Viel mehr markieren sie nur den vorläufigen Höhepunkt in einer Reihe von Ereignissen, die den Interessenwiderspruch zwischen der arbeitenden Klasse und den Besitzenden aufs Klarste zu Tage fördern.
Belgien ist ein Staat, der nicht nur für seine Schokolade berühmt ist. Es ist auch ein Land, das in mehrere Sprachregionen unterteilt ist (Deutsch, Belgisches Niederländisch, Französisch). Die belgische Regierung schwingt in großem Ausmaß die Sparkeule. Schon 2012 begann Brüssel mit Maßnahmen, wie der Erhöhung des Frühverrentungssalters von 50 auf 55 und diesen Winter wurden eine Reihe weiterer Maßnahmen wie eine Rentenreform, die die Erhöhung des Rentenalters von 65 auf 67 vorsieht, sowie weitreichende Einsparungen im öffentlichen Sektor beschlossen. Abgewälzt werden die Einsparungen auf die Angestellten, denen die Löhne um 10% gekürzt werden sollen. "Um die Wirtschaft anzukurbeln", werden zeitgleich Steuergeschenke an Wohlsituierte gemacht. Von einer Maßnahme sind alle Lohnabhängigen Belgiens gleichermaßen betroffen: Die Obrigkeit hat beschlossen, dass die Anpassungen der Löhne an die steigenden Lebenshaltungskosten für ein Jahr ausgesetzt werden sollen. Dies hat bei den BelgierInnen zu Wut und Protesten geführt.
Vermummt an die Gewerkschaftsdemo In Belgien herrscht dabei eine absolut andere Protest- und Streikkultur als hierzulande. Die Bereitschaft zu kämpferischen Aktionen bei Streiks und Arbeitskämpfen ist hoch. Dies zeigte sich als letztes Jahr der Feuerwehr die Materialausgaben gekürzt werden sollten. Auch eine Erhöhung des Rentenalters auf 60 war für die Feuerwehrleute vorgesehen, die bis dahin wegen ihrer schweren körperlichen Arbeit schon mit 58 in Rente gehen konnten. Die Folge war, dass die Brüsseler Feuerwehrleute in den Streik traten. An Verkehrsknotenpunkten in der Innenstadt schichteten sie entweder Reifenberge, die sie in Brand setzten, oder parkten ihre massigen Einsatzfahrzeuge. Die Stadt war lahmgelegt. Einem Teil der protestierenden Feuerwehrleute gelang es, in voller Arbeitsmontur Polizeibarrikaden zu durchdringen und bis vor das Büro des Ministerpräsidenten vorzudringen. Die dortigen Polizeieinheiten sahen sich nun in der Position, selbst im Zuge von Protesten mit Wasser angegriffen zu werden. Erst richteten die Streikenden ihre Löschspritzen auf die Einsatzkräfte, um sie nachher in Unmengen von Löschschaum zu begraben. Dass die Großdemonstration der Gewerkschaftsfront, die am 6.11. in Brüssel stattfand, beachtlich werden würde, war klar. Die immensen Ausmaße erstaunten am Ende aber wohl jedeN. Insgesamt 120.000 Personen demonstrierten in der Hauptstadt gegen die Prekarisierungspläne der Regierung. Um die Masse der Teilnahmewilligen zu transportieren, mussten an diesem Tag zusätzlich Reisebusse aus dem nahen Ausland angemietet werden. Mehrheitlich waren Menschen mit den gelben und orangen Leuchtwesten unterwegs. Im Verlauf der Demonstrationen kam es zu Ausschreitungen. Die Polizei griff mit Tränengas, Wasserwerfern und Knüppeln an. Demonstrierende mit Masken und Tüchern vor dem Mund wehrten sich mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern. Die meisten von ihnen trugen immer noch ihre Gewerkschaftswesten. Antwerpener und Genter Hafenarbeiter durchbrachen gemeinsam mit Metallarbeitern aus dem wallonischen Industriegürtel die Polizeiblockaden und drangen in die Sperrzone in der Innenstadt ein. Sie warfen Absperrgitter um, zündeten Polizeimotorräder an und prügelten sich mit Angehörigen des Polizeiaufgebots. Kraftprobe für die neue Regierung Der Protest vom 6. November steht jedoch nicht für sich allein. Er ist eingebettet in eine Reihe von Arbeitskämpfen, die am 15. Dezember in einem landesweiten Generalstreik mündeten. Das Kabinett von Premierminister Michel ist damit wohl so sehr unter Beschuss, wie kaum eine belgische Regierung der Nachkriegszeit. Dabei stand das Kabinett von Anfang an unter keinem guten Stern. Nachdem 2010 die Regierung wegen des Sprachenstreits auseinandergebrochen war, wurden vom König Neuwahlen ausgerufen. Diesen folgte eine mehr als eineinhalb Jahre lange Zeit der Regierungslosigkeit. Erst nach 540 Tagen gelang es dem Sozialisten Di Rupo eine regierungsfähige Koalition zu bilden. Es handelte sich um die längste Regierungskrise einer Demokratie in der Menschheitsgeschichte. Zum Vergleich: auf Platz 2 dieser unrühmlichen Rangliste befindet sich der Irak mit 249 Tagen. Das Spiel wiederholte sich auch bei den nächsten Wahlen im Mai 2014. Neben den flämischen Separatisten (N-VA), die 20% erhielten, erhielten 5 Parteien 10%. Entsprechend diesem Wahlausgang dauerte auch die Regierungsbildung lange. Dieses Mal waren die Koalitionsverhandlungen nach 135 Tagen abgeschlossen. An die Macht kamen ein Bündnis aus den flämischen Separatisten, den flämischen