Das Ergebnis des Referendums war ein vernichtendes Misstrauensvotum gegenüber dem Establishment. Es verursachte eine Erschütterung auf den Finanzmärkten, die letzte Nacht noch sicher waren, dass die Briten für einen Verbleib stimmen würden. Die Befürworter des Austritts gewannen mit einem Abstand von 52% zu 48%. Dies sind etwa 1,2 Millionen Stimmen mehr als bei den Befürwortern des Verbleibs. In England und Wales wurde stark zugunsten des Austritts gestimmt, allerdings hat sich die schottische Bevölkerung massiv für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. Die Wahlbeteiligung war allgemein hoch: in Schottland betrug sie 67%, in Wales 72% und in England 73%.
Wieder einmal stellten sich die Meinungsumfragen als falsch heraus. Bis zur letzten Minute wurde ein knapper Sieg der Befürworter eines Verbleibs vorhergesagt. Die Meinungsforscher lagen mit ihren Prognosen fürchterlich falsch, so wie sie es bereits bei den Unterhauswahlen des letzten Jahres taten. Der Grund für diesen Misserfolg besteht in der Unfähigkeit der Meinungsforscher, die tiefe Unzufriedenheit in der Gesellschaft zu erfassen.
Die herrschende Klasse und ihre politischen Repräsentanten sind im Zustand des Schocks. Sie haben kein Verständnis für die Realität der Mehrheit des britischen Volkes. Dasselbe fehlende Verständnis wurde durch das vernunftwidrige Verhalten des Aktienmarkts am Vorabend der Wahl gezeigt. In den 48 Stunden vor dem Referendum boomten die Aktienmärkte und der Pfund erreichte einen neuen Höchststand mit einem Wechselkurs von 1,5 zum Dollar.
Doch die Nachrichten über das Ergebnis des Referendums sorgten für einem Einbruch an den Aktienmärkten. Der Pfund fiel in ein Tief und erreichte seinen niedrigsten Stand seit 1985. Das sind Frühwarnsignale der Rezession, welche in naher Zukunft die britische Wirtschaft treffen wird und auch Erschütterungen in ganz Europa und dem Rest der Welt hervorrufen werden. Die politischen Nachwirkungen dieses Schockergebnisses waren sofort spürbar. Der politisch nun stark geschwächte David Cameron gab bekannt, dass er im Oktober als Premierminister zurücktreten werde.
Der rechte, reformistische Flügel der Anhänger von Tony Blair nimmt nach wie vor wichtige Position in der Labour Party ein und wurde durch das Ergebnis des Referendums ebenso überrascht. Diese de facto Konservativen in der Labour Party, welche begeistert für das Europa der Bankiers und Kapitalisten geworben haben, waren völlig überrascht als bedeutende Schichten der Arbeiterklasse, einschließlich vieler traditioneller Stammwähler der Labour Party, ihnen einen Schlag ins Gesicht verpassten.
Wieso?
Die Menschen, die für den Austritt stimmten, hatten viele verschiedene Gründe – manche davon sind progressiv und manche reaktionär. Die Wut von früheren industriellen und Bergbau-Gemeinden im Norden, welche in den letzten Jahren zu einem wirtschaftlichen Niedergang, einer erhöhten Arbeitslosigkeit, Marginalisierung und Armut verurteilt worden, war offensichtlich. Solche Gemeinden fühlen sich entfremdet von einer entfernten politischen Klasse, welche von Westminster aus über sie herrscht, und noch mehr entfremdet von einer weit entfernten Bürokratie, die in Brüssel über sie herrscht, welche zugleich nichts für sie getan hat.
Als die Befürworter des Verbleibs in der EU gepredigt haben, man würde angeblich durch die EU immer reicher werden, haben große Schichten der lohnabhängigen Bevölkerung bloß ihre Schultern gezuckt. Sie haben gesehen, dass die Reichen immer reicher wurden, während ihre Familien weiter verarmten. Die Vorteile der Europäischen Union – dem Club der Reichen – existieren für einige, aber eben nicht für viele. Dies hat zu einem wachsenden Sinn der Ungerechtigkeit geführt, welches widerum ein Gefühl der Wut und der Entrüstung gegen das Establishment geschaffen hat, deren Ergebnis sich in der Wahl vom 23. Juni manifestierte.
Das Ergebnis offenbart eine starke Stimmung der Unzufriedenheit in der Gesellschaft. Es zeigt auch, dass die herrschende Klasse keinerlei Bezug mehr zu den Gefühlen und Stimmungen von gewöhnlichen Menschen hat. Das ist ein internationales Phänomen. Dies wurde durch das schottische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2014, die spanischen Parlamentswahlen im Dezember 2015, den Aufstieg von SYRIZA in Griechenland sowie PODEMOS in Spanien, der riesigen Unterstützung für Bernie Sanders in den demokratischen Vorwahlen und - auf eine verzerrte Weise - sogar der Aufstieg von Donald Trump in den USA verdeutlicht.
Das Argument der Befürworter des Verbleibs beinhaltet, dass die Mitgliedschaft der EU Wohlstand und höhere Lebensstandards für alle bedeute. Dies ist ein leeres Versprechen für viele Menschen in Großbritannien, die von niedrigen Löhnen leben. Für diese Menschen war das EU-Versprechen des Wohlstands ein kompletter Schwindel und Betrug.
Für die Nutznießer der kapitalistischen Krisen hört sich die Nachricht der Befürworter des Verbleibs wie die eines Mittelstandberufspolitikers aus London an. Es ähnelt einer Stimme von Menschen, die auf einem anderen Planeten leben und dabei eine Sprache sprechen, die für gewöhnliche Menschen unverständlich ist. Die Tatsache, dass Abgeordnete der Labour Party - welche überwiegend zum mittelständischen, reformistischen, rechten Flügel um Tony Blair zählen - dies schockierend finden, zeigt wie wenig sie die reale Situation Großbritanniens verstehen.
Und diese Menschen denken, dass sie große Realisten seien! Dagegen sind die Vertreter der Rechten selbstverständlich euphorisch. Die Referendumskampagne hat bereits Wirkung gezeigt und den Schwerpunkt der britischen Politik nach rechts verlagert, wenn auch nur zeitweilig. Auch wenn sie ihr Ziel nicht erreicht haben, wird der thatcheristische Flügel versuchen, sein reaktionäres Programm innerhalb der Parteiführung der Tories durch zu drücken.
