Andere zweifeln daran, ob dies überhaupt wünschenswert ist. Trotzdem besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass die EU in ihrer jetzigen Form – ein Mittelding zwischen einem Freihandelsabkommen und einem vereinigten Bundesstaat – ein Kompromiss ist, der weder befriedigend noch zukunftsfähig ist.
Wolfgang Münchau schreibt in der Financial Times: „Wenn man eine Währungsunion ohne gemeinsame ökonomische Institutionen, eine gemeinsame Steuerpolitik und ein gemeinsames Rechtssystems schafft, wird man sie irgendwann gegen eine Wand fahren. Genauso wie eine Zone ohne Passkontrollen, ohne eine gemeinsame Küstenwache und Grenzkontrollen nicht bestehen bleiben kann. (…) Falls die Union ein demokratischer Bundesstaat wäre, hätten wir diese Diskussion nicht. Es gäbe dann keine Eurokrise und auch keine Flüchtlingskrise. Ein solcher Staat ist momentan aber nicht realisierbar.“
Münchau schlägt vor, die Union solle anstatt eine größere Integration zu erreichen, lieber einen Schritt zurück machen, und zu ihrem früheren Zustand als Zollunion zurückkehren, die aus einer Ansammlung getrennter Märkte, z.B. den der wohlhabenden Staaten um Deutschland, den der Mittelmeerländer und den der osteuropäischen Staaten, besteht. Im Gegenteil dazu argumentieren andere für eine engere Integration, einschließlich einer kompletten Bankenunion mit einer gemeinsamen Einlagensicherung in der gesamten Eurozone. George Soros geht mit seinen Vorschlägen noch weiter, er meint, Deutschland solle eine „wohlwollende Hegemonie“ aufbauen und Europas internes Handelsungleichgewicht durch den Import zusätzlicher Waren aus den europäischen Ländern bereinigen – das vom Export abhängige Deutschland hat allerdings keine Absicht, etwas derartiges zu tun.
Die Frage, ob EU-Mitgliedsstaaten einen engeren Zusammenschluss beabsichtigen, ist auch Bestandteil von David Camerons Verhandlungen über Britanniens Status innerhalb der Union. Er will eine Ausnahmegenehmigung von diesem Ziel erhalten und praktisch sagen „bis hier und nicht weiter“. Den Fehler, den o. g. Kommentatoren alle machen, ist, dass sie annehmen, der Prozess der europäischen Integration oder Desintegration unterliege ausschließlich der EU oder eines einzelnen Mitgliedsstaates. Im Endeffekt ist es jedoch der Weltmarkt, der darüber entscheidet.
Die Geburt des europäischen Projekts
Die EU setzte sich ursprünglich anders zusammen als in der heutigen, uns bekannten Form – sie entstand und entwickelte sich mit dem Ausbau der Weltwirtschaft. Es ist unmöglich den Charakter der EU heute zu verstehen, ohne diese Entwicklung zu berücksichtigen.
Der Zweite Weltkrieg führte zu einer Neuaufteilung der Welt. In dieser neuen Weltordnung, tauchten die USAals oberste imperialistische Macht auf, die den Rest der kapitalistischen Welt militärisch und wirtschaftlich beherrschte. Gleichzeitig war die UdSSR durch den Krieg gestärkt – und nicht, wie von den Imperialisten gehofft, geschwächt worden - und stellte eine existenzielle Bedrohung vor der Haustür des europäischen Kapitalismus dar, das gilt im wahrsten Sinne des Wortes für Deutschland.
Die alten „europäischen Großmächte“ waren andererseits durch den Krieg vollkommen zerschlagen worden. Britannien wurde zu einem Satellitenstaat der USA degradiert und Frankreich war durch die Nazi-Besatzung und die Kriegszerstörungen ausgeblutet worden. Italien, das wirtschaftlich rückständig und durch die Invasion der Alliierten verwüstet war, und die Benelux-Staaten waren in einem ähnlich schlechten Zustand. Deutschland, das besiegt und zerstückelt war, war nicht in der Lage Millionen Menschen mit Unterkünften und Nahrung zu versorgen. Der europäische Kapitalismus war am Rande des Zusammenbruchs.
Mit einem Zusammenschluss unter dem Vorwand, einen möglichen Krieg zu verhindern, bildeten die Gründungsmitglieder Frankreich, die BRD, Italien und die Benelux-Staaten die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl mit dem Pariser Vertrag von 1951 als einen wichtigen Schritt zur Schaffung eines Machtblocks, der in der Lage sein sollte, seine Interessen auf dem Weltmarkt zu schützen.
