Kategorie: Amerika |
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Es ist nicht nötig, das Rad neu zu erfinden |
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Interview mit Alan Woods über den marxistischen Standpunkt zur Bolivarischen Revolution in Venezuela und zur Lage in Kuba. Alan Woods ist Redakteur von www.marxist.com und Mitbegründer der weltweiten Initiative "Hands off Venezuela". |
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Sie sind Mitbegründer der Initiative "Hands off Venezuela". Wie hat sich die Arbeit der Initiative in den letzten drei Jahren entwickelt? Wir haben schon viel geleistet und sind jetzt weltweit in über 40 Ländern und in fünf Kontinenten tätig. Der Jahreskongress des britischen Gewerkschaftsbunds TUC 2005 solidarisierte sich mit der venezolanischen Revolution gegen den Imperialismus. Dies ist ein Durchbruch, der ohne unsere jahrelange geduldige Überzeugungsarbeit nicht ne Großveranstaltung mit Präsident Chávez. In den USA fand in den letzten Wochen erstmals überhaupt eine von uns organisierte Rundreise mit einem Vertreter der Gewerkschaft UNT statt. Haben Sie auch ein Echo in Venezuela gefunden? Wir arbeiten in Venezuela eng mit den Marxisten in der Arbeiterbewegung um die CMR zusammen, die etwa bei der Verstaatlichung von Venepal oder CNV eine führende Rolle spielten. Bei Großveranstaltungen zum Jahrestag des Putsches von 2002 oder dem Weltjugendfestspielen 2005 war ich als Referent eingeladen. 2004 hatte ich ein anderthalbstündiges Gespräch mit Präsident Chávez. Dies war eine sehr solidarische Aussprache zwischen zwei engagierten Revolutionären. Hugo Chávez hat mir dabei u.a. Anerkennung für mein Buch "Aufstand der Vernunft" ausgesprochen. Er hat sich selbst nie als Marxisten betrachtet, hat jedoch in den letzten Jahren ein starkes Interesse an marxistischen Ideen entwickelt. Dies ist mir bei dem Gespräch auch klar geworden. Nun wirft man ihnen vor, Sie könnten die Entwicklung in Venezuela nicht richtig einschätzen, weil Sie gar nicht im Lande leben. Das ist ein sehr kindisches Argument. In Deutschland oder England leben sehr viele Menschen, die keine Ahnung davon haben, was im eigenen Lande politisch abgeht. Das ist keine geographische Frage. Ich bin Marxist und gehe davon aus, dass der Marxismus durch die weltweiter Entwicklung insbesondere seit dem Fall der Berliner Mauer bestätigt wurde. Eine marxistische Analyse hilft uns, die Prozesse weltweit und speziell in Venezuela zu verstehen. Viele Linke verstanden und verstehen demgegenüber das Phänomen Chávez und seine Rolle bis zum heutigen Tage nicht. Als Marxisten analysierten wir die Entwicklung in Venezuela von Anfang an und nehmen seither einen sehr klaren und festen Standpunkt für die Verteidigung der venezolanischen Revolution ein. In seinem neuen Buch "Venezuela - not for sale" beschreibt Ingo Niebel, dass Hugo Chávez für die tägliche Arbeit "die trotzkistische Parole von der Revolution in der Revolution" aufgreife, diese jedoch mit einer anderen Bedeutung belege. Ist diese Parole eine trotzkistische Parole? Es würde mich freuen, wenn dies eine trotzkistische Parole wäre. Tatsache ist auch, dass Präsident Chávez Bücher von Trotzki liest und davon teilweise beeinflusst worden ist. Die Parole von der Revolution in der Revolution enthält eine richtige Idee - nämlich dass die bolivarische Revolution trotz ihrer eindrucksvollen Errungenschaften noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Ein Großteil der wirtschaftlichen Macht befindet sich immer noch in den Händen der Bourgeoisie und Oligarchie, die ein bitterer Feind der bolivarischen Revolution ist. Solange diese Situation anhält, kann ich nicht erkennen, wir man die grundlegendsten Aufgaben der bolivarischen Revolution lösen will. Dazu gehört insbesondere eine tief greifende Landreform, die die extrem ungerechte Verteilung des Grundbesitzes ändert. Ohne dies wird die bolivarische Revolution nie vollendet werden können. Insofern ist eine neue Etappe der Revolution dringend notwendig. Im Zusammenhang mit der Parole vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts sagt Ingo Niebel: "Marxisten wie Alan Woods sprechen von einer sozialistischen Strategie für die venezolanische Revolution und sehen neue Hoffnung für ihre in Europa geschlagene Ideologie." Wollen Sie tatsächlich die Venezolaner zu Versuchskaninchen für eine "in Europa geschlagene Ideologie" machen? Zuerst einmal: Der Marxismus ist keine geschlagene