Nigel Farage von der UKIP, der am Abend des 23. Juni noch dachte, dass sie verloren hätten, meinte: „Wagen Sie zu träumen, dass die Morgendämmerung auf ein unabhängiges Vereinigtes Königreich scheint.“ Der Traum von Farage wird sich bald als ein Albtraum für das britische Volk herausstellen. Kaum nachdem er gesprochen hatte, begannen sich dunkle Wolken über die noch strahlende UKIP zusammen zu ziehen.
Die Krise der Tories
Wen die Götter zu vernichten wünschen, den machen sie zuerst wahnsinnig. Diese Grabschrift könnte man momentan David Cameron und weiteren führenden Personen der britischen Conservative Party (Tories) anhängen. Jahrzehnte schmählicher Negation der Politik und Wirtschaft haben das Vereinigte Königreich zu einer zweitrangigen Macht vor der Küste Kontinentaleuropas gemacht. Und diese bittere Wahrheit wurde genauso wenig vom rechten Flügel der Conservative Party akzeptiert, welcher dennoch die Wiederherstellung der “Guten alten Zeiten” und des Ruhms Britanniens anstrebt. Die Worte Boris Johnsons waren, dass ab sofort der 23. Juni 2016 “Großbritanniens Unabhängigkeitstag” sein würde.
Dies allein beweist schon, wie weit die Tories von der Realität entfernt sind. Nun wird die Realität ihnen eine verdammt harsche Lektion erteilen. Die heutige herrschende Klasse in Britannien (und ihre politischen Vertreter) jedoch, lässt sich nicht mehr mit der einst von Trotzki beschriebenen weitsichtigen herrschenden Klasse Großbritanniens vergleichen. Die heutige ist nur noch ignorant, dumm und kurzsichtig. Sie ist in dieser Hinsicht zugleich ein sehr ehrliches Spiegelbild der Banker und Kapitalisten, die nicht einmal mehr weiter als über das Ende ihrer eigenen Nasen hinaus sehen können und an einer Spekulationssucht leiden. Die britische herrschende Klasse, und nicht Brüssel, regiert heute über Britannien und wird es auch morgen weiterhin tun.
Der Spitzen der Conservative Party um David Cameron sind direkte Vertreter der Bourgeoisie. Genauso wie seine Freunde an der Börse, denn beide Seiten scheinen eine Sucht fürs Zocken entwickelt zu haben. Doch während diese mit Aktien spekulieren, spekuliert Cameron mit dem Wohlergehen ganzer Nationen. Er wagte bereits im September 2014 ein sehr riskantes Glücksspiel mit dem schottischen Referendum und gewann dieses nur knapp. Und jetzt hatte er noch ein größeres gewagt - und zwar um die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU - und dieses verlor er auch noch! Die daraus folgenden Konsequenzen für das Vereinigte Königreich und die Partei der Tories werden unberechenbar sein.
Das erste Opfer der daraus resultierenden Folgerungen wird Cameron selbst sein. So wie die edlen Römer der Antike hat sich Cameron in sein Schwert gestürzt als Wiedergutmachung seiner Sünden. Der gedemütigte Tory-Chef gab am Freitag um 08:15 Uhr ein Statement in der Downing Street ab, während zeitgleich der FTSE 100 um 500 Punkte sank, der größte Absturz in seiner Geschichte. In seiner Abschiedsrede sagte er: "Ich habe alles in meiner Macht getan und werde weiterhin als Premierminister das Schiff in den kommenden Wochen und Monaten auf Kurs halten. Aber ich glaube nicht, dass es richtig von mir wäre der Kapitän unseres Landes zu sein, der es zu seinem nächsten Ziel steuert."
Die Risse bei den Tories
Die führenden Kader der Brexit-Kampagne sind allesamt höchst reaktionär. Bestenfalls repräsentieren sie das traditionelle rechte Kleinbürgertum der Tories. Und dieses Kleinbürgertum repräsentiert die Ansichten der Tory-Basis – kleine Ladenbesitzer und Geschäftsleute, Kriegsveteranen und Berufssoldaten, Grundbesitzern, Immobilienmakler und andere Reaktionäre. Diese Schicht hielt sich in der Regel gezügelt unter der Spitze der Tories. Und dieses chauvinistische Gesindel wurde erst von Margaret Thatcher entfesselt, die aus dieser Schicht kam und aufstieg. So wie es der rechten Führungsspitze der Labour-Parlamentsfraktion an Nähe zu Arbeiterklasse mangelt, so ist auch die Conservative-Parlamentsfraktion von der Tory-Basis abgehoben, denn ihre Basis setzt sich aus ganz anderen Klassen, Schichten und Interessen zusammen.
Die Kader der Tories handeln im Interesse der großen Banken, der Monopole, der City of London (Finanzplatz) und schauen dabei mit Verachtung auf den rechten Flügel, der sich in den Kreisverbänden der Partei sammelt. Dies wurde von politischen Künstlern wie Michael Gove und Boris Johnson geschickt ausgenutzt. Menschen wie Gove, der überzeugte Thatcherist und EU-Skeptiker, sind mit ihren eingefleischten rechten Grundsätzen ein getreues Abbild der Meinungen der Basis.
Johnson und Gove hatten immer wieder beteuert, dass sie keine Ambitionen hätten, Cameron als Premierminister zu ersetzen. Doch das nimmt ihnen niemand ab. Nach einer intensiven, bitteren und personalisierten Kampagne wird die Uneinigkeit bleiben - wenn nicht sogar sich verschärfen. Ab einem bestimmten Punkt wird eine Spaltung innerhalb der Partei für viele eine immer attraktivere Option werden.
Von Anfang an wurde die Referendumskampagne durch ihren scharfen Ton gezeichnet. Persönliche Angriffe wurden zur Norm, wobei beide Seiten der Tory-Führung mit Beleidigungen um sich schleuderten und sich öffentlich dementsprechend beschuldigten. Diese gegenseitigen Angriffe zerrten einen Riss in die Tory-Partei, welcher nicht leicht wieder zu heilen sein wird.
