„Die Kurden wurden geboren, um betrogen zu werden. Fast jedem Möchtegernkleinstaat wurde nach dem Ersten Weltkrieg die Freiheit versprochen. Die Kurden haben sogar eine Delegation nach Versailles entsandt, um sich die Anerkennung als Nation und sichere Grenzen zu erbitten.“ (Robert Fisk)
Und doch haben sich die großen imperialistischen Mächte des Westens jüngst ein weiteres Mal versammelt, um einen weiteren Verrat an diesem oft geprüften Volk zu unterschreiben, einem Volk, dessen Schicksal während hundert Jahren von einer Großmacht in der Region an die nächste verkauft wurde, als ob es nur ein weiterer Artikel auf der Einkaufsliste wäre. An einer Notfallsitzung der NATO – ein sehr seltenes Ereignis – brachte Generalsekretär Jens Stoltenberg seine „große Solidarität“ mit der Türke bei ihrem Krieg gegen den „Terrorismus“ zum Ausdruck. Die gemeinsame Erklärung der NATO-Mitglieder hält fest, dass „die Sicherheit der Allianz untrennbar“ sei und verurteilt die neusten Terroranschläge. Dabei beschreibt sie Terror als „globale Bedrohung, die weder Grenzen, Nationalität noch Religion kennt – eine Herausforderung, welche die Internationale Gemeinschaft gemeinsam angehen und bekämpfen muss.“
Die Heuchelei in diesem Statement ist für jede und jeden klar erkennbar. Über die letzten vier Jahre hat die türkische Regierung eng mit den barbarischsten Terrorgruppen zusammengearbeitet, von den verschiedenen Fraktionen Al Kaidas bis zum Islamischen Staat (IS) selbst. Inzwischen ist es nahezu eindeutig, dass der türkische Geheimdienst direkt in den Terroranschlag von Suruc verwickelt war, der das Leben von 32 jungen AktivistInnen gekostet hat und weitere 102 verletze.
Das Regime Erdogan fährt also mit der Bomben-Kampagne gegen die Stellungen der PKK in Syrien und im Irak fort. Diese Bombardements unterstützen den IS sogar noch. Zagros Hiwa, ein PKK-Sprecher, erklärte, wie ein Konvoi der PKK bombardiert wurde, „als sie auf dem Weg nach Kirkuk und Sindschar waren, um den IS zu bekämpfen“. Er sagte weiter, die Türkei sei eher ein Hindernis als eine Unterstützung im Kampf gegen den IS: „Die meisten unserer getroffenen Kräfte waren gerade dabei, sich auf den Kampf mit dem IS vorzubereiten.“
Die Bomben zielen offensichtlich auch darauf ab, das verfaulte Barzani-Regime im irakischen Teil Kurdistans, welches unter großem Druck durch wachsenden Einfluss von PKK nahen Gruppen gekommen ist, zu entlasten. Besonders die Volksverwaltung, wofür der syrische Ableger der PKK wirbt, steht in drastischem Gegensatz zu Barzanis autoritärer Quasistammesherrschaft in der autonomen Kurdischen Regionalregierung. Auch wenn der Barzani-Clan für den Moment militärisch gestärkt ist, wird die unverfrorene Kooperation mit dem türkischen Imperialismus gegen kurdische Landsleute, die gegen den IS kämpfen, zu einer Schwächung von Barzanis Position führen und zu einem Erwachen der Massen führen.
Gleichzeitig haben die Türkei und die USA Pläne für eine Flugverbotszone im Norden Syriens offengelegt. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu sagte: „Sobald die Gebiete im nördlichen Syrien von der Gefahr des IS gesäubert sind, werden natürlich Sicherheitszonen gebildet werden. Wir haben Sicherheitszonen und Flugverbotszonen immer verteidigt. (...) Vertriebene Menschen können in diesen Gebieten angesiedelt werden.“
Allerdings kann eine Flugverbotszone ohne Bodentruppen nicht durchgesetzt werden. Wer wird diese Truppen bereitstellen? Sehr wahrscheinlich wird es eine Koalition von Al Kaida und ähnlichen islamistischen Kräften geben, die – natürlich unter neuem Namen – als Stellvertreter für die Imperialisten aus Qatar, Saudi-Arabien und der Türkei fungieren. Das Ergebnis der NATO-Sondersitzung war also nicht, die Türkei vor dem Terrorismus zu verteidigen, sondern dessen islamistische Handlanger in Syrien bei ihren Angriffen auf die Kurden in der Region zu unterstützen.
