Frankreichs Jugend protestiert gemeinsam mit den in den Streik eintretenden Gewerkschaften gegen eine Reform, die die Ausbeutung der ArbeiterInnen massiv verschärft. Wie entwickelt sich die Protestbewegung während der EM in Frankreich und welche Perspektive bietet sie?
Beginn der Proteste
Nachdem die französische Regierung eine Reform des Arbeitsgesetzes mit dem Titel ,,Loi El Khomri“ ankündigte, folgten die ersten Proteste von Jugendlichen in Paris. Von Beginn an gibt es heftige Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Staatsgewalt. Seit März diesen Jahres reißen die Proteste gegen die Konterreform nicht ab. Das ,,Loi El Khomri“ bedeutet eine Aufweichung des Kündigungsschutzes, niedrigere Löhne, Verschlechterungen hinsichtlich der arbeitsmedizinischen Versorgung und auch die Möglichkeit, die Betriebsebenee über die Arbeitszeit entscheiden zu lassen. Damit wären Flächentarife untergraben und die Folge eine Liberalisierung und Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen zu Lasten der Beschäftigten. Die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse würde verschärft werden. Auch ist die große Wut unter den Jugendlichen damit zu erklären, dass die Reform die Zukunftsängste weiter steigert.
Die Regierung möchte das Gesetz aufgrund bröckelnder bzw. mangelnder parlamentarischer Mehrheit mit Hilfe von Artikel 49, Absatz 3 der französischen Verfassung ohne Parlamentsabstimmung durchdrücken. Seit der Ankündigung des Gesetzes wird protestiert. Zunächst ging die Protestbewegung von der Jugend aus. Am 9. März 2016 riefen verschiedene Jugendorganisationen zum ersten Aktionstag gegen die geplante Reform auf. Diese fand auch einen Ausdruck in der Bewegung ,,Nuit Debout“, die in ganz Frankreich versucht, nächtliche Diskussionskreise zu organisieren, um wesentliche Fragen der politischen Perspektiven zu diskutieren. Schnell traten Gewerkschaften den Protesten bei. Vor allem die große linke Gewerkschaft CGT mobilisiert bisweilen stark, auch wenn sie seit Anbeginn eine schwierige Rolle spielt. Der CGT ist bewusst, dass eine Streikbewegung mit entsprechender Dynamik schnell auch alte interne Macht- und Kontrollestrukturen in Frage stellen würde.
Die Führung der CGT verhält sie sich teilweise zurückhaltend und reagiert mit Ablehnung auf berechtigte Forderungen nach einem Generalstreik. Die nach rechts driftende, sozialdemokratische und zunehmend angepasste Gewerkschaft CFDT befürwortet ohnehin die Konterreform der Regierung. Dennoch wuchsen die Proteste seit Anbeginn weiter. Ein Schulterschluss zwischen Arbeitern, Schülern und Studenten findet immer öfter statt. In manchen Branchen wurden Betriebe nicht nur bestreikt, sondern auch blockiert. Erste Anzeichen von betrieblicher Arbeiterkontrolle sind sichtbar. Das führte zum Beispiel bei den Erdölraffinerien dazu, dass einige Tankstellen kaum Treibstoff verkaufen konnten. Es offenbart sich ein großes Potenzial, welches es zu nutzen gilt. Nicht nur die bisher gesammelten Erfahrungen im Kampf gegen das Gesetz sind wertvoll, sondern auch zukünftige Entwicklungen in Frankreich und anderen europäischen Staaten.
Wie geht es während der Europameisterschaft weiter?
Die französische Regierung und das Kapital forderten unter Verweis auf eine Wiederherstellung der ,,Nationalen Einheit“ den Abbruch aller Streiks während der EM. Keine Stunde im französischen Radio oder Fernsehen vergeht ohne Forderungen an die Demonstranten, endlich die Proteste ruhen zu lassen und die Polizei nicht weiter zu ,,strapazieren“. Auch die internationale Presse hetzt gegen die streikenden Arbeiter und protestierenden Jugendlichen. Doch dem kam die Protestbewegung nicht nach.