Die Conservative Party ist nun klar zweigeteilt. Einerseits gibt es die sogenannten „progressiven“ Tories, die durch Cameron und Osborne vertreten werden. Gegen sie eingestellt sind die Thatcheristen aus dem rechten Flügel der Tories. Sie werden von den Tory-Aktivisten stark unterstützt. Unter letztere fallen Befürworter der freien Marktwirtschaft wie Michael Gove und Iain Duncan Smith. Beide wurden vom ehemaligen Bürgermeister Londons Boris Johnson unterstützt. Der letztgenannte zählt zu den Favoriten im Rennen um das Amt des neuen Parteichefs der Tories.
Boris Johnson
Boris Johnson ist ein extrovertierter, aufmerksamskeitssüchtiger Egoist und ehemaliger Schüler des Eton College, ein Mann mit großen Ambitionen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er sich als Nachfolger Camerons darstellt. Angefangen als Bürgermeister von London, manövrierte er sich in eine führende Position in der Brexit-Kampagne, die er offenbar als Sprungbrett zur Downing Street Nummer 10, dem Amtssitz des Premierministers, ansah. Johnsons völlige Prinzipienlosigkeit wurde in einem Artikel von Michael Cockerell in The Guardian am Mittwoch, dem 22. Juni dargestellt, wo wir folgendes lesen:
"(…) Johnson fuhr zu seinem Anwesen in Oxfordshire [im Februar], um sich zu entscheiden. Er sollte seine gut bezahlte Kolumne für den Daily Telegraph schreiben. Er schrieb zwei Artikel – einen für den Fall, dass der Status quo erhalten bliebe, einen anderen für den Brexit. Mir wurde von jemandem, der die beiden Entwürfe sah, erzählt, dass jener für den Fall, dass das UK in der EU bleiben sollte, überzeugender war. Als ich das auf der Wahlkampagne zu Johnson sagte, schnaufte er und sagte: „Ich kenne ihre Quelle nicht, aber es ist wahr, dass ich zwei Artikel geschrieben habe. Und der zweite erklärte, dass es, unabhängig von meinen Einwänden gegen die EU, um meine Partei und den Premierminister zu unterstützen besser wäre, drinnen zu bleiben. Und am Ende dachte ich, das ist kein Grund der gut genug ist.“
Boris Johnson kennt nur ein Prinzip, und das ist die Karriere von Boris Johnson. Er kletterte auf den Euroskeptiker-Zug als ein Mittel, sich bei der Tory-Basis und dem euroskeptischen Flügel der Fraktion einzuschleimen. Diese Taktik scheint recht gut funktioniert zu haben. Stunden bevor das Ergebnis bekannt gegeben wurde, unterzeichneten prominente Tory-Führer der Out-Kampagne einen Brief an David Cameron in dem sie ihn baten, Premierminister zu bleiben. Dies war eine berechnete Taktik, entworfen, um sich in einem günstigen Licht als treue Anhänger der Parteiführer zu präsentieren. Sie ähnelt der Loyalität, die Brutus seinem Freund Julius Caesar entgegenbrachte, bevor er diesen mit einem Dolch erstach.
Johnson hat in dieser Kampagne bereits sein Ziel erreicht, nämlich die Gunst des rechten Flügels der Tory-Partei für sich zu gewinnen und das bisherige Amt David Camerons zu übernehmen, wenn dieser schließlich seine Position als Parteichef im Oktober abgeben wird. Von diesem Standpunkt aus betrachtet kostete eine kleine Geste angeblicher Treue zu Cameron ihn nichts und wird ihm weitere Punkte in der Führung der Tory-Partei einbringen.
Nigel Farage
Auf der extrem rechten Seite der Brexit-Befürworter steht der UKIP-Chef Nigel Farage, der seit Jahren versucht, seine fremdenfeindliche, anti-europäische und Anti-Immigrationspolitik populär zu machen. Bis vor kurzer Zeit hielten alle etablierten Politiker Abstand zu ihm. Aber die Referendumskampagne hat ihn in den Mittelpunkt der britischen Politik befördert. Das hat ernstzunehmende Auswirkungen für die Zukunft.
Etwas mehr als eine Woche vor dem Referendum enthüllt Farage stolz ein riesiges Plakat, welches eine große Zahl von Einwanderern und Asylbewerbern darstellt - alle mit braunen und schwarzen Gesichtern. Darauf steht: „breaking point“ ("Bruchstelle"). Diese kaum verhüllte rassistische Demagogie war ein plumper Versuch, ArbeiterInnen von den wirklichen Ursachen der Arbeitslosigkeit und der Immobilienkrise abzulenken. Ihr habt keine Jobs? Die Einwanderer sind schuld! Ihr habt keine Wohnungen? Die Einwanderer sind schuld! Das Gesundheitswesen ist in der Krise? Die Einwanderer sind schuld!
Hier haben wir den gesamten Inhalt der Brexit-Kampagne. Alle anderen Faktoren – Souveränität , Demokratie, ein Ende der Einmischung von Brüssel – waren nur Nebenaspekte dieser hauptsächlich reaktionären Botschaft. Als er nach diesem Plakat gefragt wurde, sagte Michael Gove (Politiker der Konservativen Partei und seit 2015 Lordkanzler und Justizminister): "Als ich das sah, schauderte mir."
Aber wie ein TV-Interviewer ihm gegenüber schon äußerte, ist ein Schaudern eine rein persönliche Reaktion, der kein Handeln in Form einer öffentlichen Verurteilung folgte. Dieser kleine Vorfall zeigt sehr treffend die Beziehung zwischen Menschen wie Gove und Farage. Es ist natürlich nichts Neues an der giftigen, rassistischen Botschaft, die UKIP verbreitet. Neu ist allerdings die Art und Weise, in der dieses Gift - das bisher von den etablierten Parteien als unakzeptabel angesehen wurde - nun salonfähig wird. Eine giftige Atmosphäre breitet sich in der britischen Politik aus.
Der Mechanismus, mit dem fremdenfeindliche, einwanderungsfeindliche und rassistische Ansichten salonfähig gemacht werden, funktioniert folgender Maßen: Nigel Farage vertritt und verbreitet diese Ansichten in einer mehr oder weniger offenen Art und Weise, welche offenem Rassismus sehr nahe kommen, allerdings subtiler und versteckter als die British National Party und andere offen faschistische Gruppierungen. Johnson und Gove können Farages fremdenfeindliche Ansichten nicht offen unterstützen, nähern sich ihm aber allmählich an und wiederholen seine Aussagen auf unterschwelliger Ebene, während sie öffentlich gegen seine „Exzesse“ protestieren.