Christdemokraten (CD&V), den flämischen Liberalen (Open VLD) und den wallonischen Liberalen (MR). Dass in Belgien für die Bildung von Koalitionen so viele PartnerInnen nötig sind, ist darin begründet, dass die Parteienlandschaft so gestaltet ist, dass es traditionell eine relativ strikte Trennung zwischen wallonischen und flämischen Parteien gibt. Das führt zum Umstand, dass es zwei sozialdemokratische Parteien, die flämische sp.a und die wallonische ps gibt. Ebenso gibt es beispielsweise zwei christdemokratische Parteien im Land. Dass in der neuen Regierung jedoch 3 von 4 der beteiligten Parteien flämisch sind, feuerte den schon lange schwelenden Konflikt zwischen den Sprachgruppen weiter an. Dieser Konflikt hatte seinen Anfang in der Abtrennung Belgiens vom vereinigten Königreich der Niederlande 1830 gefunden. Die Oberschicht im industrialisierten Wallonien machte Französisch zur einzigen Verwaltungssprache. Trotz einer starken flämischen Gegenbewegung, die sich des Nationalismus des 19. Jahrhunderts als ideologisches Rüstzeug bediente, sollte es bis in die 1930er Jahre dauern bis es zur offiziellen Zweisprachigkeit kam. Als gewichtigerer Faktor kam aber die Verschiebung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse in Belgien auf. Über lange Zeit dominierten die Stahlreviere Walloniens die belgische Industrie, doch im Verlauf des 20. Jahrhunderts machte Flandern eine enorme ökonomische Entwicklung durch und war letztlich 1966 beim Bundesinlandsprodukt mit dem französisch sprechenden Teil im Süden gleichauf. Der Siegeszug der flämischen Wirtschaft setzte sich fort, so dass die Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mittlerweile frappant sind. So lag 2012 das BIP pro Kopf in Flandern bei 33973 €. In Wallonien waren es im Vergleich gerade einmal 24811 €. Durchschnittlich waren 6.3% der Flamen und 15.8% der Wallonen arbeitslos und zieht man den EU-Kaufkraftindex (der EU-Durchschnitt ist bei 100% festgelegt), dann offenbart sich die wirtschaftliche Kluft zwischen dem flämischen (115) und dem wallonischen (85) Landesteil. Die wirtschaftliche Ungleichheit machten sich flämische Nationalisten zu Nutze, die sich als Zahlmeister der Nation inszenierten und die Separation verlangten. Mit ihren rechtspopulistischen Parolen gelang es Parteien wie der Vlaams Belang zu einem Machtfaktor in der belgischen Politik zu werden. Und die belgische Linke? In Belgien tritt der unversöhnliche Klassenwiderspruch zwischen den Besitzenden und den Ausgebeuteten in aller Deutlichkeit zu Tage. Während die noch junge Regierung, die SteigbügelhalterInnen der Bourgeoise, so beliebt ist, wie Fußpilz, kämpft die arbeitende Klasse militant gegen die Aushöhlung der Errungenschaften der Arbeiterbewegung. Die Situation ist kritisch und der 15. Dezember hat die prekäre Lage für die Regierung weiter verschärft. In dieser Situation stellt sich die Frage nach der marxistischen Perspektive in Belgien. Wird das Kabinett Michel gestürzt, läge es im natürlichen Interesse der beiden sozialdemokratischen Parteien ps und sp.a, an ihre Stelle zu treten. Diese Politik eines "kleineren Übels" liegt jedoch letztlich eindeutig nicht im Interesse derer, die heute auf den Straßen und in den Betrieben den Kampf gegen Ausbeutung führen. Weder sind die SozialdemokratInnen mit ihren je 23 und 13 Sitzen im Abgeordnetenhaus stark genug vertreten, um in einer neuen Regierung ein fortschrittliches Programm gegenüber den bürgerlichen KoalitionspartnerInnen umzusetzen, noch haben sie in der Vergangenheit eine ernstzunehmende Opposition gegen den Raubbau am Besitz der ArbeiterInnen betrieben. Gerade die Kürzungen, die die Feuerwehrleute in Brüssel dazu brachte die Löschspritzen auf die Polizei zu richten, waren von einer Regierung ausgegangen, die von den SozialdemokratInnen geführt worden war. Ein weiterer Player ist die belgische Linkspartei (PDT/PvdA). Die Partei, die in den Siebzigern als maoistische Kleinpartei gegründet worden war, und sich ab 2008 von ihren maoistischen und stalinistischen Altlasten zu befreien begann. Anders als die Linkspartei im nördlichen Nachbar verweigert sich jedoch die Partei einer "Sozialdemokratisierung" und ist immer noch Mitglied internationaler kommunistischer Dachverbände. Mit den Wahlen von 2014 gewann die immer noch kleine Partei zwei Sitze im nationalen Parlament und ist damit immer noch relativ bedeutungslos. Es ist jedoch denkbar, dass es ihr wie der Syriza gelingt, die revolutionäre Stimmung in der Bevölkerung aufzunehmen und an Bedeutung zu gewinnen. Fakt bleibt jedoch, dass die klassenkämpferische Stimmung, die in Belgien herrscht ohne politischen Ausdruck, ohne revolutionäre Führung mit fortschrittlichem, verbindlichem Programm, verpuffen wird.
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