Streikschwerpunkte waren die Pariser Metro und die Eisenbahn SNCF, wo zwei Wochen lang gestreikt wurde. Der Zugverkehr und ein Teil des Nahverkehrs in Frankreich waren massiv eingeschränkt. Ebenso entschloss sich eine große Mehrheit der Mitglieder der Pilotengewerkschaft SNPL für einen viertägigen Arbeitskampf bei Air France zu Beginn der EM. Zwar hat sich die Versorgung mit Treibstoff in Frankreich wieder stabilisiert, dennoch rief die CGT zum erneuten Streik der Arbeiter bei den Raffinerien auf. Die Stimmung an der Basis der Gewerkschaften ist kämpferisch und Anzeichen von Demoralisierung aufgrund eines scheinbaren mangelnden Erfolges, der Nichtrücknahme des geplanten Gesetzes, sind nicht erkennbar. Im Gegenteil, die Forderung nach einem Generalstreik zur völligen Lahmlegung der Wirtschaft werden an der Basis immer lauter.
Die französische Regierung versucht mit massiver Polizeigewalt und dem Einsetzen von Streikbrechern gegen die weiter wachsende Bewegung vorzugehen. In Paris streiken die Arbeiter der Müllabfuhr und Arbeiter haben die zentralen Müllverbrennungsanlagen blockiert, so dass Paris im Müll zu versinken droht. Um dies kurzfristig zu verhindern, setzte die Regierung Streikbrecher ein.Die Bewegung hingegen wächst weiter. Am 14. Juni fand in Paris ein weiterer zentraler Aktionstag mit bis zu einer Million Demonstrierenden und frankreichweit bis zu 2 Millionen Demonstrierenden statt. Dies stellt die bisher größte Massenmobilisierung dar. Neu ist hier, dass sich unter den streikenden Arbeitern Gruppen bildeten, die der Polizeigewalt etwas entgegen zu setzen versuchten. Sie waren mit Schutzausrüstung, Schlagstöcken und Schaufeln teilweise im Stande, die Demo zu schützen.
Es scheint, als würde die Polizeigewalt angesichts der mittlerweile starken Bewegung genau das Gegenteil erreichen. Dies heizt die Proteste an und radikalisiert Teilnehmende weiter, anstatt zu einer Demoralisierung beizutragen. Die CGT kündigte bereits weitere Aktionstage für den 23. und 28. Juni an. Damit liegen weitere zwei geplante Aktionstage noch innerhalb des Zeitraums der Europameisterschaft. Eine stärkere Mobilisierung als am letzten Aktionstag ist nicht auszuschließen. Immerhin sind in Umfragen über 70 Prozent der französischen Bevölkerung gegen die geplante Reform. Täglich finden in Paris Spontandemos statt - es hat sich eine Dynamik entwickelt. Doch diese Dynamik muss genutzt werden. Es stellt sich immer öfter die Frage nach der politischen Perspektive während aber auch nach den Streiks.
Politische Perspektive
Die Regierung macht immer wieder deutlich, dass sie ihre Reform definitiv durchdrücken will. Weiter droht sogar noch eine Verschärfung des Gesetzes. Auf parlamentarischem Wege oder gar durch Massendemonstrationen, die tatsächlich massiven Druck auf die Regierung ausüben, wird sich das Gesetz offenbar nicht stoppen lassen. Wir müssen die Frage stellen, was die Regierung tatsächlich dazu bewegen würde, das Gesetz zurückzunehmen.