In einem Interview auf Channel 4 News, wurde Farage gefragt, was er davon halte, dass Abgeordnete der Konservativen Partei wie Michael Gove und Boris Johnson, die ihm zuvor verachtend gegenüber standen, jetzt seine Anti-Immigrationsbotschaft wiederholen. Der UKIP-Chef antwortete, dies mache ihn sehr glücklich. Als er über die Gerüchte gefragt wurde, laut denen Boris Johnson bereit sei, ihm einen Posten in einer zukünftigen Regierung anzubieten, bestritt Farage von einem solchen Vorschlag zu wissen. Aber es ist klar, dass solche Vorschläge hinter den Kulissen diskutiert werden.
Was nun?
Der Sieg des Brexit sollte den Austritt aus der EU zur Folge haben, sobald Artikel 50 des Lissaboner Vertrages in Kraft tritt. Aber das ist Neuland. So etwas hat nie zuvor stattgefunden und war in der Tat nie beabsichtigt. Dieser Prozess der Trennung wird lang und kompliziert. So kommt auf uns eine mindestens zwei Jahre dauernde Verhandlungsphase bezüglich dieser „Scheidung“ zu. Aber wie allseits bekannt, sind Scheidungen meist sehr kontroverse, enttäuschende und bittere Erfahrungen.
Ironischer Weise sagen Unterstützer des Austritts, dass dieser nicht sofort erfolgen muss. Sie würden es bevorzugen, dass das Vereinigte Königreich zu den Parlamentswahlen, die für den Mai 2020 angesetzt sind, austritt. Jedoch liegt die Entscheidungsgewalt darüber nicht in ihren Händen. Generell war das Anti-EU-Lager sehr optimistisch mit seinen Vorstellungen von dem was passieren würde, wenn die Briten für den Austritt stimmen würden. Nun werden wir die harte Realität für Großbritannien als EU-Austrittskandidaten erleben.
Die Reaktionen der anderen europäischen Staats- und Regierungschefs zur Entscheidung Großbritanniens die EU zu verlassen sind Schocks, Ärger und Groll. Die Vorstellung, Britannien könne nach dem Austritt freundschaftliche und kooperative Beziehungen zu den EU-Staaten haben, ist reine Utopie. Der Punkt ist, dass Angela Merkel und die anderen EU-Staats- und Regierungschefs Großbritannien keine Gefallen tun können, selbst wenn sie wollten. Sie werden das auch nicht tun.
Des weiteren gibt es nun mehr und mehr Berichte über einen generellen Anstieg einer Euro-skeptischen Haltung überall in der europäischen Bevölkerung. Umfragen zeigen, dass in Frankreich mehr Menschen für einen EU-Austritt sind, als in Großbritannien. Marine Le Pen fordert ein Referendum. Andere Euro-skeptischen Parteien werden es ihr gleich tun. Das könnte zum ultimativen Zusammenbruch der EU führen.
Wenn Brüssel Großbritannien nun einen einfachen Austritt ermöglicht, wird das andere ermutigen seinem Beispiel zu folgen. Die herrschende Klasse Großbritanniens wird bald feststellen, dass sie draußen in der Kälte steht. Und die Arbeiterklasse und die Armen werden den eisigen Wind mehr zu spüren bekommen als alle anderen. Die Prognosen des Pro-EU-Lagers über eine schwere Wirtschaftskrise, die im Falle eines Austritts auf das Vereinigte Königreich zukomme, stützen sich jedenfalls auf Fakten. Eine Krise ist in Großbritannien im Anmarsch und wird die Arbeiterklasse sehr hart treffen.
Darüber hinaus wird man bald sehen, dass die Versprechen von Johnson und anderen, die Briten könnten sich durch einen EU-Austritt wieder „die Kontrolle über ihr Land zurückholen“ haltlos sind. Die Verhandlungen werden zeigen, ob das Vereinigte Königreich Teil des europäischen Marktes sein kann ohne in der EU zu sein, so wie es derzeit in Norwegen der Fall ist. Jedoch würde das bedeuten, dass das Vereinigte Königreich die Freizügigkeit von Arbeitskräften anerkennen muss.
Andere Optionen wären ein Freihandelsabkommen nach kanadischem Vorbild, ein bilaterales Abkommen nach schweizerischem Vorbild oder das Beschränken auf die grundlegenden Handelsbedingungen der Welthandelsorganisation. Aber jede dieser Option setzt lange und komplizierte Verhandlungen voraus, die von Arbeitslosigkeit und fallenden Lebensstandards begleitet werden.
Die Pro-Brexit Seite hat bereits signalisiert, dass sie eine kurzfristige Finanzkrise erwartet. Boris Johnson versucht, die Ängste der Menschen mit dem Hinweis zu zerstreuen, dass Wechselkursschwankungen des Pfundes „natürlich“ seien. Doch alle Zeichen stehen auf Talfahrt. Und der Spekulant und Milliardär George Soros warnt, dass die Auswirkungen größer sein würden als beim Absturz von 1992.
Diese Warnungen haben sich schon zum Teil bewahrheitet. Der Aktienindex FTSE 100 verlor fast 500 Punkte innerhalb von Minuten nach seiner Eröffnung am Freitagmorgen, der DAX fiel um 7%. Dieser Sturz des britischen Aktienkurses vernichtete sofort 124 Milliarden Pfund der 100 größten britischen Unternehmen. Dieser Einbruch ist einer der schwersten in der Geschichte des Index – er ist eine Warnung hinsichtlich dessen was noch kommen wird.
Die britische Wirtschaft wird schrumpfen. Die Investitionen der Unternehmen fallen, ebenso wie Immobilienpreise und das Pfund. Das wird dazu führen, dass eingeführte Waren bedeutend teurer werden, die Preise werden steigen. Mit anderen Worten: Die Arbeiterklasse Großbritanniens wurde von den Vertretern der Brexit-Beführworter getäuscht, genau so wie sie von den Anhängern des Pro-EU-Lagers getäuscht worden wäre. In beiden Fällen wird die herrschende Klasse sie für die Krise ihres Systems zahlen lassen.