Ideologie. In der Sowjetunion ist nicht der Marxismus gescheitert, sondern seine bürokratische und totalitäre Karikatur - der Stalinismus. Vielmehr erleben wir in Venezuela, Europa und weltweit derzeit so etwas wie einen Zusammenbruch der Marktwirtschaft, die nur Kriege, Arbeitslosigkeit und Elend für Milliarden Menschen produziert. Es spricht von eurozentristischer Arroganz, wenn man die Menschen in Venezuela als noch nicht für den Marxismus ansprechbar darstellt. Das Gegenteil ist der Fall: die Menschen in Venezuela sind den Europäern derzeit voraus, weil sie immerhin damit begonnen haben, die Aufgaben der sozialistischen Revolution anzupacken. Ohne die Anwendung marxistischer Ideen ist nach meiner festen Überzeugung eine erfolgreiche sozialistische Revolution unmöglich. Es freut mich festzustellen, dass Präsident Chávez und viele andere Aktivisten der bolivarischen Bewegung sich nicht nur in Richtung sozialistischer Positionen bewegen, sondern die Ideen von Marx, Engels, Lenin, Trotzki und Rosa Luxemburg ernst nehmen. Nun wird in der bolivarischen Bewegung immer wieder betont, dass es nicht darum gehe, fertige Sozialismusmodelle zu kopieren. Wird in Venezuela also eine neue Form von Sozialismus entstehen oder wollen Sie den Venezolanern Ihr Sozialismus-Modell überstülpen? Darauf gibt es zwei mögliche Antworten. Zum ersten ist jede Revolution anders, denn jede Nation und jedes Volk hat Besonderheiten und eigene Traditionen. Natürlich geht es nicht um die sklavische Nachahmung irgendeines Modells. Allerdings ist es nicht nötig, das Rad neu zu erfinden, denn das Rad wurde schon vor langer Zeit erfunden. Der Marxismus bleibt der höchste, wissenschaftliche Ausdruck des Sozialismus und ist aktuell geblieben. Die Revolution in Venezuela muss nicht unbedingt schematisch alle Etappen der Russischen Revolution durchlaufen. Bei allen realen Unterschieden sind die grundlegenden Prozesse die gleichen. Daher müssen auch die gleichen grundlegenden revolutionären Ideen zur Anwendung kommen. Ingo Niebel wirft europäischen Linken vor, sie hätten nicht verstanden, "dass die friedliche Revolution in Venezuela aus dem Bolivarianismo hervorgegangen ist, einer sich entwickelnden Idee, die ihren Ursprung in Lateinamerika hat und einen sozialen Charakter hat, der sowohl der sozialistischen Idee wie aber auch der christlichen Soziallehre sehr nahe kommt. Nur: Die soziale Ausprägung des Bolivarianismus führt Chávez ausdrücklich nicht auf Marx zurück, sondern auf dessen lateinamerikanische Zeitgenossen Bolívar, Rodríguez und Zamora. Deren Vorstellungen verbindet die bolivarianische Idee mit konkreter Politik, wie sie unter den gegebenen Umstönbden nötig und möglich ist." Diese Aussage verkennt die wirkliche Lage der bolivarischen Bewegung. Nebenbei gesagt war Simon Bolivar kein lateinamerikanisches Phänomen, sondern seine Ideen wurden bei seinem Europaaufenthalt maßgeblich von der Französischen Revolution geformt. Frankreich, wo der junge Bolivar studierte, liegt in Europa und nicht in Lateinamerika. Er war ein großer Revolutionär, und seine Vision einer revolutionären Vereinigung Mittel- und Südamerikas unterstütze ich zu 100 Prozent. Allerdings hat sich nach 200 Jahren Kapitalismus gezeigt, dass die lateinamerikanische Bourgeoisie unfähig ist, diese Ausgabe zu erfüllen und Lateinamerika vorwärts zu bringen. Simon Bolivar war in seiner Zeit, also der Zeit der bürgerlich-demokratischen Revolution, ein großer Revolutionär. Karl Marx war ein ebenso großer Revolutionär, dessen Ideen sich aus einer anderen Zeit heraus bildeten, dem Zeitalter des Kapitalismus und der proletarischen Revolution. Die Aufgaben der Bolivarischen Revolution sind einfach: Es geht um die Entmachtung der Oligarchie, dieses reaktionären Blocks von Bankiers, Großgrundbesitzern und Kapitalisten, die ein massives Hindernis für den sozialen Fortschritt darstellen. Wie soll uns dies gelingen? Nur durch eine Revolution in der Revolution, wie Präsident Chávez sich ausdrückt. Konkret bedeutet dies: Die Bolivarische Revolution hat als bürgerlich-demokratische Revolution begonnen und muss in eine proletarische Revolution übergehen, die die sozialistischen Aufgaben anpackt und sich um die aktive Solidarität der Arbeiter und Bauern in ganz Lateinamerika bemüht. Diese Vision hat auch Präsident Chávez bei vielen Anlässen vertreten. Wer dafür Marxisten wie Alan Woods kritisiert, der muss gleichermaßen Präsident Chávez und die Mehrheit der bolivarischen