Dies wiederum ist eine Widerspiegelung der Turbulenzen, von denen der Rest der kapitalistischen Welt heimgesucht wird, wo der liberale Konsens der Nachkriegsära zusammengebrochen ist. Die nächsten Präsidentschaftswahlen am 23. April werden vermutlich die unvorhersehbarsten seit Generationen sein.
Abgesehen von kurzen Zwischenräumen, in denen die Sozialisten den Präsidenten stellten, wird Frankreich seit Jahrzehnten von den traditionellen bürgerlichen Parteien regiert. Letztendlich haben diese alle versucht die Last der Krise des französischen Kapitalismus auf die Schultern der ArbeiterInnenklasse zu wälzen, was aber auf heftigen Widerstand stieß.
“Die WählerInnen haben das Gefühl, dass die so genannten Volkspartien von rechts und links über einen permanenten Zustand der ökonomischen Krise und der Massenarbeitslosigkeit präsidiert haben“, sagt M. Garrigues. „Diese Phase geht zu Ende, da die WählerInnen jeden ablehnen, der mit diesem Versagen in Verbindung gebracht wird.“
Das vorherrschende Unbehagen wurde zusätzlich durch Hollandes Verzicht auf seine linken Versprechen zu Beginn seiner Amtszeit vertieft und von vielen WählerInnen der Sozialistischen Partei als ein weiterer Verrat angesehen, vor allem auch, weil es ihm nicht gelang, konkrete ökonomische Erfolge zu erzielen. Dieser Verrat hat politisch alles über den Haufen geworfen.
Heute stehen wir vor einer noch nie dagewesenen Krise des kapitalistischen Establishments. Nach dem Brexit und der Wahl von Donald Trump in den USA sind die Ergebnisse der Wahl in Frankreich nicht vorhersehbar. In den traditionellen Parteien ist Unruhe aufgekommen, die den Wahlausgang ungewiss macht, so dass alles passieren könnte. Der Kandidat der rechten Republikaner, Francois Fillon, der einst der unanfechtbare Favorit war, nachdem er den skandalbehafteten ehemaligen Präsidenten Sarkozy besiegt hatte, ist selbst in einem Skandal verwickelt, nachdem er beschuldigt wurde, dass seine Ehefrau mehr als 900.000 € Steuergelder als seine parlamentarische Mitarbeiterin erhalten habe, ohne jemals wirklich gearbeitet zu haben. Trotz seiner Entschuldigungen sind seine Umfragewerte abgestürzt. Die Ironie darin liegt, dass er als guter bürgerlicher Politiker einen Wahlkampf mit dem Versprechen „die hohen moralischen Standards in der Politik wiederherzustellen“, führen wollte! In einer jüngsten Umfrage glaubte weniger als einer von vier Befragten, dass er „ehrlich“ sei. Sein Rücktritt wäre jedoch eine Katastrophe und deshalb zu diesem Zeitpunkt unwahrscheinlich. Sie haben ihn jetzt am Hals und das wird die wachsende Instabilität beschleunigen.
Der neue Spitzenkandidat ist der wirtschaftsfreundliche “Zentrist” Emmanuel Macron, der frühere Wirtschaftsminister und Rothschild-Banker, der vor zehn Monaten seine eigene Partei gründete. In einem Kampf zwischen kapitalistischen Krokodilen und Reptilien hofft dieser Emporkömmling, aus der herrschenden Desillusionierung in Frankreich Nutzen zu ziehen.
Die regierende Sozialistische Partei befindet sich in vollständiger Verwirrung. Mit einer vernichtenden Wahlniederlage konfrontiert, hatte Präsident Hollande eine Wiederwahl ausgeschlossen, eine noch nie dagewesene Entscheidung eines Führers der Fünften Republik. Zwischenzeitlich verlor Premierminister Manuel Valls die Nominierung bei den Sozialisten gegen den halblinken Benoit Hamon, der ebenfalls Minister in der Regierung Hollande war. Aufgrund der Ernüchterung über Hollande und dessen Regierung wird Hamon mit aller Wahrscheinlichkeit nicht in die Stichwahl kommen, weil er eben Kandidat der Sozialistischen Partei ist.