Erschütterungen und Auswirkungen für Schottland
Das Ergebnis dieses Referendums hat enorme Auswirkungen auf die Zukunft Schottlands. Es verstärkt die Trennung Schottlands vom Rest des Vereinigten Königreiches. Schottland hatte im Interesse des Vereinigten Königreiches mit 62 % zu 38 % für den Verbleib in der EU gestimmt - alle 32 Verwaltungsbezirke unterstützten dies. Die ,,Scotland Stronger In Europe“-Kampagne zeigte ein Ausmaß einer Mehrheit, die außergewöhnlich war.
Aber dieses Ergebnis wirft mehr Fragen auf als es Antworten gibt. Das Problem ist, dass das Vereinigte Königreich als Ganzes für den Austritt aus der EU gestimmt hat – in der Erwartung, dass Schottland die EU entgegen seinem Willen verlassen muss. Die schottische Außenministerin Fiona Hyslop sagte „Alle Möglichkeiten wurden in Betracht gezogen damit die Interessen Schottlands geschützt werden“ und warnte, dass es Konsequenzen gäbe, sofern das Vereinigte Königreich eine Entscheidung gegen den Willen der schottischen Bevölkerung treffe.
Die erste Ministerin Nicola Sturgeon sagte, dass Schottland eine starke und deutliche Entscheidung des Verbleibs in der EU geliefert hätte. Sturgeon sagte, dass die Entscheidung klar gemacht hätte, dass die schottische Bevölkerung ihre Zukunft als Teil der Europäischen Union sehe. Sie weist darauf hin, dass das Anstimmungsergebnis nun ein neues Referendum über die schottische Unabhängigkeit erfordere. Ihr Vorgänger, Alex Salmond, verlieh dem noch mehr Nachdruck und sagt, er glaube, nun solle ein zweites Unabhängigkeitsreferendum stattfinden.
Salmond sagte dem BBC: "Das bedeutet, dass Nicola Sturgeon mit dem Manifest, welches dem schottischen Parlament einräumt, ein zweites Referendum über die schottische Unabhängigkeit stattfinden zu lassen, sofern eine wesentliche Veränderung der Umstände stattfindet, wie wenn Schottland entgegen dem Willen der schottischen Bevölkerung aus der Europäischen Union herausgeworfen werden würde, voranschreiten sollte. Da dies nun geschehen ist, bin ich mir sicher, dass sie dies ankündigen wird.“ So hat Cameron mit seinem rücksichtslosen Zockerspiel erneut die Gefahr heraufbeschworen, dass das Vereinigte Königreich zum ,,Little England“ wird.
Reaktionäre Folgen
Der Sieg des Brexit bedeutet keine Stärkung revolutionärer oder linksgerichteter Kräfte, wie einige realitätsferne Menschen und Gruppierungen vermuten. Im Gegenteil ist es ein Sieg der reaktionären Kräfte, wenn auch nur vorübergehend, nicht nur in Großbritannien sondern europaweit. Diejenigen, die diese Entwicklung feiern, sind Marine Le Pen, die Alternative für Deutschland und andere reaktionäre und chauvinistische Kräfte. Marine Le Pen, die Vorsitzende der Front National, forderte ein Referendum in Frankreich, wie auch rechtspopulistische Parteien in den Niederlanden und anderen Ländern. In ihrem Versuch das Argument zu beantworten, dass der Brexit zu einem ökonomischen Desaster führe, wurde mit Propaganda gegen Einwanderung reagiert. Die Stimmung wurde von Tag zu Tag immer hässlicher und giftiger. Es gibt keinen Zweifel, dass dies eine Rolle bei der jüngsten Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox gespielt hat.
Die Anti-Einwanderungs-Demagogie von Nigel Farage enthält eine explizite rassistische und fremdenfeindliche Botschaft. Trotz seiner ablehnenden Sichtweisen zur Einwanderung ist er zwar kein Faschist, aber Wegbereiter der faschistischen Kräfte. Momentan wäre es völlig falsch, die Stärke und Bedeutung der faschistischen Organisationen in Großbritannien zu überschätzen, welche in der Gegenwart auf eine völlig unbedeutende Größe reduziert wurden, aber dennoch virulent sind und im rassistischen Ton der Anti-Einwanderungslobby gute Bedingungen für ihr eigenes Wachstum vorfinden.
Die Konsequenzen für Labour
Wie erwartet nutzen die rechten Blair-Anhänger in der Labour Party nun die „Out“-Stimmen, um erneut eine Kampagne gegen den Labour-Chef Jeremy Corbyn zu starten. ParlamentarierInnen aus ihren Reihen behaupten, dass Corbyns Bemühungen, Britannien in der EU zu halten, „zu wenig begeistert“ gewesen seien. Könnten sie ihm die Schuld für schlechtes Wetter in die Schuhe schieben, würden sie auch das tun. Die rechten Blairites sind entschlossen, ihn loszuwerden, egal was er tut.
In seiner Verteidigung gegen die Vorwürfe seiner angeblich „halbherzigen“ Kampagne für einen Verbleib in der EU, sagte er: „Es gab viele Menschen, die nicht sehr glücklich mit der EU waren. Ich habe stets gesagt, dass auch Gutes aus Europa gekommen ist – Arbeitsbedingungen und Umweltschutz – aber es gab andere Themen, die nicht richtig angegangen wurden – insbesondere die ökonomische Ungleichheit in Britannien. Daher sagte ich, dass es mein Projekt war, für ein „In“ zu stimmen, um die EU zu verändern und zu reformieren.“
Im Gegensatz zu ihrem Parteichef waren die rechten Blairites in der Parlamentsfraktion der Labour Party ausgesprochen angetan von der kapitalistischen Europäischen Union. In dieser Hinsicht waren sie auf der gleichen Seite mit Cameron, Osborne und der City of London (Finanzplatz). Aber sie haben den Bezug zu den Labour-WählerInnen komplett verloren.
Diese wohlsituierten Blender aus der Mittelschicht verstehen weder den Unmut, das Misstrauen noch den Hass, den normale arbeitende Menschen gegen das Establishment in Westminster – die rechte Labour-Clique eingeschlossen – verspüren. Tatsache ist, dass die meisten ArbeiterInnen keinen wirklichen Unterschied zwischen den Parlamentariern der Blairites und den Tories sehen. Die Kampagne rund ums Referendum hat sie in diesem gut begründeten Glauben bestätigt.