Die Erklärung von Robert Schuman, dem französischen Außenminister und späteren „Vater Europas“, welche die Grundlage für den Vertrag legte, stellte den Zweck der europäischen Integration klar, indem er feststellte, die Europäische Gemeinschaft solle „mithilfe der gemeinsam erwirtschafteten Möglichkeiten die Verwirklichung einer ihrer wesentlichen Aufgaben anstreben, die Entwicklung des afrikanischen Kontinents". Einige Jahre nach der Ratifizierung des Vertrages, machte sich ein wiedererstarkter französischer Imperialismus daran, diese noble Aufgabe mit dem Völkermord in Algerien und später im Bündnis mit Britannien, mit dem Versuch einer Invasion in Ägypten 1956 umzusetzen. Der Frieden in Europa war, wie immer, der Vorwand für einen Krieg in der so genannten Dritten Welt.
Ein immer engerer Zusammenschluss
Die durch den Krieg verursachten Zerstörungen und der Bevölkerungsrückgang schufen die Grundlage für einen außergewöhnlich langen Aufschwung in den westlichen Ökonomien. Der Wiederaufbau in den Nachkriegsjahren und die Entkolonialisierung beschleunigten die industrielle Entwicklung, nicht zuletzt in Frankreich, wo zwischen 1946 und 1962 20% der Bevölkerung vom Land in die Städte strömten.
In dieser Hochkonjunkturperiode erlebte Europa beinahe eine Vollbeschäftigung, die Geburt des Sozialstaates und das ständige Anwachsen des Lebensstandards. In dieser Phase der steigenden Zuversicht, des wirtschaftlichen Wachstums und des florierenden Weltmarktes wurden die deutlich ambitionierteren Römischen Verträge 1957 unterzeichnet, mit denen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) als Ergänzung zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet wurden. Der Gemeinsame Markt war geboren.
Die Römischen Verträge legten zum ersten Mal die grundlegenden Prinzipien für den freien Waren-, Personen- und Kapitalverkehr sowie das politische Ziel eines „immer engeren Zusammenschlusses“ fest. Aber hinter den hochtrabenden Phrasen des Vertrages lag ein Widerspruch. Da den europäischen Imperialisten durch den Sturz der Kolonialherrschaft und der erdrückenden Dominanz des US-amerikanischen Imperialismus der Weg auf die Weltbühne versperrt war, hatten sie keine andere Wahl, als ihre Bemühungen auf den Gemeinsamen Markt selbst zu konzentrieren. Das europäische Projekt war deshalb im Wesentlichen ein Wettbewerb zwischen den wichtigsten europäischen Mächten, besonders Frankreich und der BRD, um den europäischen Markt. Nachdem Britannien von seinen kontinentalen Konkurrenten ausgebootet worden war, wurde es 1973 Mitglied der EWG, ein Jahr vor der weltweiten Rezession von 1974. Trotz aller Bemühungen des französischen Kapitalismus war die BRD spätestens 1980 zur stärksten europäischen Wirtschaftsmacht geworden.
Der Binnenmarkt erreicht seine Grenzen
Nach der weltweiten Rezession in den 1970ern begann eine neue Ära des Neoliberalismus in der gesamten kapitalistischen Welt. Ganz im Gegensatz zur alten keynesiansichen Doktrin der Nachkriegszeit, war diese Periode durch die „Disziplinierung“ der ArbeiterInnenklasse durch den Druck auf die Löhne und die Rechte der Gewerkschaften, die Privatisierung von Staatsunternehmen und die Deregulierung des Finanzsektors gekennzeichnet. Dann gaben zu Beginn der 1990er der Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa und die deutsche Vereinigung dem Wachstum des europäischen Marktes und des Weltmarktes einen großen Anschub.
Der Vertrag von Maastricht, der 1993 in Kraft trat, mit seinen Konzepten eines “Binnenmarktes” und der „Unionsbürgerschaft“, die Schaffung der Schengen-Zone 1995 und die Gründung der Eurozone 1999, wohl die drei wichtigsten Pfeiler der europäischen politischen Union und der Währungsunion, gingen aus diesen Bedingungen hervor. Zu diesem Zeitpunkt, an dem der Kapitalismus scheinbar einen Boom inmitten eines Profitrausches genoss, fassten viele europäische politische Führer die Möglichkeit der Errichtung einer vereinigten europäischen Föderation, nach dem Vorbild der USA ins Auge. Das europäische Projekt machte mit der EU-Erweiterung von 2004, der größten in der Geschichte der EU, als zehn Staaten (von denen fünf aus dem früheren Ostblock kamen) Mitglied der Union wurden, weitere Eroberungen.
Während dieser aufregenden Zeit der Hochkonjunktur und der Erweiterung wurden aber die Grundlagen für einen mächtigen Zusammenbruch gelegt. In den Jahren nach der Schaffung der Eurozone, behielt der deutsche Kapitalismus, der durch die Vereinigung enorm gestärkt worden war, den europäischen Markt in seinem Würgegriff. Indem schwächere Währungen wie die portugiesische oder griechische (die 2001 Mitglied der Eurozone wurde) an eine einzige Währung gebunden wurden und somit die Möglichkeit der Verbilligung ihrer Exporte durch die Abwertung ihrer Währungen abgeschafft wurde, ermöglichte der Euro der deutschen Industrie jeglichen Wettbewerb auszuhebeln.