Angesichts der Schwierigkeiten wird er versuchen, eine Allianz mit dem Linken Jean-Luc Mélenchon, der in den Umfragen bei 10% liegt, einzugehen, dies wäre aber ein Giftcocktail für Mélenchon. Er kam bei den Wahlen 2012 als Kandidat der Linksfront (Front de gauche), einem Bündnis radikaler Parteien einschließlich der KP, auf den vierten Platz, indem er sich die lange Tradition revolutionärer Politik in Frankreich mit flammenden Reden zu Nutze machte. In diesem Jahr tritt er mit der nachträglichen Unterstützung der KP an und hat eine neue Bewegung „La France Insoumise“ (Rebellisches Frankreich) auf der Basis einer linken anti-austeritären Plattform gegründet. Diese könnte zu einem Kristallisationspunkt für eine linke Alternative gegen die Rechten werden, wenn es ihm gelingt die Desillusionierung unter der Jugend und der ArbeiterInnenklasse zu nutzen. Die IMT in Frankreich betrachtet einen solchen Ausgang als die beste Option und verteidigt das marxistische Programm innerhalb dieser Perspektive.
Die Skandale, von denen die bürgerlichen Parteien betroffen wurden, haben dieses Rennen um das Präsidentenamt ins Chaos gestürzt. Die rechte Front National (FN) macht sich Hoffnung davon zu profitieren. Marine Le Pen hofft die Stichwahl im Mai zu gewinnen. Um seriöser zu werden, hat Le Pen versucht ihre Partei von deren Verbindungen zu ihren antisemitischen und ausländerfeindlichen Wurzeln zu entgiften. Die FN tritt jetzt als traditionelle rechtspopulistische Partei auf, welche ihre Unterstützung durch eine Politik gegen das Establishment und die Einwanderung sowie mit Angriffen auf die EU, die Globalisierung und den Verlust von Arbeitsplätzen gewonnen hat.
Aus bitterer Enttäuschung sagen, laut dem Umfrageinstitut Cevipof, 50% der ArbeiterInnen, gering verdienenden Angestellten und schlecht ausgebildeten Jugendlichen – ungefähr 40% der gesamten arbeitenden Bevölkerung – dass sie Le Pens Plan nach einem EU-Austritt und die Eindämmung der Einwanderung unterstützen.
Die Verantwortung dafür liegt in erster Linie im Verrat der Sozialistischen Partei, der Regierungspartei, welche die Massenarbeitslosigkeit und die zunehmende Krise nur verwaltet hat. Die Verantwortung liegt aber auch in der Kapitulation der KP, die Hollandes Partei bedingungslos gefolgt ist. Dieser Bankrott ist Folge des Versagens des Reformismus, des Versuchs innerhalb der Grenzen eines krisengeschüttelten kapitalistischen Systems zu wirken. Diese Kapitulation hat, zumindest vorübergehend, dazu beigetragen, den Weg für die extrem rechte FN zu bereiten.
Ein Spiegelbild der Krise ist der jüngste Niedergang eines bedeutenden bürgerlichen Politikers, der auf die Müllkippe der Geschichte abgeladen wurde. Nicolas Sarkozy, der frühere Präsident, wurde abserviert. Danach wurde der frühere Premierminister Alain Juppé durch die Nominierung von Fillon besiegt. Jetzt befindet sich der skandalumwitterte Fillon in Schwierigkeiten.
„Die alte Welt geht ihrem Zusammenbruch entgegen“, sagt Dominique Reynié, Chef des mitterechten Thinktanks Fondapol. Wenn Madame Le Pen in der Stichwahl auf Monsieur Macron, der noch keine Wahlerfahrung hat, treffen sollte, ist das Ergebnis ungewiss. Macrons Umfrageergebnisse sind nicht verlässlich, denn er hat in der französischen Politik keine Vergangenheit.“
„Es ist noch nie so unsicher und ungewiss gewesen“, sagt Luc Rouban, ein Politikprofessor von Cevipof. „Wir werden Zeuge einer kompletten Revision und einer Polarisierung des traditionellen politischen Angebots in Frankreich. Das Wahlverhalten ist mittlerweile so komplex geworden, dass Meinungsforscher und Analytiker es immer schwerer haben, dieses vorherzusagen.“ Was immer auch passiert, Frankreich steht vor einer Ära instabiler Regierungen. „Und das wird automatisch die Extremen stärken“, ergänzt Rouban. „Die Fünfte Republik zerfällt vor unseren Augen.“
Die Bedrohung durch Le Pen hat Betroffenheit und Entsetzen verursacht. Mit der Aussicht auf zwei rechte Kandidaten in der zweiten Runde haben auf der Linken einige ihren Kopf verloren und aufgerufen, „jeden zu wählen, außer Le Pen“. Hysterisch beschreiben sie Le Pen und die FN als „faschistisch“. Das ist jedoch falsch, weil dies das wirkliche Wesen des Faschismus ignoriert. Le Pen und die FN stehen sicherlich politisch rechts, besonders weil sie die Einwanderungsfrage hochstilisieren und gegen die EU sind, ansonsten gibt es keine fundamentalen Unterschiede zwischen ihnen und den anderen bürgerlichen Parteien.