Die Blairites sind politisch nicht vom Cameron-Flügel der konservativen Partei zu unterscheiden. Sie stammen aus derselben sozialen Schicht, genießen denselben privilegierten Lifestyle, sind Mitglieder derselben Clubs und haben genau die gleiche Klassenpsychologie. Während der Referendums-Kampagne standen sie Seite an Seite mit Cameron und Osborne, Politiker, die von der Arbeiterklasse für ihre Politik der gnadenlosen Einsparungen und Austerität gehasst werden – eine Politik, die in den meisten Fällen von den Rechten der Labour Party akzeptiert wird.
Die Pro-Corbyn Basisbewegung „Momentum“ veröffentlichte am Morgen des Referendums die folgende Stellungnahme:
„Wir erkennen an, dass Menschen aus vielen Gründen für ein „Out“ stimmten. Viele Wahlstimmen reflektieren eine Wut in den Gemeinden, die viele Jahre des industriellen Niedergangs mit dem darauffolgenden Verlust sicherer Arbeitsplätze erlebt haben. Viele solcher Arbeiter-Gemeinden wurden über Jahre von den Regierenden übergangen. Millionen scheinen für „Out“ gestimmt zu haben, um damit gegen zügellose Globalisierung zu stimmen, die einen stagnierenden oder fallenden Lebensstandard bei steigenden Lebenskosten mit sich gebracht hat. Wir teilen diese Skepsis gegenüber der Dominanz großer Konzerne, Austerität und fernen Eliten, seien sie britisch, europäisch oder global, und teilen die Forderung für ein Land, in dem die arbeitenden Menschen die Kontrolle haben.
Viele „Out“-WählerInnen wählen normalerweise Labour oder gehören zu jenen Menschen, die Labour repräsentieren sollte. Die Partei und die gesamte Arbeiterbewegung muss nun dem Land beweisen, dass sie alleine es den ArbeiterInnen ermöglichen kann, wahre Kontrolle über ihr eigenes Leben, ihre Arbeitsplätze und ihre Gemeinden zu erlangen.
Labour muss deutlich aufzeigen, wie sie das Leben der Menschen verbessern wird, indem sie eine Politik machen, die Löhne erhöht, die Wohnungskrise angeht und Menschen mehr Mitspracherecht in ihrer Arbeit und den Gemeinden bietet.
Tun wir das nicht, werden wir nicht nur versagen, Politik zu betreiben, die den ArbeiterInnen nützt, sondern stützen so auch die populistische Rechte, die Immigranten statt die Machthabenden für die Probleme in unserem Land beschuldigt. Ein Teil der Out-Kampagne ermächtigte diese rassistischen, reaktionären Kräfte, die Hass und falsche Hoffnung schüren. Wir müssen unsere Bemühungen verdoppeln, um die Sündenbock-Ideologie zu stoppen und müssen uns auf die Bedürfnisse und Wünsche der überwältigenden Mehrheit konzentrieren, und unseren Mitmenschen ein echtes Programm der Hoffnung anbieten.
Obgleich wir die EU verlassen werden, bleibt unsere Bewegung internationalistisch. Wir müssen die Arbeit mit unseren FreundInnen, PartnerInnen und Verbündeten in ganz Europa im Kampf gegen Austerität fortsetzen, den Klimawandel angehen und eine nachhaltige Wirtschaft mit Vollbeschäftigung für alle Menschen Europas aufbauen.“
Mit vielen dieser Äußerungen stimmen wir überein. Doch es ist höchste Zeit, dass Momentum begreift, dass die Rechten der Labour-Parlamentsfraktion Jeremy Corbyn den Krieg erklärt haben und nicht eher ruhen werden, bis sie sich seiner entledigt haben. Die Krise in der Tory-Partei, die sich nun aufgrund des Referendum-Ergebnisses vertieft hat, wirft die Frage nach Neuwahlen in naher Zukunft auf. Bevor es dazu kommt, wird der rechte Flügel seine bösartige Kampagne zur Beseitigung Corbyns noch intensivieren.
Eine Periode der Instabilität ist in Britannien nun unausweichlich. Bereits jetzt werden Rufe nach Neuwahlen laut, sodass ParlamentarierInnen auf beiden Seiten ihre Pläne für die nächsten Schritte präsentieren können. Der konservative Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg schließt Neuwahlen im Herbst nicht aus. Andere halten Neuwahlen im März oder Juni 2017 für wahrscheinlicher.
Seit Corbyn zum Parteichef der Labour Party gewählt wurde fahren die Medien eine heftige Kampagne, die vollständig von den Blairites der Labour-Parlamentsfraktion gedeckt wird und die behauptet, Jeremy Corbyn sei „unwählbar“. Das wahre Problem der herrschenden Klasse wäre es jedoch, wenn gerade das Gegenteil einträfe. Die Tory-Regierung ist tief verhasst und von oben bis unten in sich gespalten. Das Referendum war nicht wirklich eines über die EU, sondern über die Cameron-Regierung. Das Ergebnis ist eindeutig.
Kurzfristig werden Menschen wie Johnson und Gove wahrscheinlich die Führung der Tories übernehmen und eine neue konservative Regierung bilden. Sie werden dann eine Offensive gegen die Arbeiterklasse starten. Statt weniger Austerität werden wir mehr davon sehen. Viele Menschen sehen die Wahl für den Austritt als ein Ende der Sparmaßnahmen, aber sie werden bald eine böse Überraschung erleben und sich betrogen fühlen. Das wiederum wird eine Gegenwehr der ArbeiterInnen zur Folge haben und früher oder später den Klassenkampf im großen Stil auf die Tagesordnung setzen.
Wenn unter diesen Bedingungen Parlamentswahlen stattfinden, ist es wahrscheinlich, dass Labour gewinnt. Diese Perspektive versetzt die herrschende Klasse in Schrecken. Sie werden alles in ihrer Macht stehende tun, um das zu verhindern. Mithilfe ihrer Marionetten in der Labour-Parlamentsfraktion werden sie Berge versetzen, um Corbyn noch davor loszuwerden. Schaffen sie das nicht, ist es möglich, dass die Blairites eine Spaltung der Partei organisieren werden, und sich mit dem Cameron-Flügel der Tories zusammentun. Auf der anderen Seite ist es alles andere als sicher, dass die Konservativen geeint bleiben.
