen Kapitalismus abzulenken. Sie fürchten den Aufstieg einer mächtigen schwarzen Arbeiterklasse und den gemeinsamen Kampf aller Lohnabhängigen über rassistische, ethnische und andere Spaltungslinien hinweg. Wie Malcolm X erklärte: "Man kann keinen Kapitalismus ohne Rassismus haben". Mit anderen Worten: Rassistische Unterdrückung ist ein Produkt und Bestandteil des Kapitalismus, ohne den er nicht existieren könnte. Dies gilt auch für Frauen- und LGBT-Diskriminierung.
Die Lohnabhängigen in den USA brauchen eine sozialistische Massenpartei, die sich auf die organisierte Arbeiterklasse stützt und für ein sozialistisches Programm zur grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft kämpft. Die anstehenden Präsidentschaftswahlen zeigen den Bankrott der bürgerlichen Demokratie. Kein Kandidat und keine Partei vertreten die Interessen der arbeitenden Klasse in den USA.
Eine sozialistische Partei müsste sich für eine Arbeiterregierung einsetzen, welche die Lebensbedingungen der gesamten Bevölkerung rasch verändern würde. Indem sie den immensen Reichtum der größten 500 Unternehmen in öffentliches Eigentum und unter demokratische Kontrolle der Arbeiterklasse bringt, könnten die immensen Ressourcen der Wirtschaft genutzt werden, um Vollbeschäftigung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Bildung, höhere Löhne, niedrigere Mieten und eine kürzere Arbeitswoche für alle zu ermöglichen.
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