Die Wirtschaft Frankreichs müsste komplett lahmgelegt werden. „Drei Tage landesweiter Generalstreik und die Gesetze wären weg“, sagt uns eine Kollegin in Nancy. Es geht darum, der Regierung und Kapitalistenklasse nicht nur den Unmut einer großen Masse an Franzosen zu zeigen, sondern ihr wesentlich zu schaden. Das wäre dann der Fall, wenn das französische Kapital massive Verluste einzufahren hätte. Momentan sind zwar ökonomische Auswirkungen erkennbar, dennoch wären die Profite des Kapitals durch das Gesetz um einiges höher, so dass die aktuelle Bewegung mit ihren Aktionstagen zwar nicht gewünscht, aber für das Kapital noch zu ertragen ist. Es bedarf eines unbefristeten Generalstreiks und einer dauerhaften Ausübung von Arbeiterkontrolle über die Hafenanlagen und Fabriken Frankreichs.
Genau diese Forderungen sind nun immer öfter aus den Reihen der Basismitglieder der Gewerkschaften zu hören. Druck auf die Gewerkschaftsapparate ist entscheidend. Die Führungsebene der Gewerkschaften muss die Dynamik nicht nur verstehen, sondern ihr auch den nötigen Raum geben. Sie darf nicht schon wieder eine bremsende Rolle spielen, sondern sollte das mögliche Potenzial so gut es geht nutzen. Je länger die Gewerkschaftsführungen auf Verhandlungen mit der Regierung setzen, desto mehr besteht die Gefahr, dass aufgrund mangelnder Perspektive viele streikende Arbeiter demoralisiert werden.
Die Proteste sind ein Schritt nach vorne. ,,Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.“ Dieses Zitat von Karl Marx macht deutlich, dass die Proteste und Streiks als Fortschritt im Bewusstseinsprozess der Arbeiter zu verstehen sind. Der wesentliche Fortschritt läge aber im Stopp der Reform. Denn damit hätten die demonstrierenden Arbeiter durch ihren Streik die Erfahrung gemacht, welche Macht sie besitzen. Ohne ihre Arbeitskraft funktioniert absolut nichts im Land. Daraus entspringt natürlich immer die Frage, wie es mit der Streikbewegung weitergehen soll.
Das ist natürlich davon abhängig, wie sich die allgemeinen Proteste weiter entwickeln. Die enorme Wut muss in fortschrittliche Bahnen kanalisiert werden und artikulieren, dass die geplante Reform ein Produkt des Kapitalismus ist. Keine einzige erkämpfte Sozialreform ist im kapitalistischen System jemals von Dauer. Im Gegenteil: Um die Profite des Kapitals aufrecht zu erhalten und zu erhöhen, hat der Kapitalismus die Tendenz, das Lebensniveau der Arbeiter unaufhörlich zu senken. Dementsprechend muss es Aufgabe der revolutionären Kräfte in Frankreich sein, den Kampf zu bündeln und auf eine andere Ebene zu stellen. Nur dann kann das Potenzial nicht verloren gehen. Es wird abzuwarten sein, welche Eigendynamik zukünftig spürbar sein wird.
Die Spitzen der deutschen Gewerkschaften äußern sich faktisch gar nicht zu den derzeitigen Arbeitskämpfen in Frankreich. Lediglich vereinzelt zeigt man sich solidarisch. Es ist nicht unsere Aufgabe, ausschließlich durch schriftliche Solidaritätserklärungen die Streikenden in Frankreich zu unterstützten, sondern auch darüber hinaus mittels Solidaritätsbesuchen und auch durch Spenden unsere praktische Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Der Kampf gegen diese Reform muss in Deutschland politisch thematisiert werden, denn schließlich geht es auch um die Einführung der Agenda 2010, die seit über zehn Jahren in Deutschland millionenhaft Armutslöhne und prekäre Arbeitsbedingungen gebracht hat. ArbeiterInnen haben unabhängig von ihrer Nationalität die gleichen materiellen Interessen. Auch die Kapitalistenklasse verfolgt unabhängig von ihrer Nationalität die gleichen Ziele. Daher bedarf es einer weltweiten Vereinigung der arbeitenden Klasse zum Sturz der Kapitalistenklasse. Für uns steht jedenfalls fest: Die französische ArbeiterInnenklasse ist unser Europameister. Macht weiter! Lasst uns von ihnen lernen.
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