Kategorie: Asien

„Kleineres Übel“ scheitert im Kampf gegen Erdoğan

Die bürgerlich-nationalistische CHP (Republikanische Volkspartei) verbrachte die letzten 6 Monate damit ein breites Bündnis gegen Erdoğans AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungs-partei) zu schmieden. Teil ihrer „Alle gegen Erdoğan“-Front war neben islamistischen und nationalkonservativen Kräften auch die einzig relevante linke Koalition. Nachdem diese Taktik bereits in der Parlamentswahl gescheitert war, unterlag der CHP-Kandidat Kılıçdaroğlu nun auch in der Stichwahl um die Präsidentschaft erneut Erdoğan.

der funke


Nachdem kein Kandidat in der ersten Runde eine absolute Mehrheit gewinnen konnte, wurde am 28. Mai 2023 die Stichwahl um die Staatspräsidentschaft abgehalten. Der Tag fiel mit dem Jubiläum eines bedeutsamen Ereignisses zusammen: Genau 10 Jahre vorher schlug die türkische Polizei mit höchster Brutalität eine Demonstration gegen den Bau eines Einkaufszentrums auf dem Gelände des historisch signifikanten Gezi-Parks nieder.

Dieser Akt von staatlicher Gewalt löste eine Massenbewegung aus, die schnell dazu überging das korrupte AKP-Regime selbst infrage zu stellen. Ohne revolutionäre Führung und Perspektive zerfiel die Bewegung allerdings ohne es zu stürzen. Heute steht Erdoğan vor einer noch größeren Herausforderung. Zwar gewann er die Stichwahl mit 52 % der Stimmen, doch unter der Oberfläche brodelt es.

Erdoğans Regime bröckelt

Seine AKP baute ihr Regime unter anderem auf einem Fundament wirtschaftlichen Wachstums auf. Der relative Wohlstandsanstieg basierte zwar auf spekulativem Immobilienboom und einem Ausverkauf des staatlichen Sektors an ausländische Investoren, stellte aber kurzfristig große Teile der bessergestellten Arbeiter und der ländlichen Bevölkerung zufrieden.

Gleichzeitig wurden massive Angriffe auf die Organisationen der Arbeiterklasse und die kurdische Bevölkerung sowie Frauen- und Minderheitenrechte gefahren. Nun bröckelt das Regime, denn die materielle Basis seiner Macht schwindet. Schon in den Zehnerjahren zeichnete sich ein Abwärtstrend in der türkischen Wirtschaft ab, nun ist er in eine gigantische Krise umgeschlagen.

Die globale Krise des Kapitalismus zieht an keinem Staat vorbei und trifft die Türkei besonders stark. Die Inflation wird auf 80 % geschätzt und bei der Erdbebenkatastrophe im Osten des Landes kamen zehntausende Menschen ums Leben oder verloren ihre Wohnungen, nicht zuletzt wegen des schlechten Krisenmanagements und Erdoğans korrupten Deals mit Bauunternehmen. Außerdem radikalisieren Erdoğans brutale militärische Angriffe auf die autonomen kurdischen Regionen im Osten die kurdische Bevölkerung in der Türkei immer wieter. Diese Entwicklungen gehen am Bewusstsein der Arbeiter nicht vorbei und resultierten 2022 in der größten Streikwelle seit den revolutionären Siebzigerjahren.

Das kleinere Übel?

Die tiefe Krise des türkischen Kapitalismus drückte sich in einem hitzigen Wahlkampf aus, der aber gleichzeitig der Streikbewegung einen Deckel auflegte. Die Illusion, das AKP-Regime könnte an der Wahlurne geschlagen werden, begann sich aber bereits nach der Parlamentswahl aufzulösen. Erdoğans Partei gewann zwar keine absolute Mehrheit und ist auf die Unterstützung kleinerer rechter Parteien angewiesen, aber dennoch konnte sie die CHP und ihr Bündnis schlagen.

Die CHP wird von der bürgerlichen Presse besonders in Europa als sozialdemokratisch bezeichnet. In Wirklichkeit ist die historisch kemalistische Partei (von Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei) die Partei der Bourgeoisie. Kılıçdaroğlu sprach sich im Wahlkampf gegen Korruption und hohe Lebenshaltungskosten aus, die mit den klassischen „Lösungen“ der Bourgeoisie bekämpft werden sollten. So schlug Kılıçdaroğlu beispielsweise eine „orthodoxe Geldpolitik“ und „Unabhängigkeit der Zentralbank“ vor. Das bedeutet: Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und Zinserhöhung zur Bekämpfung der Inflation.

Erdoğan hingegen warf während des Wahlkampfes die Geldpresse erneut an und finanzierte so u.a. Erhöhungen des Mindestlohns für alle um 55 Prozent und eine Woche vor der Wahl um weitere 45 Prozent für Beamte. Außerdem hat er die Gasrechnungen und das Renteneintrittsalter gesenkt, sodass zwei Millionen Arbeiter sofort in Rente gehen können. Diese Maßnahmen sind Wahlgeschenke, die keinesfalls Auskunft über die Politik nach seiner Wiederwahl geben. Die herrschende Klasse verlangt von beiden Kandidaten die Arbeiterklasse bezahlen zu lassen. Die Inflation, die Erdoğan mit dieser Geldpolitik befeuert, wird die Reallöhne noch weiter in den Keller treiben. Bereits einen Tag nach Bekanntmachung des Wahlergebnisses ist der Wert der türkischen Lira relativ zum US-Dollar auf ein Rekordtief gefallen.