Jeremy Corbyn sagt, dass er nach der Niederlage in der „In“-Kampagne, für die er keinerlei Verantwortung trägt, nicht zurücktreten wird. Die Schuld liegt einzig und alleine beim rechten Flügel der Labour Party, der jegliche Glaubwürdigkeit in den Augen der Arbeiterklasse verloren hat. Wir konnten das in Schottland beobachten, wo die Rechten die Labour Party in ihre Zerstörung geführt haben, und wir sehen es nun wieder im Süden.
Es ist höchste Zeit, dass Momentum sich entscheidet, wohin es gehen will. Die Kampfansage der Labour-Rechten muss direkt an sie zurückgegeben werden. Momentum sollte eine Kampagne für die Abwahl jener Parlamentarier der Labour Party starten, die konsequent den eigenen Parteivorsitzenden verunglimpfen, gegen ihn opponieren und ihn angreifen, und die so die Labour Party diskreditieren und spalten und den Tories in die Hände spielen. Nur so kann sich Labour erfolgreich erneuern und als glaubwürdige linke Alternative zu der verrufenen, reaktionären Tory-Regierung präsentieren.
Was man jetzt nicht tun sollte
Es gibt ein altes Sprichwort: „Wenn man den Tiger reitet, kann man schwer absteigen.“ Während der Kampagne zum Referendum sahen wir die Bildung einer rechten Front. In dieser Front dominierte die Stimme der schamlosen Reaktion. Die offenkundig rassistische Botschaft von Nigel Farage bekam ein akzeptables Image durch Gove und Johnson, welche ihrerseits von bestimmten Politikern der Labour Party unterstützt wurden, welche - mit einer Spur Nationalismus - die reaktionärsten und rückschrittlichsten Teile repräsentierten. Sie sind Teil des „negativen Erbes“, welches vom absterbenden Stalinismus hinterlassen wurde.
Zu diesen Tendenzen muss man auch einige linke Gruppen zählen, von denen sich einige sogar als Marxisten bezeichnen. Sie versuchten ihre Unterstützung für den Brexit mit allen Arten von merksamen „Argumenten“ und intellektuellen Jonglierakten zu rechtfertigen. An diese Menschen wollen wir eine einfache Frage stellen und wir sind berechtigt eine Antwort zu erhalten: Warum soll die Unterstützung für die Brexit-Kampagne das Klassenbewusstsein der britischen Arbeiterklasse gestärkt haben? Wir wären sehr daran interessiert eine Antwort zu erhalten. Wir glaube jedoch nicht, dass eine positive Beantwortung dieser Frage möglich ist.
Manche haben versucht zu behaupten, die Brexit-Kampagne wäre im Allgemeinen gegen das „Establishment“ und besonders die Regierung von Cameron gerichtet. In diesem Argument steckt nur ein kleines Stückchen Wahrheit, welches nichtsdestotrotz ein bemerkenswertes Beispiel für die Spitzfindigkeit, welche nur einen Partikel Wahrheit annimmt und die Masse der Informationen, welche ihr widersprechen ignoriert.
Zwar hasst die Arbeiterklasse die Regierung Cameron und wünscht sich von ganzem Herzen diese Regierung zu schwächen und zu stürzen. Das ist ein progressiver Instinkt, den wir mit ganzem Herzen unterstützen. Jedoch ist es nicht ausreichend, die Frage des Sturzes der Regierung Camerons zu stellen. Es ist vor allem eine Frage, wer sie eigentlich ersetzen wird. An diesem Punkt wird die Falschheit und die Hohlheit der Argumente der sogenannten „linken“ Befürworter des Brexit aufgedeckt.
Wenn Gove oder Johnson die Führung der Conservative Party übernähmen, würden sie die fatale Politik der Kürzungen und Austerität, welche von Cameron und Osborne in Gang gesetzt wurde, weiterführen und verschärfen. Sie haben bereits angedeutet, dass die Austerität fortgeführt werden müsse und somit ihre Versprechungen, welche sie während des Referendums gemacht haben, schon wieder zurückgenommen. Dies sind die Advokaten der Freien Marktwirtschaft im Stile Thatchers. Sie würden die Privatisierung der nationalen Vermögenswerte vorantreiben, die Kampagne zur Privatisierung der Gesundheitsversorgung weiterführen und weitere Einschnitte in die Rechte der Arbeiterklasse machen.
Nach der Ermordung von Jo Cox haben manche dieser „linken“ Unterstützer des Brexit rasch sich von dem Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit distanziert und eine Kampagne gegen Rassismus unterstützt. Wie aber ist dies nur möglich, während man gleichzeitig weiter in einer Kampagne mitwirkt, welche aktiv Rassismus und Xenophobie schürt? Das ist das politische Gegenstück zu dem Versuch der Quadratur des Kreises.
Natürlich haben wir keine Illusion in die Rolle der EU-Richtlinien bei der Verteidigung der Rechte der britischen Arbeiter. Doch es ist vollkommen richtig, wie Jeremy Corbyn korrekter Weise warnte, dass die rechten Tories den Austritt aus der EU nutzen würden um ein Feuerwerk der Einschnitte bei den - ihrer Meinung nach - „unwichtigen“ und „lästigen“ Regulierungen zu rechtfertigen, angefangen bei den Regulierungen zur Begrenzung der Wochenarbeitszeit sowie zur Mindestschwelle für Löhne, Renten und Urlaubstage.
Wie dies als eine linke Bewegung interpretiert werden kann, ist ein Rätsel für alle abgesehen von den „Marxisten“, welche so enthusiastisch auf den reaktionären Brexit-Zug aufgesprungen sind. Sie müssen nun die Verantwortung für die Konsequenzen ihrer Aktionen tragen.
Welche Haltung sollten Marxisten einnehmen?
Die Antwort auf diese Frage ist eigentlich sehr einfach. Alle Maßnahmen sind fortschrittlich, die das Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse anheben, und alle Maßnahmen sind reaktionär, die dazu neigen, das Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse zu senken. In welcher Weise hat die Unterstützung des Brexit nun das Bewusstsein der britischen Arbeiterklasse angehoben?
