Kategorie: Europa |
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Eine erste Analyse der niederländischen Parlamentswahlen vom 15. März 2017 |
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Wird Geert Wilders‘ Partei PVV nach dem Brexit und der Wahl von Donald Trump die stärkste Partei in den Niederlanden werden? Das war die Befürchtung der herrschenden Klasse in Europa, die jetzt hocherfreut ist, dass Premier Ruttes rechtliberale Partei VVD als stärkste aus den Wahlen hervorgegangen ist. |
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Auch viele JournalistInnen, die in das Land strömten, stellten sich diese Frage. Unter normalen Umständen werden die Parlamentswahlen in den Niederlanden weltweit nicht als interessantestes Ereignis betrachtet. Dies sind aber keine normalen Umstände. Nachdem klar war, dass die VVD mit 33 von 150 Sitzen (21,3%) stärkste Partei geworden war, waren die europäischen FührerInnen erfreut. Der frühere EU-Parlamentspräsident Martin Schulz twitterte, dass er über das Ergebnis froh sei. Jean-Claude Juncker gratulierte Rutte und rief ihn auf, „gemeinsam ein starkes Europa zu errichten“. Er hofft auf einen Sieg sowohl von Macron in Frankreich als auch von Schulz und Merkel in Deutschland, um die Welle des Rechtspopulismus zu stoppen. Geert Wilders‘ PVV wurde mit 20 Sitzen (13%) zweitstärkste Partei und hat gegenüber 2012 (15 Sitze/10,1%) zugelegt, aber gegenüber 2010 verloren, als die Partei 24 Sitze und 15,4% der Stimmen gewann. Für die herrschende Klasse in Europa sind das gute Nachrichten, da jetzt eine breitere Koalition mit einem stärkeren Pro-EU-Charakter gebildet wird, was für sie unter diesen unsicheren weltwirtschaftlichen Bedingungen notwendig ist. Wilders ist für seine islam- und flüchtlingsfeindlichen Positionen bekannt. Er will den Koran verbieten und Moscheen und Islamschulen schließen und die Grenzen für alle Flüchtlinge dichtmachen. Auf demagogische Weise nutzte er die Kürzungen im Gesundheitswesen und sagte, dass „Ausländer Geld geschenkt bekommen, während unsere Leute leiden müssen“. Auch wenn er sich jahrelang als Führer des Anti-Establishments präsentiert hatte, gewann er weniger Stimmen als erwartet. Das lag in erster Linie daran, dass viele potenzielle PVV-WählerInnen zu Rutte, der die wirtschaftliche Erholung als seine Leistung beanspruchte, übergelaufen sind, da sie fürchteten, dass ein hoher Stimmenanteil für die PVV das Land und die wirtschaftliche Entspannung destabilisieren würde. In den letzten Tagen vor der Wahl spielte auch der Konflikt mit der Türkei eine Rolle. Die niederländische Regierung wollte einen Besuch von Erdogans Außenminister, der für die Zustimmung zum reaktionären Referendum zur Einführung eines Präsidialsystems werben wollte, einschränken und regulieren. Nach einem Machtspielchen, bei dem keine Seite nachzugeben bereit war, gerieten die Regierungen aneinander, als eine türkische Ministerin davon abgehalten wurde, das türkische Konsulat in Rotterdam zu betreten und als es zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und rechten türkischen DemonstrantInnen kam. Die rechten niederländischen Medien bejubelten dieses Ereignis, weil „wir endlich gezeigt haben, wer auf unseren Straßen der Chef ist“. Dieses Ereignis hat die rechten Kräfte auf beiden Seiten gestärkt, sowohl Rutte als auch Erdogan. Das war nicht der entscheidende Faktor, aber er gab Rutte den letzten Schub. Andere bedeutende Entwicklungen bei diesen Wahlen sind: der historische Verlust für die sozialdemokratische PvdA, Zugewinne für die christdemokratische CDA und die liberalen D66, große Zugewinne für GroenLinks (GrünLinks) und eine Stagnation bei der Sozialistischen Partei (SP). Während die rechte VVD 2012 erklärte, sie würde eine Austeritätspolitik betreiben, um die Niederlande aus der Krise zu führen, lehnte die sozialdemokratische PvdA diese Politik in ihrem Wahlkampf ab. Doch nach der Wahl vollzog sie eine Wendung um 180 Grad und wurde Juniorpartner in einer Regierung, die für Austerität, Kürzungen im Gesundheitswesen und die Einführung von Darlehen für StudentInnen verantwortlich ist. Da es zu einem kleinen wirtschaftlichen Aufschwung gekommen ist, behauptet die VVD, dass dieser eine Folge des notwendigen Übels ihrer Austeritätspolitik sei und jetzt das Wachstum für die nächsten Jahrzehnte wieder auf der Tagesordnung stehe. Keine andere Partei bezweifelt diese Behauptung über die Rückkehr des Wachstums, was bedeutet, dass die VVD damit prahlen kann, für diesen Erfolg verantwortlich zu sein. Die PvdA andererseits erklärte: „Da wir jetzt wieder ein Wirtschaftswachstum haben, werden wir diesmal unser Programm von 2012 umsetzten“. Abgesehen von einigen winzigen Reformen haben die SozialdemokratInnen nichts erreicht, auf das sie, in dieser Zeit der Krise und Gegenreformen, stolz sein können. Das ist der wirkliche Grund für den Niedergang der PvdA. Dieser ist Teil einer größeren Krise des Reformismus, die wir in Griechenland (PASOK), Spanien (PSOE) und Frankreich (PS) beobachten konnten. Da die sozialdemokratischen Parteien ihr Reformprogramm im Zeitalter der kapitalistischen Krise nicht länger umsetzen können, sind sie mit einer historischen Krise konfrontiert. In keiner einzigen Stadt des Landes sind sie die stärkste Partei geworden. In den Großstädten haben sie die WählerInnen aus der Mittelklasse und der Jugend an die linksliberalen Parteien D66 und GroenLinks verloren. Genauso haben sie ihre ehemalige Basis unter den NiederländerInnen türkischer und marokkanischer Herkunft verloren, weil die Partei begonnen hat, „härter“ und chauvinistischer gegen MigrantInnen zu werden, mit dem Ziel PVV-WählerInnen zurückzugewinnen. Zwei Abgeordnete türkischer Herkunft haben die PvdA verlassen, um die Partei Denk (Denk nach!) zu gründen, eine multikulturelle Partei, die in den Großstädten eine beträchtliche Anzahl von Mitgliedern hat und drei Parlamentssitze gewinnen konnte. Trotz ihres Programms zur Bekämpfung der Diskriminierung ist Denk in Wirklichkeit eine konservative Partei mit Verbindungen zu reaktionären türkischen Organisationen. Selbst in der nördlichen Provinz Groningen mit einer starken sozialistischen und kommunistischen Tradition, in der die PvdA immer die stärkste Kraft war, hat sie an die PVV und SP verloren. Die Partei war in der Regierung, als es zu einer Massenbewegung gegen weitere Gasbohrungen in der Provinz Groningen kam, die in den letzten Jahren zu Erdbeben und Schäden an Häusern führten. Die Regierung Rutte zog es in diesem Konflikt vor, die Interessen des Öl- und Gaskonzerns NAM (der im Besitz von Shell und ExxonMobil ist) zu vertreten und nicht die Interessen der Bevölkerung. Die Rolle der PvdA als Juniorpartner von Rutte hat selbst in Groningen zu einem starken Stimmenverlust geführt. Es ist der bisher größte Verlust der Partei. Treu geblieben sind ihr vor allem ältere Menschen. Von den PvdA-WählerInnen waren bei diesen Wahlen 44% über 65. Das ist jedoch erklärt nicht alles. Wilders hat vielleicht nicht die meisten Stimmen bekommen, aber seine Politik ist von den anderen Parteien übernommen worden. Mark Rutte forderte Menschen, „welche die niederländischen Werte nicht respektieren“ dazu auf, das Land zu verlassen. Eine anderes prominentes Mitglied