Kategorie: Europa |
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Informationen aus erster Hand: Spanien vor der Explosion? |
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„Spanien vor der Explosion?“, lautete der Titel einer Solidaritäts- und Diskussionsveranstaltung, zu der die Stadtteilgruppe DIE LINKE. Wiesbaden-Westend und die Redaktion Der Funke eingeladen hatten. Aufgrund aktueller Berichte über anhaltende Massenproteste in Spanien, sechs Millionen Arbeitsloser im 40 Millionen-Staat und eine Auswanderungswelle jüngerer Menschen wollten wir uns direkt ein Bild von der Lage in Spanien verschaffen. Über 50 Menschen erschienen zur Veranstaltung und lauschten dem Vortrag von Mateu Castelló, Mitglied der Vereinigten Linken (IU) aus Mallorca. Es war eine der größten öffentlichen Veranstaltungen der Wiesbadener LINKEN seit dem Wahljahr 2009. | |||
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Hier eine kurze Wiedergabe des Vortrags: Der Referent leitete seine Ausführungen mit einem geschichtlichen Rückblick ein und ermöglichte damit ein besseres Verständnis für die heutige Situation. So zeichnete sich die herrschende Klasse in Spanien dadurch aus, dass sich über Jahrhunderte ihre Profite überwiegend aus den Überseekolonien zog, die sie aber im 19 Jahrhundert verlor. Die Industrialisierung fand damals überwiegend in Katalonien und im Baskenland statt, den Regionen am nördlichen Rand des spanischen Staates. Dies und die Unterdrückung der katalanischen und baskischen Sprache und Kultur bis hin zur Franco-Diktatur, die fast vier Jahrzehnte bis Mitte der 1970er Jahre andauerte, erklärt auch, dass die nationale Frage im spanischen Staat ungelöst ist und jetzt unter Krisenbedingungen wieder verstärkt in den Vordergrund tritt. So demonstrierten im September 1,5 Millionen Menschen in Barcelona für ein unabhängiges Katalonien. Seit den 1960er Jahren erlebte Spanien einen starken Aufschwung durch Tourismus und Investitionen internationaler Konzerne. Dies wurde durch eine Abwertung der Peseta und billige Arbeitskräfte gefördert. Nach dem Beitritt in die Europäische Gemeinschaft 1986 erfolgte ein ehrgeiziger Ausbau von Infrastruktur, Schnellstraßen und Autobahnen. Gleichzeitig wurden aber auch viele Staatsbetriebe privatisiert und traditionsreiche Schiffswerften und Bergwerke geschlossen. Als dann die Gewerkschaften bessere Löhne und Arbeitsbedingungen erkämpften, verlagerten manche Konzerne Betriebe in Länder mit niedrigeren Löhnen. Eine durchgreifende Modernisierung der Industrie wie etwa in Deutschland nahm die spanische Kapitalistenklasse nicht vor. Begünstigt durch billige Kredite und die weit verbreitete Tradition von Wohneigentum in Spanien setzte seit den 1990er Jahren ein spekulativer Bauboom ein – begleitet von Skandalen und Enthüllungen über korrupte Kommunalpolitiker und Schmiergelder von Baulöwen. Die Immobilienpreise stiegen in schwindelnde Höhen und vervierfachten sich über zwei Jahrzehnte. Kredite stimulierten die Nachfrage zu Lasten der Zukunft. Denn nach Ausbruch der Banken- und Finanzkrise flossen keine Kredite mehr. Die Menschen konnten ihre Kredite nicht mehr abstottern. Der Staat griff mit hohen Milliardensummen ein, um die Banken zu retten. Damit schnellten die Staatsdefizite in die Höhe. Und die Regierung kannte nur eine Antwort: kürzen und nochmals kürzen. Damit löst sie eine Spirale nach unten aus. Vor dem Ausbruch der Krise gab es eigentlich kein Haushaltsdefizit. Erst mit der Krise brachen die Staatsfinanzen ein. Dabei sind die öffentlichen Schuld nichts anderes als private Schulden in anderer Form. Die Kapitalistenklasse wälzt die Krisenlasten auf die arbeitende Bevölkerung ab. Der Aufruf war klar: Wir müssen uns weigern, die Schulden zu zahlen. Banken und Großkonzerne gehören in öffentliches Eigentum überführt. Deutsche und französische Banken und Konzerne haben bisher massiv von Geschäften mit Spanien profitiert, viel Geld geliehen und eine großen Absatzmarkt gehabt. Wenn nun aber Spanien nicht zahlen kann, dann droht auch der Euro auseinander zu brechen. Spanische Kapitalisten haben kein Vertrauen in ihr eigenes System und betreiben massiv Kapitalflucht. So flossen allein im Monat April 2012 rund 300 Milliarden Euro aus Spanien auf Banken in vermeintlich „sicheren“ Ländern ab. Wir wollen aber nicht zurück zur Peseta, Lira oder Drachme. Wenn in Spanien die Peseta wieder eingeführt würde, so wäre in der ersten Woche eine Abwertung um 30 bis 40 Prozent wahrscheinlich – und wenig später ein Szenario wie in Deutschland im Inflationsjahr 1923. Die spanische Kapitalistenklasse will die Löhne auf nordafrikanisches Niveau senken und erhofft sich davon bessere Exportchancen. In einem von Lohndrückerei und Kürzungen erfassten Europa stellt sich aber die Frage: Wohin soll da noch exportiert werden? Der Niedergang und Fall der schwächeren Euro-Länder löst einen Domino-Effekt aus. Das ist eine internationale Krise des Kapitalismus. Der Kampf der Jugend und arbeitenden Menschen gegen dieses System und für eine sozialistische Gesellschaft ist eng miteinander verbunden und muss auch international sein. Wir müssen eine europaweite starke Linke aufbauen. Die Wichtigkeit des Aufbaus und der Organisierung einer solchen wurde u.a. in der anschließenden Fragerunde thematisiert, bei der Mateu Castelló viele Fragen zu beantworten hatte. Auf die Diskussion folgte der gemütlichere Teil des Abends mit Imbiss, spanischem Rotwein und Arbeiterliedern. Dies war sicherlich nicht unsere letzte Solidaritätsveranstaltung mit der Protestbewegung und den Schwesterparteien in Südeuropa. Aus Portugal erreichte uns ein schriftliches Grußwort von Fabian Figueiredo vom Vorstand der Linkspartei Bloco de Esquerda. Dort ist die Masse der Bevölkerung einem ähnlichen Verarmungsprogramm ausgesetzt wie in Spanien und wehrt sich jetzt auf breiter Front. So gingen am 15. September landesweit eine Million Menschen zu Protestdemonstrationen – und dies bei einer Gesamtbevölkerung von 10 Millionen. Für den 14. November hat die große Gewerkschaft CGTP zu einem Generalstreik aufgerufen. „Lasst uns gemeinsam für ein anderes Europa kämpfen – in Portugal, Spanien, Griechenland und Deutschland. Gemeinsam werden wir siegen“, heißt es in der Grußbotschaft von Fabian Figueiredo. |