Kategorie: Europa

Die europäische Großindustrie gegen die Löhne

Die europäische Integration, das heißt die Errichtung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Europäischen Gemeinschaften (Zollunion ab 1957) und Euratom sowie des europäischen Binnenmarkts mit Währungsunion, wird in der deutschen, aber auch bspw. in der herrschenden französischen Geschichtsschreibung als glorreiche Entwicklung seit der karolingischen Ära, wenn nicht seit dem antiken Rom dargestellt.

 

 


Eine historische Analyse der Wurzeln der europäischen Integration weist weder auf eine idealistische Aussöhnung der europäischen Völker nach den Weltkriegen hin, noch auf eine Einigung qua Freihandel – obgleich die regionale Liberalisierung oft als solch vermeintlich friedensgenerierendes Endziel europäischer Geschichte dargestellt wird. Statt dessen führt eine materialistische, d.h. quellennahe historische Analyse auf eine Integration der europäischen Bourgeoisien hin, auf eine zunehmend integrierte Unternehmer-Arbeitsteilung auf europäischer Ebene, was die nationalen ArbeiterInnen, die in einem defensiven Europäischen Gewerkschaftsbund kaum repräsentativ organisiert sind, gegenüber ihren europäisch verbrüderten Unternehmern schwächte.

Harmonisierung der Mindestlöhne nach oben fordern linke Organisationen wie bspw. die Linkspartei. Doch in welcher Tradition steht die Geschichte der europäischen Integration, wo nur eine Harmonisierung der Löhne nach unten realistisch erscheint? Gewiss in einer Tradition des kapitalistischen Wohlfahrtsstaats, welcher Relikt des Kalten Kriegs ist und vom Kräfteverhältnis Kapital/Arbeit zeugt, welches nach 1945 zu Gunsten der Arbeit ausgeglichen wurde (nachdem zuvor die ungeschminkte Fratze des vornehmlich deutschen Kapitals Europa geplündert hatte) und ideologisch dadurch zu Ungunsten des Kapitals ausfiel, als die sowjetische Systemalternative der herrschenden Klasse in der westlichen Welt als reale ideelle Bedrohung erschien : die europäischen Sozialstaaten waren letztlich nur ein Bündel von Konzessionen an die Arbeiterklassen, welche heute ihre Errungenschaften verteidigen müssen.

Die Tradition der Kartelle sowie die französische Deutschland- und Ruhrpolitik der 1950er Jahre und der Druck der USA auf ein integriertes, liberalisiertes Europa unter deutscher (zunächst nur industrieller) Hegemonie sind der Schlüssel zum Verständnis der Wurzeln der EGKS. Im ersten Teil sollen kurz die entscheidenden wirtschaftlichen Faktoren der Europäischen Integration genannt werden: die Tradition der europäische Kartelle, d.h. der Markt-, Mengen- und Preisabsprachen auf Kosten der lohnabhängigen Konsumenten, die besonders seit dem 1. Weltkrieg in der deutschen und französischen Chemie- und Schwerindustrie vorherrschten, in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg noch umfassender wurden und nach 1945 ungebrochen fortbestanden.

Im zweiten Teil wird die Entstehung der EGKS, das europäische Stahlkartell von 1926 unter Berücksichtigung ihres Begründers Schuman (Vater Europas ebenso wie Jean Monnet, der liberale Plankomissar Franreichs) beleuchtet und im 3. Teil wird eine komprimierte Veranschaulichung der lobbyistischen und technokratischen Tendenzen in der EU vorgenommen.

Die Schwerindustrie und die chemische Industrie : Wurzeln der europäischen Integration

Mächtige Unternehmerverbände übten auf die Politik ihrer jeweiligen Regierungen in der Zwischenkriegszeit starken Einfluss aus, um die Lohnkosten niedrig zu halten und höhere Profite zu erwirtschaften.

Eng verbunden mit der Kartellfrage und den außenpolitischen Spielräumen ist im deutsch-französischen Verhältnis die traditionelle wirtschaftliche Beziehung zwischen der nordfranzösischen Schwerindustrie und derjenigen des Ruhrgebiets. Das Überschwenken der französischen Politik auf eine pro-europäische Linie (personifiziert durch den Außenminister Briand) fand nach dem Misserfolg der Ruhr-Besetzung statt, d.h. ein Übergehen auf die US-amerikanische Europapolitik (Plan Dawes 1924 und Plan Young 1929 reduzierten die Reparationen beträchtlich).