Keiner der Kandidaten kann die Krise des Kapitalismus lösen. Um davon abzulenken, nutzten beide Kandidaten rassistische Hetze. Zwar wurden unter Erdoğan ca. 200.000 syrische Flüchtlinge eingebürgert und 150.000 zum ersten Mal zur Wahl zugelassen – nicht zuletzt, um sich ihre Stimmen zu sichern – doch das verärgerte seine antiarabischen, extrem rechten Verbündeten, weshalb er später versprach, Flüchtlinge vermehrt abzuschieben.

Beide Kandidaten rangen um die Unterstützung ultranationalistischer Kräfte, wie dem ehemaligen Parlamentarier Sinan Oğan, der in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 5 % der Stimmen erhalten hatte. Er entschied sich für Erdoğan. Letzterer benötigt außerdem für die Kontrolle des Parlaments die Unterstützung der neofaschistischen MHP (nationale Bewegung). Kılıçdaroğlu veröffentlichte seinerseits 4 Tage vor der Stichwahl eine Erklärung, alle Flüchtlinge innerhalb eines Jahres abschieben zu lassen. So konnte er die Unterstützung der ultranationalistischen ZP (Partei des Sieges) gewinnen.

Wo ist die Linke?

Das Programm der CHP war schon immer nationalistisch und auf die Unterdrückung ethnischer Minderheiten wie der Kurden ausgelegt, so deckten sie auch jeden Angriff Erdoğans. Von den wenigen Zugeständnissen an die kurdische Bewegung, die sie am Anfang des Wahlkampfes machten, ruderten sie zurück. Trotzdem war Kılıçdaroğlu gezwungen die prokurdische HDP (aufgrund staatlicher Repressionen trat sie unter dem Banner „Grüne Linkspartei“ auf) indirekt in seine Front zu integrieren.

Für die kurdische Bewegung und die Jugend ist sie mit ihrem linken Programm der erste Anhaltspunkt. Das macht die Koalition aus HDP und Arbeiterpartei TİP zur einzig relevanten linken Kraft. Nur durch ihre Kapitulation hatte Kılıçdaroğlu in der Präsidentschaftswahl überhaupt eine Chance. Die HDP konnte natürlich nicht Teil der offiziellen Koalition werden, sie hat aber davon abgesehen, einen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, wie sie es normalerweise getan hätte, und stattdessen öffentlich zur Wahl Kılıçdaroğlus aufgerufen. Dieser distanzierte sich gleichzeitig immer wieder von der HDP, um seine nationalistische Basis nicht zu verprellen.

Auch die TİP, eine sozialistische Partei, die seit ihrer Gründung 2017 signifikanten Zuwachs aus der Jugend erhalten hatte, reihte sich ein und stellte keinen eigenen Kandidaten auf. Die Anbiederungstaktik an die rechten und bürgerlichen Parteien kostete die Koalition aus HDP und TİP im Vergleich zu 2018 einige Prozentpunkte, trotzdem konnte sie mit ca. 10 % ins Parlament einziehen.

Das zeigt, dass es ein Potenzial für eine linke Kraft im Land gibt. Um die Massen für sich zu gewinnen, müssen HDP und TİP aber ein klassenkämpferisches Programm aufstellen und dürfen keine Kompromisse

mit der herrschenden Klasse eingehen. Sie müssen ihre Position im Parlament nutzen, um die bürgerliche Regierung und Opposition zu entlarven und aufzuzeigen, dass nur ein sozialistisches Programm die Probleme der Arbeiterklasse lösen kann. Nur so können die nationalen Befreiungsbewegungen mit der Arbeiterbewegung verbunden werden.

Kommende Klassenkämpfe

Die Gezi-Park-Bewegung hat bereits vor 10 Jahren die enorme Unzufriedenheit der Jugend und Arbeiterklasse mit dem AKP-Regime demonstriert. Ihnen fehlte eine Führung mit einem sozialistischen Programm, das die Bewegung in revolutionäre Bahnen hätte lenken können. Wie jede Massenbewegung war ihre Energie nicht unbegrenzt. Die Bewegung zeigte aber, dass die Spaltungslinien, die die herrschende Klasse mit aller Macht versucht aufrechtzuerhalten, überwunden werden können. Denn dort kämpften kurdische und türkische Arbeiter, Frauen und Männer Seite an Seite gegen das Regime.

Die Bedrohung für Erdoğan war damals real, heute ist sie trotz seines kleinen Wahlerfolges noch weitaus größer. Erdoğan wollte seine Herrschaft festigen. Die massiven Streikbewegungen der letzten Jahre, die Wirtschaftskrise und eine zutiefst gespaltene herrschende Klasse werden Erdoğans nächste Amtszeit aber alles andere als stabil machen.

Auf die jetzige Welle der Entrüstung werden noch intensivere Streikwellen und Demonstrationen folgen, die das Potenzial haben, die Gezi-Park-Bewegung in den Schatten zu stellen. Vor der Wahl wurden das klassenkämpferische Potenzial der Massen in elektorale Bahnen gelenkt und Illusionen in die bürgerlichen Parteien geschürt, die nun diskreditiert wurden. Die kommenden Bewegungen werden nicht auf dieselbe Weise ausgebremst werden können.

An ihre Spitze muss sich stattdessen eine treibende Kraft stellen, die ein revolutionäres Programm und einen konsequenten Klassenstandpunkt vertritt. Die IMT ist im Aufbau einer marxistischen Strömung in der türkischen Arbeiterbewegung und im ganzen Nahen Osten.

 

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