Das reaktionäre Wesen der Brexit-Kampagne war offensichtlich. Sie stützte sich fast ausschließlich auf Fremdenfeindlichkeit, verbreitete eine allgemeine Stimmung gegen MigrantInnen und spuckte eindeutig rassistische Töne. Sie erweckte keineswegs das Klassenbewusstsein der Bevölkerung, sondern stützte sich auf rückläufige und reaktionäre Gefühle der rückständigsten Teile der Arbeiterklasse. Eine solche Kampagne zu begünstigen, sie in irgendeiner Form zu unterstützen, kann unmöglich als Anhebung des Bewusstseins der Arbeiterklasse präsentiert werden, sondern ist nur ein opportunistischer Versuch, die Gunst der rückständigsten Schichten der Arbeiterklasse zu gewinnen. Aber wie Trotzki bereits erklärte, ist jeder Versuch, kurzfristige Popularität durch das Mitschwimmen im Strom zu gewinnen der sicherste Weg, um eine Katastrophe für morgen vorzubereiten.
Um es einmal klarzustellen. Dies war ein Streit zwischen zwei rivalisierenden Teilen der herrschenden Klasse und der Tories. Es existiert nicht ein Atom progressiven Inhalts auf beiden Seiten der Fragestellung. Und es gibt keinen Anlass dafür, dass sich die Arbeiterklasse stets für eine von zwei Seiten zu entscheiden habe, sobald sich die herrschende Klasse spaltet – im Gegenteil.
Zwar spielten während des massiven Umschwungs zum Brexit viele Faktoren eine Rolle spielten, welche ebenfalls bedeutende Teile der Arbeiterklasse mit einschlossen. Es gibt ein starkes Gefühl der Entfremdung vom Establishment und seinen politischen Vertretern, den Tories und dem rechten Flügel der Labour Party. Es gibt ein sehr tief sitzendes Gefühl, dass „Sie uns nicht repräsentieren“, vor allem in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit.
Viele Menschen haben eigentlich nicht über die Frage abgestimmt, ob Großbritannien nun in der Europäischen Union verbleiben oder diese verlassen sollte, sondern benutzten das Referendum vielmehr als eine Protestwahl gegen die Tories und ihr politisches Machwerk. Dies ist ein völlig verständlicher, richtiger und progressiver Instinkt. Allerdings können auch die fortschrittlichsten Instinkte der Arbeiterklasse für reaktionäre Zwecke missbraucht und genutzt werden.
Im 19. Jahrhundert beobachtete Karl Marx eine ähnliche Situation, als es eine Spaltung in der herrschenden Klasse Großbritanniens über die Frage des Protektionismus (Schutzzölle) oder Freihandels gab. Marx untersuchte diese Frage und kam zu der Schlussfolgerung, dass freier Handel im Gegensatz zum Protektionismus zwar grundsätzlich progressiver war, allerdings war er der Ansicht, dass die Arbeiterklasse auf die Unterstützung beider Seiten verzichten sollte. Dies ist eine sehr solide Klassenfrage, welche wir vor allem in der heutigen Zeit beibehalten sollten.
Ich wiederhole nochmal, was ich in einem letzten Artikel geschrieben habe: Es gibt kein Atom progressiven Inhalts weder in der Brexit-Kampagne, noch in der „Remain“-Kampagne. Sie stehen für die Interessen von zwei Flügeln der herrschenden Klasse und den Tories. Keine Seite hat irgendetwas gemeinsam mit der Arbeiterklasse. Wir haben nichts mit der Frage von „entweder, oder“ zu tun.
Ebenso wie Wahlen können uns auch Referenden einen Teil ihrer Geschichte erzählen, allerdings auch nicht mehr als nur einen Teil. Sie sind wie eine Momentaufnahme, die den Zustand und die geistige Verfassung der Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte offenbart. Allerdings ist es unmöglich, ein vollständiges Bild des Prozesses zu erstellen, wenn wir diesen Prozess nicht in seiner Gesamtheit betrachten. Wie bei Wellen auf dem Ozean würden wir hier lediglich die Oberfläche des Prozesses beobachten. Um die wirkliche Bedeutung des Prozesses zu verstehen, müssen wir jedoch unter diese Oberfläche dringen, denn nur wenn wir hinter die Zahlen blicken, können wir die tief in der britischen Gesellschaft fließenden Strömungen erkennen und verstehen.
Nur ein unabhängiger Klassenstandpunkt kann den Nebel der Verwirrung auflösen und erklären, dass die wahre Ursache von Arbeitslosigkeit und schlechtem Wohnraum sowohl die Krise des Kapitalismus ist, als auch die Versuche der Tories, die Last der Krise auf den Schultern der Arbeiterklasse und den ärmsten Teilen der Gesellschaft auszutragen.
Wenn Corbyn weiterhin seine prinzipielle Ablehnung der Europäischen Union beibehalten hätte – also ihren Klassencharakter erläutert sowie eine internationalistische und sozialistische Alternative angeboten hätte – dann gäbe es auch keine Verwirrung in großen Teilen der Bevölkerung. Stattdessen wurde die ganze Frage auf vergebliche und fragwürdige Argumente und die Fragestellung reduziert, ob die Arbeiterklasse nun innerhalb oder außerhalb der Europäischen Union besser dran wäre.
Die ganze Frage wurde also auf die völlig falsche Art und Weise gestellt. Tatsächlich macht es kaum einen Unterschied für die Arbeiterklasse, ob Großbritannien nun in der EU bleibt oder nicht, denn in beiden Fällen wird die Bourgeoisie weiterhin Angriffe sowohl auf den Lebensstandard als auch auf sämtliche Arbeitnehmerrechte durchführen. Eine wirkliche Alternative wären starke Kämpfe gegen die Kürzungs- und Austeritätspolitik und das aktive Eintreten für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft – in Großbritannien, Europa und im Weltmaßstab. Dies beginnt mit einem Kampf, in welchem der rechte Flügel in der Labour Party um die Blair-Anhänger restlos besiegt werden muss, um Jeremy Corbyn zu stärken und die Wahl einer linken Regierung der Labour Party zu ermöglichen. Das ist die einzige Hoffnung für die Zukunft.
London, 24. Juni 2016
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