Nach 1919 verfügte das Ruhrgebiet über Kokskohle zur Eisenverhüttung, nicht mehr jedoch über Eisenerz, da das von Bismarck eroberte Reichsland Elsass-Lothringen (im Bezirk Lothringen befanden sich die einzigen nennenswerten Erzvorkommen des Reichs) zurück an Frankreich ging. In Frankreich fehlte es wiederum an Kokskohle, die aus dem Ruhrgebiet importiert werden musste.

Die Wurzeln der europäischen Integration sind, und da ist sich die gesamte EG-Geschichtsschreibung einig, im Stahlkartell von 1926 begründet. Vergessen wird jedoch oft das europäische Chemiekartell, dass nicht minder bedeutend war. Die deutsche Chemieindustrie, die der französischen überlegen war, ging Ende 1925 ein großes europäisches Chemiekonsortium ein, die Interessen-Gemeinschaft Farben-Aktiengesellschaft: Im November 1927 entstand aus IG Farben und dem französischen Farbstoffkartell Centrale des Matières colorantes (C.M.C., vom französischen Industriellen Kuhlmann dominiert) ein europäisches Kartell, das 80% der chemischen Industrie in Deutschland und Frankreich kontrollierte und die Grundlage für das europäische Kartell für Stickstoff und Farbstoffe darstellte.

Die Verträge sahen vor, dass Frankreich zwar die fortgeschritteneren chemischen Methoden der deutschen Partner anwenden dürfe, im Gegenzug für diese chemischen Produktionsinformationen wurde jedoch Kuhlmann (französischen Pendant zu Bayer) und den anderen französischen Chemieindustriellen ein Vertrieb auf den äußeren Märkten untersagt, so dass die deutsche Chemie sich enorme Marktanteile sicherte und die französische Chemie auf das Inland und die Kolonien beschränkt wurde (Deutschland verfügte über absolute Mehrheit im Kartellrat).

1929 kam die Basler Chemie dazu und ab 1931 war auch die britische Imperial Chemical Industries beim 4er-Kartell; das Kartell versprach den europäischen Regierungen «fruchtbare Beziehungen zwischen den verschiedenen Unterzeichner-Nationen».

Die durch die Weltwirtschaftskrise beschleunigte und intensivierte Annäherung der europäischen Industriellen vollzog sich ebenso in der Schwerindustrie: Das internationale Stahlkartell des luxemburgischen Bankiers Emile Mayrisch vom 30. September 1926, Archetyp der europäischen Integration, symbolisiert die deutsch-französische Zusammenarbeit in der Schwerindustrie, nachdem die Politik des «harten Friedens» (Ruhrbesetzung 1923) an massivem (von Berlin unterstützten) Widerstand, vermengt mit rechtsextremen Propagandakampagnen, und mangels Unterstützung der Briten und US-Amerikaner gescheitert war.

Das Stahlkartell bestätigte, ebenso wie das Chemiekartell, die Überlegenheit Deutschlands, das über 40,5% der Produktionsquoten verfügte (Frankreich 31,8%, Belgien 12,6% und Luxemburg, das nicht mehr mit dem Reich, sondern ab 1919 mit Belgien in einer Zollunion war, 8,6%). Dieser Übergang Frankreichs von der militärischen hin zur kooperativen Deutschlandpolitik war dem Comité des Forges (das französische Pendant zu Krupp) zu verdanken, das von den lothringischen Familien de Wendel und Laurent kontrolliert wurde. Das Comité des Forges sah bald ein, dass die Kooperation mit den deutschen Konkurrenten gegen den inneren Feind (die Arbeiterklasse und insbesondere die Kommunisten) vorteilhafter wäre, zumal Frankreich die im Versailler Vertrag in Aussicht gestellten 73 Mrd. Goldmark (52 % der Gesamtreparationen, die in Spa im Juli 1920 fest gesetzt wurden) zur Wiederherstellung der zerstörten Industrie Lothringen und des Nord-Pas-de-Calais mit Inkrafttreten des Plan Dawes 1924 nicht mehr bekommen sollte. Vertreter der Steinkohle- und Chemieindustrie waren dem Comité des Forges, das insgesamt 14 Tageszeitungen unterhielt und damit einen erheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinung hatte, eng verbunden.