Währenddessen dauert der Ansturm gegen die PKK, die sich als die effizienteste Kraft gegen den IS behauptet hat, ununterbrochen an. In einem Versuch, ihren zynischen Verrat an den Kurden in Syrien unter den Tisch zu kehren, sagte ein Sprecher: „Die Tatsache, dass wir nun Zugang zu Militärbasen in der Türkei haben, hat zur Folge, dass unsere Hilfe nun pünktlicher und sogar effektiver wird. Ich denke, dass diese Art von Luftunterstützung anhalten wird.“
Er sagte weiter: „Die Türkei wurde wiederholt Ziel von PKK-Terroristen und wir anerkennen ihr Recht, sich gegen diese Angriffe zu wehren. Und es war auch die Rache für die jüngsten Attacken seitens der PKK, dass die Türkei diese aktuellen Angriffe durchgeführt hat.“ Das ist eine glatte Lüge. Mit dem Aufstieg der Partei HDP als eine glaubhafte gesamt-türkische linke Kraft, hat Erdogan seit Monaten versucht, einen Krieg mit der PKK anzuzetteln. Der türkische Geheimdienst war seit den Wahlen an unzähligen terroristischen Angriffen auf HDP-Treffen beteiligt. Der Anschlag in Suruc letzte Woche war lediglich die tödlichste dieser von Erdogan gesponserten Attacken.
Klassenkampf
Die Türkei ist die fünfzehntgrößte Volkswirtschaft der Welt, mit über einer Million Bewaffneter. Diese mächtige Militärmaschinerie ist nicht das Opfer dieser Geschichte, sondern der einseitige Aggressor. Gleichzeitig verwendet sie die Offensive gegen die PKK, um nach links zu schlagen.
Das Times Magazine schreibt: „Von den über tausend Menschen, welche die Türkei in den letzten Tagen in Razzien verhaftet hat, sind 80% Kurden, die entweder der PKK oder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) nahestehen“, sagt İbrahim Ayhan, Parlamentsabgeordneter der HDP. „Der Sieg der Kurden über den IS wurde von der Türkei quasi als Herausforderung verstanden“, sagt Ayhan. „Die Türkei sieht das alles als große Bedrohung.“
In der Tat gab es in letzter Zeit erstaunlich wenige Nachrichten von erfolgreichen Angriffen auf den IS aus der Türkei oder Syrien. Das Hauptziel Erdogans ist offenkundig, den Aufstieg der HDP zu hemmen, einer linken Partei, die es geschafft hat, einen beachtlichen Teil der radikalisierten ArbeiterInnen und Jugend um sich zu scharen. Dies war deutlich zu erkennen, als seine Regierung eine polizeiliche Ermittlung gegen die HDP mit der Begründung veranlasste, die Partei sei vielleicht in kriminelle Machenschaften verwickelt.
Der Versuch seine Herrschaft zu Hause durch eine militärische Intervention in der Region zu stabilisieren, könnte indes in Zukunft ernsthafte Konsequenzen für die Stabilität der Türkei haben. Das Wahlresultat der HDP lag höher als alle Kommentatoren vorhergesagt hatten. Gleichzeitig gab es eine noch größere Bevölkerungsgruppe, welche zwar Sympathien für das radikale Programm der HDP hatten, aber aus Misstrauen, diese würde mit Erdogan gemeinsame Sache machen, nicht für sie stimmten. Diese Gruppe ist seit den Wahlen näher an die Partei gerückt. Für viele Türken ist die HDP die einzige Partei, die nicht durch Korruption und Prinzipienlosigkeit belastet ist. Es ist die Partei, die sich mutig für ihre sozialen Anliegen und ihre demokratischen Rechte einsetzt. Die Tatsache, dass Erdogan die HDP mit allen Mitteln bekämpft, verstärkt diese Ansicht nur. In den kurdischen Gebieten der Türkei ist die HDP noch tiefer verwurzelt. Die Partei erfuhr hier einen erdrutschartigen Sieg und schaffte es in manchen Bezirken auf 90% der Stimmen. Erdogans Angriffe auf die HDP werden dies nur festigen und tragen das Potenzial für einen Aufstand gegen sein Regime in diesen Gebieten in sich.
Des Weiteren sind die Kurden nicht mehr eine isolierte Nation in einem rückständigen Gebiet, sondern ein integraler Teil der türkischen Arbeiterklasse; beschäftigt in und an denselben Fabriken und Arbeitsplätzen wie andere Volksgruppen. Der Versuch Erdogans, die Arbeiter und Arbeiterinnen zu spalten, kann deshalb zu einem noch heftigeren Gegenschlag der lohnabhängigen Klasse führen, die ihre Kämpfe in der letzten Zeit verschärft hat. Im Monat Mai traten tausende von Auto-Arbeitern in einen wilden Streik gegen die Bosse, den Staat, aber auch ihre eigene Gewerkschaftsführung. Dies ist ein Gradmesser für die Stimmung unter den ArbeiterInnen, die in Zukunft in einem viel größeren Ausmaß an die Oberfläche treten können.