Zwischen 2000 und 2011 wuchs die deutsche Industrieproduktion um 19,7%. Im gleichen Zeitraum schrumpften Italiens Industrie um 17,3%, Spanien um 16,4% und Griechenlands sogar um 29,9%. Als Folge wurden viele Mitgliedsstaaten, besonders im Süden Europas, zu reinen Importeuren deutscher Waren und trugen auf diese Weise zum atemberaubenden Ungleichgewicht innerhalb der EU bei, das bis zum heutigen Tage besteht. Dieses Ungleichgewicht wurde, zusammen mit dem ständigen Lohndruck zur Aufrechterhaltung der Wirtschaftlichkeit, durch eine Schuldenorgie gestützt. Haushalte, Banken und sogar Nationalstaaten machten immer mehr Schulden, um den Boom aufrechtzuerhalten.
Als der Vertrag von Lissabon 2007 unterzeichnet wurde, war die EU weit davon entfernt, eine „Familie demokratischer Länder Europas, die sich das Ziel gesetzt hat, zusammen für Frieden und Wohlstand zu wirken“ zu sein. Bereits zu diesem Zeitpunkt begann die EU unter dem Gewicht der aufgeblähten Bürokratie und dem Berg an öffentlichen und privaten Schulden, welche später zum Zusammenbruch von Banken führten und ganze Nationen mit dem Bankrott bedrohten, unter Druck zu geraten. Die europäische Integration auf einer kapitalistischen Basis war schon über ihre Grenzen hinausgegangen und es war nur eine Frage der Zeit, bevor sie beginnen würde sich zu entflechten.
Nach dem Wendepunkt, der Finanzkrise von 2008, verkehrten sich sämtliche Faktoren, welche die Integration vorangebracht hatten, in ihr Gegenteil. Während der Euro es Staaten vorher gestattet hatte, Geld aufgrund der Stärke der deutschen Wirtschaft zu leihen, ist dies jetzt für die „Schuldnerländer“ im Süden Europas, die von der Sparpolitik gerädert werden, zu einer gigantischen Fessel geworden. In der Zwischenzeit ist der freie Personenverkehr innerhalb der EU, der in der Vergangenheit für eine Fülle billiger Arbeitskräfte gesorgt hatte, zu einem Hauptstreitpunkt geworden, da die krisengeschüttelten Staaten jetzt nach einem Sündenbock suchen und jeder von ihnen versucht die eigene Arbeitslosigkeit woanders hin zu exportieren.
Alle Trennungslinien, die durch Europa gehen, sind jetzt offengelegt worden: Nord und Süd, Ost und West, Euro und Nicht-Euro. Sie alle sind letztlich ein Beweis für die Tatsache, dass es unmöglich ist, die Begrenzungen des Nationalstaates auf einer kapitalistischen Grundlage zu überwinden. Im Endeffekt kann man Ökonomien, die sich in verschiedene Richtungen bewegen, nicht zusammenbinden. Wo das vorübergehend erreicht wird, kommt es zu einer Dominanz von einer Ökonomie über die andere, statt zu einer gegenseitigen vorteilhaften Zusammenarbeit – das macht die Idee von kapitalistischen Vereinigten Staaten von Europa zu einer reaktionären Utopie.
Für ein sozialistisches Europa!
Ebenso würde eine Rückkehr zu einer einfacheren Zollunion ohne eine Fiskalunion nicht das grundlegende Problem – die gegenwärtige weltweite kapitalistische Krise – lösen. In und außerhalb der EU ist die Epoche der Reformen und des steigenden Lebensstandards vorbei. Heute sind wir mit Kürzungen, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit konfrontiert, die einhergehen mit hohen menschlichen Kosten. Zwischen 2008 und 2010 stieg die Säuglingssterblichkeit in Griechenland um 43%. Die „europäische Familie“ frisst ihre Kinder, aber es wäre naiv etwas Besseres von den parasitären griechischen Kapitalisten zu erwarten, die Griechenland überhaupt in die Krise geführt haben.
Die Integration der Menschen, Ressourcen und Industrien Europas unter einem demokratischen und rationalen ökonomischen Plan könnte die Austeritätspolitik und deren schreckliche Folgen, die wir in Griechenland und anderswo sehen, beenden. Er würde einen großen Sprung in Richtung der Befreiung von Armut und Ausbeutung inder gesamten Welt darstellen. In diesem Sinne ist die Einheit Europas ein ganz und gar fortschrittliches Ziel, das aber nie unter der Anarchie des Kapitalismus erreicht wird. Die ArbeiterInnen Europas können sich weder auf die Bürokraten in Brüssel verlassen, noch auf die korrupten Führer im eigenen Land, sondern nur auf ihre eigene Stärke. Deshalb stehen wir MarxistInnen weder für den europäischen noch für den britischen, deutschen u.a. Kapitalismus, sondern für ein sozialistisches Deutschland als Teil eines sozialistischen Europas.
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