Die französischen Kommunisten nannten das deutsch-französisch-belgisch-luxemburgische Stahlkartell das «Kartell der Konterrevolution und der Unternehmer-Offensive», da es die Löhne niedrig zu halten vermochte.

Die Kollaboration während der Hitler-Ära florierte: Mischgesellschaften mit Sitz im schwedischen und Schweizer Steuerparadies gestatteten horrende Profite. Diese ließen natürlich auch das Finanzkapital nicht kalt: die Banque de France drängte immer energischer auf eine französische Appeasement-Politik (heute ist die Banque de France und ihr Chef Camdessus, der Sarkozy gelegentlich feierlich seine Reformvorschläge überreicht, immer noch offener Impulsgeber für die französische Regierung), welche dann auch u.a. am 1. Oktober 1938 in München zur Opferung des französischen Militäralliierten Prag mit Zustimmung Dalladiers führte. Ende der 1930er Jahre verstärkte Paris seine Abhängigkeit durch zwei Handelsverträge, in denen das französische Eisenerz dem deutschen Partner gegen Kohlekokslieferungen reserviert wurde, während Frankreich bis 1939, als ob es über keine Stahlproduktion verfügte, praktisch keine Rüstungsproduktion unternahm (was die klägliche Niederlage von Mai 1940 nach sechs Tagen Kampf in Belgien begründet). Ebenso wie die britische unterschrieb übrigens auch die Banque de France im März 1939 - nach der Umwandlung der Tschechoslowakei in ein Protektorat - die Beschlagnahme der tschechoslowakischen Goldreserven durch das Reich. Dies war nach der Beschlagnahme der Reserven der österreichischen Zentralbank das erste Kapitel des Fortsetzungsromans zum «deutschen Raubgold».

Schon 1930 überwog innerhalb der französischen Finanzelite (Lenin sprach 20 Jahre zuvor von der in Frankreich herrschenden Finanzaristokratie) Einigkeit mit Deutschland und anderen westlichen Ländern um jeden Preis den inneren Feind, d.h. die Kommunisten, zu bekämpfen, wozu eine internationale, europäische Kooperation nötig sei: Pierre Quesney (Vertreter der Banque de France) verharmloste die revanchistische Gefahr jenseits des Rhein und ging statt dessen davon aus, dass die «aktuelle Gefahr» eine «immense soziale Gefahr» sei: Wenn Europa nicht zusammenarbeite, so würde das «unvermeidlich eine weltweite Revolution» bedeuten.

Die inflationistische und gleichzeitig drakonisch auf die Preisstabilität setzende Politik Hitler-Deutschlands imponierte den westlichen kapitalistischen Nachbarn, zumal die Arbeiterklasse außer Gefecht gesetzt (Streikverbot 1934) und anschließend quasi zu einer Leibeigenen-Klasse degradiert wurde (definitive Aufhebung des Kündigungsrechts 1935, Wiedereinführung des körperlichen Züchtigungsrechts gegenüber Landarbeitern etc.). Die vollständige Stabilität der Stundenlöhne und die systematische Minderung der Kaufkraft für Konsumgüter, während die Unternehmensrentabilität bei steigenden Profiten konsolidiert wurde, strahlte in die gesamte kapitalistische Welt als Patentrezept zur Sicherung der materiellen Herrschaft der Bourgeoisie aus.

Das einzige Mittel der ArbeiterInnen ihren Lebensstandard aufrecht zu erhalten bestand darin, ihre Arbeitszeit zu verlängern. Diese Mischung aus inflationärer und Sparpolitik (letztere ist heute zum dogmatischen Credo der EU geworden) führte die erste europäische wirtschaftliche Integration methodisch an. Diese deutsche europäische Lösung zu Gunsten der Privatkapitalien triumphierte während des Zweiten Weltkriegs - französische Industrielle und Bankiers wussten den deutschen Beitrag zur Senkung der Arbeiterlöhne um die Hälfte zu schätzen, indem sie freiwillig kollaborierten (z.B. Fusionen wie La Fayette mit Karstadt). Die fatalen Folgen des kruden Übergewichts zu Gunsten des Kapitals und zu Ungunsten der Arbeit (Arbeitslager, Sklavenarbeit in Lagern wie Mittelbau Dora etc.) bei dieser deutsch dominierten europäischen Integration im entfesseltsten aller kapitalistischen Systeme (wobei es keine simple Diktatur des Finanzkapitals war, sondern die krudeste Form von Faschismus, weil die bürgerlich Klasse zwar ihre materielle Macht bewahrte, jedoch ihre politische Macht dafür abtreten musste) sind hinreichend bekannt.