Ein Riss in der herrschenden Klasse
Auf der anderen Seite, falls Erdogan bei seinem Vorhaben, den Klassenkampf in nationalistische Bahnen abzulenken, erfolgreich sein sollte, riskiert er eine Destabilisierung der Türkei und sogar ein Auseinanderbrechen des Landes. Gleichzeitig untergraben seine übereilten Aktionen den effektivsten Verbündeten der US-geführten Koalition auf syrischem Boden, die YPG. YPG-Führer haben bereits signalisiert, ihre Loyalität könnte zum Assad-Regime wechseln. Hassan Nasrallah, Anführer der libanesischen Hisbollah-Milizen, reichte den Kurden die Hand, indem er die Angriffe auf die PKK verurteilte. Dasselbe war mit einer Nachricht der iranfreundlichen Regierung im Irak der Fall. Wenn die PKK und YPG näher an den Iran rücken, wäre dies eine bedeutende Verschiebung in der Dynamik des Regimes und könnte zu einer Ausweitung und Eskalation des Konflikts führen.
Erdogan scheint besessen davon, seine eigene persönliche Position zu retten. Tatsächlich waren das NATO-Treffen und seine einseitige Kriegserklärung an die PKK sehr zur Bestürzung der westlichen Imperialisten. Besonders die USA sind nicht daran interessiert, ihre Beziehung zur YPG, ihrem stärksten verbündeten Bodenkämpfer in Syrien, aufzubrechen. Sie waren auch nicht beeindruckt von Erdogan, der einen Vorteil daraus zog, dass die NATO im Konflikt mit Russland war und nicht gespalten auftreten konnte. So konnte er ein Krisentreffen herbeiführen und zwang den Westen so, nach seiner Pfeife zu tanzen. Indem er also versucht, seine eigene Haut zu retten, riskiert Erdogan den türkischen Kapitalismus als ganzes und nun auch noch die westlichen Institutionen. Ein Teil der Kapitalisten hat dies bereits realisiert.
Es gibt zudem Berichte von ernsthaften Warnungen anderer NATO-Staaten an die Türkei – hinter geschlossenen Türen. Sie hatten den Auftrag, Druck auf Erdogan auszuüben und ihn von seiner Offensive abzuhalten. Dieses Gefühl reflektiert auch Kati Piri, vom Europäischen Parlament beauftragter Berichterstatter zur Türkei, auf Twitter: „Gefährliche Rhetorik in der Türkei gegen HDP, die in den letzten Wahlen sechs Millionen Stimmen holte. Zeit, die Realität zu akzeptieren.“
Die Bourgeoisie fühlt sich nicht wohl bei Erdogans abenteuerlichem Alleingang. Das nicht etwa auf Grund ihrer „demokratischen“ Werte und Prinzipien. Wir sehen ja, dass sie kein Problem damit haben, die reaktionärsten Kräfte zu unterstützen, solange es ihren Interessen dient. Was sie befürchten ist, dass Erdogans Taten eine revolutionäre Bewegung auslösen könnte, die ihre Position empfindlich schwächen würde. Sie sagen im Grunde: „Greif die Massen nicht an, denn du könntest eine Revolution auslösen.“ Erdogan andererseits sagt: „Ich muss die revolutionären Massen vernichten, bevor sie zu stark werden. In einer solchen Situation, in der die herrschende Klasse gespalten ist und die Massen durch Jahre der Korruption und Unterdrückung radikalisiert sind, steigt das Potenzial für eine revolutionäre Bewegung."
Wenn die HDP klar gegen das Regime von Erdogan Position bezieht und eine nationale Bewegung aus kurdischen und türkischen ArbeiterInnen gegen Unterdrückung, gegen Gewalt, gegen Islamismus und für einen Aufschwung des Lebensstandards organisiert, könnte der Weg für einen Generalstreik und eine revolutionäre Massenbewegung, welche das verfaulte Regime Erdogan hinwegfegen und eine neue Ära in der Geschichte der Türkei, des Nahen Ostens und anderswo einläuten könnte, geebnet werden. Die realen Grenzen verlaufen nicht zwischen Nationen, sondern zwischen Klassen. Wir können kein Vertrauen in irgendeine Kraft der Bourgeoisie, ob „demokratisch“ oder nicht, haben. Nur durch den vereinten Kampf der Massen von Unterdrückten gegen den US-Imperialismus und seine barbarischen Verbündeten können wir die monströsen reaktionären Kräfte aufhalten, die sie auf Kurdistan und den Nahen Osten loslassen.
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