Kategorie: Asien |
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Israel: Das Volk will soziale Gerechtigkeit |
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Der Arabische Frühling hat nun auch Israel erfasst und dort zum Aufblühen einer sozialen Protestbewegung historischen Ausmaßes geführt. Am Samstag, 3. September 2011 fand die bisher größte Demonstration in der Geschichte Israels unter dem Motto „Marsch der Millionen“ statt. |
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Die bürgerliche Berichterstattung der letzten Jahre stellte die Lage im Nahen Osten im Großen und Ganzen so dar: Das bestimmende Moment ist die Feindschaft zwischen „Juden“ und „Arabern“, die einzelnen Länder selbst sind unerschütterliche Blöcke, vielleicht mit Ausnahme einiger Islamisten, denen ihre eigenen Regierungen nicht radikal (sprich unterdrückerisch) genug sind. Einen ernsten Dämpfer erhielt diese Sichtweise mit dem Beginn der Revolutionen in Tunesien und vor allem Ägypten und den darauf folgenden Großdemos in der gesamten arabischen Welt. Doch noch immer schien Israel so etwas wie ein „Sonderfall“ zu sein, eine Insel der Demokratie und des Wohlstandes. Die Arabische Revolution schien Israel nur durch den Umstand zu berühren, dass etwa der ägyptisch-israelische Friedensvertrag auf Druck der revoltierenden arabischen Massen aufgelöst werden könnte. Doch weit gefehlt: Auch Israel ist ein kapitalistisches Land, in dem der Reichtum der Wenigen auf der Ausbeutung der Vielen basiert. Die sozialen Gegensätze im „Gelobten Land“ haben in den letzten Jahren (wie auch im Rest der Welt) enorme Ausmaße angenommen. So befinden sich ungefähr 20% der Anteile an den 500 größten Unternehmen in den Händen von nur 16 Familien. Auf der anderen Seite leben 28% der Israelis unter der Armutsgrenze, knapp ein Viertel der Bevölkerung hat Probleme damit, jeden Tag genug zu essen zu bekommen, 60% davon sind jüdische Israelis. Israel ist also, trotz gegenteiliger Propaganda, vor allem ein entlang von Klassenlinien gespaltenes Land, auch wenn die Herrschenden immer wieder versuchen, mit dem Schreckgespenst einer nationalen Bedrohung von der sozialen Frage abzulenken. Die Regierung appelliert an die nationale Einheit gegen den äußeren Feind, gegen den Terrorismus usw. Doch gerade die Arabische Revolution machte dieser Propaganda von den „arabischen Massen“ als einem reaktionären Block einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Denn genau diese zeigten in der Praxis, dass man die herrschende Ordnung nicht hinnehmen muss, sondern dass sich der Kampf dagegen lohnt. Aus dieser Erfahrung haben die Menschen in Israel in den letzten Monaten ihre Schlüsse gezogen. Eines der wichtigsten sozialen Probleme stellt in Israel die Wohnungsfrage dar. Die Regierung steckt seit Jahrzehnten Unsummen in den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten (und den militärischen Schutz derselben), während der soziale Wohnbau systematisch vernachlässigt wurde. Dadurch wurden die meisten Wohnungen – vor allem im Großraum Tel Aviv – zunehmend unbezahlbar. Daran entzündeten sich ab Mitte Juli diesen Jahres gewaltige Proteste. Schon zuvor war es mehrfach zu Demos gegen die Preiserhöhungen bei Hüttenkäse, der in Israel ein Grundnahrungsmittel darstellt, gekommen. Den bisherigen Höhepunkt stellten aber die Demonstrationen am 6. August dar, wo nach verschiedenen Angaben in ganz Israel bis zu 500.000 Menschen auf die Straße gingen (bei einer Gesamteinwohnerzahl von 7,6 Millionen). Alleine in Tel Aviv demonstrierten über 300.000 Menschen und ließen dabei keinen Zweifel daran, dass ihnen ihre arabischen Brüder und Schwestern näher stehen als die eigene Regierung. Der Hauptslogan lautete: „Das Volk ist hier und will soziale Gerechtigkeit.“ Der erste Teil wurde in Anlehnung an eine Parole der ägyptischen Massen beim Sturz Mubaraks auf Arabisch ausgerufen, der zweite auf Hebräisch. Auch an anderen Beispielen zeigte sich das wachsende Bewusstsein (anders als in Teilen der deutschen Linken, namentlich den sogenannten „Antideutschen“ und „Antiimperialisten“), dass eine Lösung der Probleme für die Menschen im Nahen Osten nur durch einen gemeinsamen Kampf gegen die herrschenden Klassen im eigenen Land möglich ist. So gab es bei den Demonstrationen etwa Plakate mit den Aufschriften „Egypt is here“ oder „Walk like an Egyptian“. Vereinzelte TeilnehmerInnen, die eine Lösung des Wohnproblems durch verstärkten Siedlungsbau forderten, wurden ausgebuht. Seit diesem Höhepunkt Anfang August hat die Protestbewegung etwas an Schwung verloren. Vor allem der jüngste Terroranschlag verschaffte Regierungschef Netanjahu die bitter notwendige Verschnaufpause. Die übliche Reaktion der Mächtigen der Region folgte und zeigte vorerst auch Wirkung: israelische Bombenangriffe auf den Gazastreifen, Raketenbeschuss durch die Hamas, die Absage einer weiteren geplanten Großdemonstration in Israel. Die Antwort auf dieses Ablenkungsmanöver ließ nicht lange auf sich warten. Am Samstag fand die bisher größte Demonstration in der Geschichte Israels unter dem Motto „Marsch der Millionen“ statt. Die Zukunft wird zeigen, dass auch (oder gerade) im Nahen Osten die alte Weisheit stimmt, dass Revolutionen nicht vor nationalstaatlichen Grenzen halt machen, und die israelischen und arabischen Massen gegen ihre Unterdrückung und für eine bessere gemeinsame Zukunft kämpfen werden. |