Die europäische Nachkriegspolitik : die Wiedereinführung des Stahlkartells

Die sog. deutsch-französische Aussöhnung war auch nach dem Krieg die Voraussetzung für eine europäische Integration. Die Pariser Politik der deutsch-französischen Einigung um jeden Preis ist indes in der Nachkriegszeit wiederzufinden. Schon als großer Sieger von 1918 hatte Frankreich seine Ohnmacht die deutschen Reparationen einzutreiben gezeigt (1932 wurden die 1929 auf 53,6 Mrd. Mark beschränkten Reparationen bei der Lausanne-Konferenz auf eine symbolische Restsumme von 3 Mrd. Mark begrenzt) und sich der US-amerikanischen Europapolitik gebeugt, welche auch eine allgemeine europäische Abrüstung befürwortete: Im Februar 1932 verpflichteten sich Großbritannien und Frankreich auf kontinuierliches Abrüsten, während das Reich ein Jahr später den Pakt brach und ab 1935 offen aufrüstete.

Ebenso nach dem Zweiten Weltkrieg, bloß dass diesmal Frankreich, der Verlierer von Juni 1940, gar nicht erst die im Potsdamer Abkommen versprochenen Reparationen einzufordern wagte (ganz zu schweigen von den anfänglichen Forderungen Deutschland dauerhaft zu entmilitarisieren und das Ruhrgebiet zu internationalisieren) - ebenso wenig wie Russland, dessen Schäden auf 132 Mrd. DM geschätzt wurden, das jedoch nur eine symbolische Summe von 5 Mrd. von Adenauer bekam und sich ansonsten in der DDR bedienen musste. Die in der Reparationsklausel vorgesehenen Entnahmen aus der laufenden Kokskohleproduktion des Ruhrgebiets wurden von Anfang an nicht für Reparationen, sondern von den USA, die das Ruhrgebiet besetzt hatten, für die Bezahlung lebenswichtiger Einfuhren benutzt.

Von den USA war seit 1945 eine europäische Zollunion gewünscht worden, in deren Rahmen Deutschland als seit den 1920er Jahren wichtigstes europäisches Aufnahmeland US-amerikanischer Kapitalien eine Vorreiterrolle für den einheitlichen europäischen Markt spielen sollte. Dies war mit Reparationszahlungen unvereinbar: Im Sommer 1947, nach der Rede George Marshalls in Harvard zu den Milliarden-Krediten an die künftigen westeuropäischen Handelspartner, die ihre Zollbarrieren fallen lassen sollten, äußerte Washington D.C. öffentlich seine Absage an deutsche Reparationen, ein Bruch des in Potsdam 1945 gegebenen Worts. Die Öffnung des französischen Schwermetallmarkts für die deutsche Schwerindustrie bedeutete zahlreiche Fabrikschließungen – nicht die Vollbeschäftigung, sondern die Produktivität und internationale Wettbewerbsfähigkeit stellte nunmehr das entscheidende Kriterium in der Industriepolitik dar.

Robert Schuman, der streng katholische luxemburgisch-lothringische Außenminister Frankreichs, heute Vater Europas genannt, sollte die Brücke zwischen altem und neuem Stahlkartell bauen: Die Ära Schuman begann am 9. Mai 1950 mit dem Plan Schuman zur EGKS - die EGKS war Grundstein der EWG von 1957, lief jedoch fristgerecht nach 50 Jahren 2002 ohne Verlängerung aus. Sie wurde allerdings nicht nur durch Schuman eingeleitet, sondern bereits zwei Jahre zuvor durch die Appelle des US-amerikanischen Delegierten Douglas, der seit 1948 daran erinnert hatte, dass eine «echte Sicherheit» (ebenso wie in der Zwischenkriegszeit) von den um das Ruhrgebiet abgeschlossenen industriellen Allianzen abhänge. Eine Öffnung der europäischen Schwerindustrie-Märkte zu Gunsten deutscher Stahl- und US-amerikanischer Kohleexporte wurde zum Gebot der Stunde; dies nahm Schuman zum Leitmotiv.