Der Faschismus unterscheidet sich grundlegend davon. Er ist die Massenbewegung der aufgebrachten Mittelklasse, des Lumpenproletariats, der Bauern und sogar einiger rückständiger ArbeiterInnen, die vom Großkapital als letzter Ausweg finanziert und organisiert wird, um eine sozialistische Revolution zu verhindern. Es ist die Rolle des Faschismus, eine Massenbewegung zu mobilisieren, um alle Organisationen der ArbeiterInnen zu zerstören und die ArbeiterInnenklasse zu atomisieren. Der Faschismus, der die wild gewordene Mittelklasse als Rammbock nutzt, löscht mit Hilfe der Polizei und der Armee jegliches demokratische Recht aus. Das ist sicherlich nicht das Programm der FN, die rechts, aber nicht faschistisch ist. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht gegen sie mobilisieren sollten, aber MarxistInnen sollten nicht den Fehler begehen, verschiedene Phänomene zu verwechseln. Ein solcher fundamentaler Fehler wäre es, Fillon oder irgendeinen anderen bürgerlichen Politiker Le Pen vorzuziehen.
Die Vorstellung Illusionen in irgendeinen rechten Kandidaten als “das kleinere Übel” zu schüren, ist ein Verrat. Alle bürgerlichen Parteien sind gleich reaktionär. Wir wollen mit den Rechten nichts zu schaffen haben. Der einzige Weg, die Reaktion zu bekämpfen, ist die Einnahme eines unabhängigen Standpunkts der ArbeiterInnenklasse und der Kampf gegen jedweden rechten Präsidentschaftskandidaten an den Arbeitsplätzen und auf den Straßen.
Engels erklärte einst, dass Frankreich, das Land in Westeuropa sei, in welchem der Klassenkampf immer bis zum Ende geführt würde. Seit 1789 ist die Geschichte Frankreichs reich an Revolutionen und Konterrevolutionen. Der revolutionäre Generalstreik im Mai 1968, als die Macht in der Reichweite der französischen ArbeiterInnen lag, flößt der herrschenden Klasse in Frankreich immer noch Angst ein, weil sie sich des revolutionären Potenzials der französischen ArbeiterInnen sehr wohl bewusst ist. Es ist jetzt nicht die Zeit zu verzweifeln oder die Rettung bei diesem oder jenen bürgerlichen Politiker zu suchen, auch nicht bei einer Figur wie Hamon.
Momentan liefert Mélenchon die radikalste linke Alternative von allen Kandidaten bei der kommenden Präsidentschaftswahl, trotz seiner reformistischen Beschränkungen. Mélenchon hat das Potenzial einen bedeutenden Anziehungspunkt auf der Linken zu schaffen, um den herum eine linke Massenkraft entstehen könnte. Unter den jetzigen Umständen ist das der Weg für jeden, der eine ernsthafte Alternative in Frankreich aufbauen will. Die MarxistInnen werden dabei ihre Rolle spielen und diesen Weg unterstützen, aber auch systematisch auf die Schwächen und Beschränkungen von Mélenchons Programm hinweisen. In der gegenwärtigen Krise gibt es keine Lösungen innerhalb der Grenzen des Kapitalismus, das trifft sowohl für Frankreich als auch für andere Länder zu. Wie 1968 ist die sozialistische Transformation Frankreichs notwendig. Dieses Mal müssen wir sie bis zu Ende durchführen.
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