Arbeiter und Bauern in Venezuela kritisieren, die nachdrücklich die sozialistische Linie unterstützen. Sie haben kürzlich Kuba besucht und auf der Buchmesse in Havanna die kubanische Ausgabe Ihres Buchs "Aufstand der Vernunft" vorgestellt. Was für ein Echo haben sie damit gefunden? Wie wirkt sich die venezolanische Revolution auf Kuba aus? Die venezolanische Revolution hat sehr starke Auswirkungen auf Kuba und sie hat wesentlich dazu beigetragen, Kuba aus der vom US-Imperialismus verhängten Isolation herauszubringen. Die Kubaner schöpfen jetzt neue Hoffnung. Trotzkis Ideen sind für die venezolanische und kubanische Bevölkerung besonders wichtig und finden jetzt auch in Kuba ein starkes Echo. Bei der Buchmesse in Havanna haben wir viele Bücher von Leo Trotzki verkauft. Bei Veranstaltungen in mehreren kubanischen Städten war das Echo auf meine Vorträge sehr gut. Wir sehen Sie aktuelle Lage in Kuba? Ist dort eine Rückkehr zum Kapitalismus ausgeschlossen? Interessanterweise hat Fidel Castro diese Frage in einer Rede letzten November beantwortet, indem er feststellte, dass die kubanische Revolution nicht unumkehrbar ist und die Drohung einer kapitalistischen Konterrevolution real ist. Fidel Castro ist in dieser Frage fest geblieben. Alle revolutionären Kräfte der Welt müssen die Errungenschaften der kubanischen Revolution, vor allem die staatliche Planwirtschaft, gegen den Imperialismus und Kapitalismus verteidigen. Wie kann uns dies am besten gelingen? Fidel Castro sprach in seiner Rede auch von der Gefahr, die von korrupten Kräften im Staatsapparat ausgehen könnte und rief die Massen auf, dagegen vorzugehen. Dies kann ich voll und ganz unterstützen. Am besten bekämpft man die Bürokratie in Kuba und rettet die Revolution, indem man an die Ideen von Lenins Schrift "Staat und Revolution" anknüpft. Darin sind die wichtigsten Maßnahmen gegen Bürokratie aufgeführt. Außerdem kann die kubanische Revolution dauerhaft nur gesichert werden, wenn die sozialistische Revolution in anderen lateinamerikanischen Ländern weitergeführt wird. Daraus ergibt sich auch die aktuelle Bedeutung von Bolivien und Venezuela. Die EU fordert von Kuba die Einhaltung von "Menschenrechten". Selbst Abgeordnete der Linkspartei haben einer entsprechenden Resolution im Europaparlament zugestimmt. Was halten Sie davon? Dies ist bürgerliche Heuchelei. Sie reden von "Menschenrechten" in Kuba und selbst in Venezuela, einem der freiesten Länder der Welt. Die Imperialisten stört an Kuba, dass dort die Produktionsmittel verstaatlicht sind. Was für eine Demokratie haben die USA, wo nur Milliardäre Präsident werden können und selbst Bush die Wahlen gefälscht hat? Mit diesen Heuchlern haben wir nichts am Hut. In den letzten Tagen haben die Bürgerlichen dagegen protestiert, dass die Regierung Chávez die Ölfelder der französischen und italienischen Konzerne Total und Eni konfisziert hat. Sie bemängeln, Hugo Chávez stranguliere die Privatwirtschaft. Venezolanisches Öl sollte dem venezolanischen Volk gehören. Präsident Chávez verteidigt die Interessen seiner Bevölkerung gegen die systematische Ausplünderung durch ausländische Ölfirmen aus den USA und Europa. Diese Firmen haben früher nicht einmal Steuern an den venezolanischen Staat abgeführt. Die Imperialisten und Ölkonzerne haben über Jahrzehnte das venezolanische Volk stranguliert und sich dabei auf so genannte "demokratische" Regierungen gestützt. Wo blieben denn die Proteste der europäischen Regierungen, als 1989 etwa die AD-Regierung von Carlos Andres Pérez tausende wehrlose Menschen in Caracas bei der Niederschlagung des "Caracazo" massakrieren ließ? Nun befürchten die Bürgerlichen bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen einen linken Wahlsieg in Peru. Könnte nach Bolivien auch Peru dem venezolanischen Weg folgen? In ganz Lateinamerika findet derzeit ein revolutionärer Prozess statt, ein Wiedererwachen der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen. Von Feuerland bis zum Rio Grande gibt es kein einziges wirklich stabiles kapitalistisches Regime mehr. In unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit versuchen die Massen in diesen Ländern, die Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Marxisten begrüßen diese Entwicklung und müssen alles tun, um die notwendige politische Klarheit zu liefern und den fortgeschrittenen Schichten in der Bewegung helfen, den revolutionären Prozess zum Erfolg zu führen. Interview: Hans-Gerd Öfinger |