Der katholische Abgeordnete Robert Schuman votierte am 10. Juli 1940 in der Nationalversammlung für Pétains Vollmachten und blieb in der Vichy-Anfangsphase Unterstaatssekretär für Flüchtlingsangelegenheiten. Er organisierte 1950 den Anschluss Frankreichs an die US-amerikanische Europapolitik, welche die Bourgeoisie umso mehr begrüßte, als sie in der US-amerikanischen Politik mit Recht eine Unterstützung ihrer bis 1946 von Nationalisierungen bedrohten Klassenpolitik sah. Das Stahlkartell bedeutete de facto einen internationalen Schutz privater Kapitalien, die so vor dem Zugriff durch das Verstaatlichungen fordernde französische Volk (bis 1958 war die KPF bei den Wahlen die stärkste Partei) geschützt waren.

Der den deutsch-französischen Bilateralismus der Zwischenkriegszeit wiederbelebende Schuman-Plan wurde 1952, kraft EGKS, zum neuen Stahlkartell, der zwar von vielen Politikern nicht als Kartell bezeichnet wurde, dessen Hohe Behörde jedoch faktisch «eher über die Verteidigung gewisser Interessen der Industrie als die Verteidigung der Interessen der europäischen Gemeinschaft» (Zitat niederländischer Prof. Jitta 1951) wachte und Markt-, Mengen- sowie Preisabsprachen begünstigte.

Der Schuman-Plan war aber nicht nur die Wiederauflage der großen Vorkriegskartelle in der Tradition der Internationalen Rohstahlgemeinschaft, sondern er stellte auch eine Reminiszenz an deren Unterordnung Frankreichs unter die deutsche industrielle Hegemonie seit den späten 1920er Jahren in ebendiesen Kartellen dar.

Die Jahre 1953 und 1958 besiegelten somit die Wiederauflage der Wirtschaftskollaboration Frankreichs mit Deutschland, die sich in der Zwischenkriegszeit und in der Ära Vichy für die Grande Bourgeoisie bewährt hatte. Dieser Zwiespalt in der französischen Bourgeoisie trat 2004 während der Osterweiterung verstärkt zu Tage, als die bürgerliche Presse, Le Monde, Kritik an der Erweiterung äußerte, indem sie konstatierte, dass es eine rein deutsche Forderung während der 1990er Jahre gewesen sei. Diese mitunter devote Rolle der französischen Politik in europäischen Angelegenheiten (z.B. die von Paris unterstützte, von Madrid und Warschau verurteilte Zusammenstellung der Ratsmitglieder im EU-Verfassungsvertrag, nach der Deutschland absolut mehr Stimmen als die anderen drei großen Staaten hätte) stellt ein Moment dar, der die pro-europäische Lyrik der herrschenden Politiker - wahrnehmbar dank des Zwiespalts in der französischen Bourgeoisie - als heuchlerisch demaskiert.

Verschleiert hinter dem modernistischen Schlagwort der wirtschaftsliberalen Supranationalität kamen nach 1952 Personen, die reaktionären Regimen zugearbeitet hatten, wie der französische Hochkommissar Francois-Poncet, der Agent des Comité des Forges und aktiver Kollaborateur während der deutschen Besatzung, wieder an die Schalter der internationalen Politik – der EGKS sei dank. In einem vertraulichen Brief von 1953 äußerte Francois-Poncet Kassandra-gleich, dass künftig nicht mehr Luxemburg, sondern «Düsseldorf die Stadt sei, wohin die Führer der Schwerindustrie aus ganz Westeuropa zu kommen sich gezwungen sehen, um sich Befehlen zu unterwerfen.»

Die EWG von 1957 stellte nur eine Bestätigung des neuen Wirtschaftsmodus dar, der die Anstrengungen der Staaten mit denen der Unternehmer verband. Das alte Dispositiv der schwerindustriellen Unternehmer, nämlich der Druck auf die Löhne, verschmolz mit einer supranationalen Politik, auf deren Ebene die Profitinteressen einfacher durchzusetzen waren als auf einzelstaatlicher Ebene, denn z.B. der Protektionismus Frankreichs und Italiens (deren starke kommunistische Parteien den jeweiligen Eliten Widerstand gegen die radikale Marktöffnung leisteten) konnte so durch supranationalen Sachzwang auf Linie gebracht werden, zur Not per Kommissionsentscheidung. Dabei ist aus kritischer Perspektive nicht die Aufhebung der protektionistischen Wirtschaftspolitik entscheidend – diese ist ohnehin durch den Weltwirtschaftswissenschaftler Parvus und später Trotzki als tendenziell konservativ und ungünstig für eine soziale Revolution erkannt worden – es geht vielmehr darum, dass die Entscheidungsprozesse im Rahmen der Europäisierung sukzessive von der nationalen Ebene partiell abgekoppelt und auf supranationale Ebene übertragen werden, was eine Errungenschaft der Französischen Revolution, die Volkssouveränität, tendenziell aufhebt.

Die Kontinuität zwischen den beiden Nachkriegszeiten ist frappierend :
1. Das Gewicht der USA-Politik in den deutsch-französischen Beziehungen.
2. Die Abwesenheit eines ernsthaften Europäismus in den nationalen Europapolitiken.
Dieser viel beschworene Europäismus liegt den idealistischen Analysen der europäischen Integration zu Grunde. Dieser ist jedoch nur ein Propagandaprodukt der herrschenden Klassen, um ihnen Anschein einer völkersolidarischen Politik auf alternativlos kapitalistischer Grundlage zu vermitteln. Auch die französische Elite betreibt nur scheinbar das Spiel des Europäismus und simulierte seit 1950 eine europäisch-progressive Attitüde. Dadurch versuchten die französischen Politiker, de Gaulle eingeschlossen, sich die bestmögliche Position in einem von den USA gewünschten und deutsch dominierten Europa zu sichern, ohne ihre Unterwerfung unter das europäistische US-Diktat einzugestehen. Eine materialistisch fundierte Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass die EGKS und die EWG Konstrukte der US-amerikanischen Europapolitik sind - erst das Europäische Währungssystem von Schmidt / Giscard d’Estaing und ihr Resultat, die spätere Währungsunion, ließen die EG zu einem Konkurrenten der USA werden.

Umfangreiche Archivrecherchen ergaben, dass das sekundäre Ziel der europäischen Integration vornehmlich die Ausschaltung des inneren Feinds war, d.h. die Überholung des nationalen Organisationsgrads der Arbeiterschaft, um diese unter immensem Druck auf die Löhne dauerhaft qua vermeintlich alternativlosem Sozialdumping (vgl. Bolkestein-Dienstleistungsrichtlinie) zu schwächen, was unter veränderten Kräfteverhältnissen seit in den 1990ern ideologisch vorbereitet wurde (Globalisierungsobsession) und spätestens 2004 (Osterweiterung) auch materiell durch einen Anschluss eines Gebiets gelang, das selbst auf niedrigem Lohnniveau weitere Reallohneinbußen zur Konsolidierung ihrer Währung im Sinne des europäischen Stabilitätspakts (z.B. Polen) in Kauf nahm.

Die EU : der Verrat der europäischen Eliten an den europäischen Völkern

Die ausschließliche Kompetenz der EU erstreckt sich u.a. auf die Handelspolitik. Pascal Lamy, ehemaliger Handelskommissar und nach 1981 im Kabinett des Finanz- und Wirstchaftsministers Jacques Delors, war der Kopf der katholischen Clique im PS und ab 1985 Kommissionspräsident in Brüssel. Er ist heute nicht zu Unrecht an der Spitze der WTO – er leitete die kürzlich gescheiterte WTO-Sitzung in Peking.

Um die Macht und die Anfälligkeit für Industrielobbys dieser Kommissare aufzuzeigen (in der aktuellen Kommission wurden auch drei Kommissare wegen engen Kontakten zu großen Unternehmen kritisiert), reicht eine Untersuchung von Lamys Karriere: 1985 mit Delors als dessen Kabinettsleiter nach Brüssel in die Kommission eingezogen, ging er neun Jahre später in den Aufsichtsrat des Crédit Lyonnais, eine der größten französischen Banken. 1999 wurde er dessen Generaldirektor und bereitete die Privatisierung der Bank vor mit den daraus folgenden Entlassungen. Im gleichen Jahr ging er - damals Vorsitzender einer Kommission der Vorgängerorganisation des MEDEF (bedeutendster französischer Unternehmerverband) - als Handelskommissar zurück nach Brüssel, wo er die Aufhebung des Verbots des Imports genetisch modifizierter Agrarprodukte einleitete und so die WTO-Freihandelsstandards in die EU einführte. Er war u.a. Mitglied des europäischen Flügels der Rand Cooperation, wichtigster Think Tank des rüstungsindustriellen Komplexes der USA, und des Overseas Development Council, eines in Washington D.C. basierten Think Tanks.

Die ausschließliche Zuständigkeit für damals 15 Staaten in den Händen einer kaum kontrollierten, intransparenten Kommission, das ist nur in einem politischen System möglich, in dem die Exekutive dominiert (ähnlich wie in Frankreich seit 1958, wo die Verfassung de Gaulles ein semi-präsidentielles Regime kreierte, das Mitterrand selbst in seinem Le Coup d’Etat Permanent als «bonapartistisch» bezeichnete).

So schuf die Kommission 1998 einen «transatlantischen Wirtschaftspakt», der großenteils nicht einmal in der herrschenden Presse registriert wurde und der die Liberalisierung und den Austausch zwischen den Märkten weiter vereinfachen soll.

Die Tatsache, dass Frankreich sich nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg der deutschen Hegemonialpolitik unterordnete, bietet der heutigen antiliberalen Linken in Frankreich den Vorteil, dass die dadurch innerhalb der französischen Bourgeoisie entstehenden Interessenwidersprüche die ohnehin fragile V. Französischen Republik unterminieren. Dies führt zusammen mit der traditionell starken kommunistischen Bewegung – die KPF war bis 1962 die stärkste Partei Frankreichs - und ihrer effektiven Gegenöffentlichkeit (zumindest in der geschriebenen Press), die die scheinbare Interessenharmonie zwischen Bourgeoisie und ArbeiterInnen als Klassenantagonismus aufdeckt, zu einer für eine revolutionäre Stimmung günstige Ausgangslage, denn wenn das schlechte Gewissen der Kapitalisten wächst, so drängt es sie in die Defensive – genau diese moralische Offensive der ArbeiterInnen setzt sich seit März 2006 jenseits des Rhein durch.

Indem die EU nicht das tut, was sie sagt (vgl. Agrarsubventionen: anstatt die massiven Subventionen für Exporteure von industriell verarbeiteten Agrarprodukten wie Nestlé zu streichen - wie seit Jahren versprochen -, wurden die Exportsubventionen, die größtenteils direkt an die Agrarindustriekonzerne gehen, als verdeckte Exportförderung weiter gezahlt) wird sie zum Alibi der «konservativen Restauration» (P. Bourdieu), denn es ist nicht mehr die Volkssouveränität, sondern Technokratie, die die Politik über die Köpfe der Völker hinweg im Sinne der europäischen Konzerne gestaltet. Europäische Projekte, ungeachtet ihrer positiven Nebenwirkungen wie dem allgemeinen Diskriminierungsverbot, das auch den emigrierten ArbeiterInnen gegenüber Unternehmern zu Gute kommen kann (z.B. Art. 141 EGV; ausdifferenzierte supranationale Rechtsstaatlichkeit), waren bisher im Allgemeinen Projekte der europäischen Finanz- und Industrieeliten.

Die US-Eliten lernten aus der Krise der 1930er Jahre und suchten ab 1944 (Bretton Woods etc.) die Politik der offenen Tür durchzusetzen. Europa und allen voran das besiegte Deutschland, traditionelles Expansionsziel der US-Kapitalien, sollten dabei eine Krise in den USA verhindern helfen, indem neue Absatzmärkte gefunden würden. Schon Ende der 1940er betrieben die USA Dumping, indem sie ihre Kohle in die westeuropäischen Staaten exportierten und so neue Absatzmärkte eroberten.

Die EU ist zu einem guten Teil aus, wie Marx sagen würde, den «Intrigen der Unternehmer» entstanden, die die besten Wege zum Sieg über die eigene, nationale Arbeiterklasse suchten. Sie haben ihn gefunden in einem dialektisch gesehen widersprüchlichen Europa der Großunternehmer. Ein Europa, dessen Methode der Unternehmer-Arbeitsteilung einen permanenten Druck auf die Löhne bedeutet (vgl. Situation seit Osterweiterung 2004): dieser (oberflächliche) Konsens der europäischen Bourgeoisien in Bezug auf den Kampf gegen die Löhne fördert eine europaweite Sparpolitik, die allein die ArbeiterInnen schädigt, denn jetzt sinken die Reallöhne in Westeuropa und ein Mindestlohn in Deutschland ist nur noch durch eine europäische Revolution denkbar - «Der Widerstand gegen das Europa der Bankiers und gegen die konservative Restauration, die sie uns vorbereiten, kann nur europäisch sein» (Pierre Bourdieu).

 

Tobias Baumann

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