seiner Partei VVD, Halbe Zijlstra, erklärte, dass „viele Flüchtlinge in die Niederlande kommen, um sich einer kostenlosen Schönheits-OP zu unterziehen“. Rutte war einer der Architekten des EU-Abkommens mit der Türkei, mit dem Flüchtlinge ferngehalten werden sollen, und er plädiert für ähnliche Abkommen mit den nordafrikanischen Ländern. Die konservative CDA betrieb eine rechte Kampagne, um Stimmen von potenziellen PVV-WählerInnen in Kleinstädten und auf dem Lande zu gewinnen. In der Vergangenheit war die Partei die wichtigste bürgerliche Kraft mit einem konservativen und einem „sozialeren“ Flügel, der mit dem christlichen Gewerkschaftsbund verknüpft war. Nach Jahren des Niedergangs ist der soziale Flügel verschwunden und die Partei fokussiert sich auf einen rechten Populismus, indem sie viele PVV-Positionen kopiert und weitreichende Sicherheitsmaßnahmen gegen die „Bedrohung durch den radikalen Islam“ fordert. Das bedeutet, dass die drei größten Parteien zumindest teilweise einer rechtspopulistischen Rhetorik folgen. Außerdem gibt es noch eine neue rechtspopulistische Partei, das Forum für Demokratie, eine eher intellektuell konservative Gruppierung. Zusammen haben diese Parteien 64 Sitze, das sind ca. 40% aller Parlamentssitze. Das ist natürlich etwas anderes als ein Sieg der PVV, aber es bedeutet, dass diese Parteien versuchen werden, die Tagesordnung mit einem hysterischen Geschrei über Sicherheitsmaßnahmen, den radikalen Islam, die Bedrohung durch illoyale BürgerInnen mit doppelter Staatsbürgerschaft und die „bedrohte niederländische Identität“ festzulegen. D66 ist eine so genannte „progressive“ liberale Partei, welche arbeitsmarktregulierende Maßnahmen einführen will und für festere Arbeitsverträge eintritt, ohne zu erklären, was sie unter „fest“ versteht. Das ist der Charakter der Linksliberalen, sie lehnen Wilders‘ Nationalismus ab und treten für eine weltoffene freie Marktwirtschaft ein, die den Interessen der ArbeiterInnenklasse widerspricht. GroenLinks hat viele neue junge WählerInnen gewonnen. Die Partei hat versucht, ihr Gesicht mit dem neuen Spitzenkandidaten Jesse Klavers zu „radikalisieren“, der viel Rhetorik von nordamerikanischen Liberalen wie Barack Obama oder Justin Trudeau kopiert hat. In diesem Sinne ist ihr “Radikalismus” nur vorgetäuscht, aber die Stimmengewinne sind es nicht. GroenLinks kam von vier Sitzen (2,3%) auf 14 Sitze (8,9%), das ist das bisher beste Ergebnis für die Partei. In Amsterdam wurde sie sogar stärkste Partei. Ihr “Anti-Populismus” und ihre flüchtlingsfreundliche und grüne Politik findet bei einer neuen Schicht von Jugendlichen Zustimmung. In der Vergangenheit unterstützte Jesse Klavers Gegenreformen, wie die Einführung von Darlehen für StudentInnen und die “Flexibilisierung” des Arbeitsmarkts. Neuen WählerInnen ist das oft nicht bekannt. Sie müssen Klavers wirklichen Charakter auf die harte Weise kennenlernen. Mit der Stagnation der Sozialistischen Partei und der Dezimierung der PvdA ist der Schauplatz für eine „Schlacht“ zwischen dem Linksliberalismus und dem Rechtspopulismus in den nächsten Jahren geschaffen. Es wird zu Debatten kommen, die denen der Diskussionen um den Brexit und den Gegensätzen zwischen Clinton und Trump ähneln. Kurzfristig werden die soziale und wirtschaftliche Themen überschattet, aber es wird zu vermehrten Angriffen kommen, besonders, wenn das „neue Zeitalter des Wachstums“ zum Stillstand kommt. Als die SP nach den Parlamentswahlen 2006 nicht als Regierungspartei erwünscht war, erklärte die Führung , es sei das Problem, dass die Partei „zu radikal“ sei und dass deshalb das Programm abgemildert werden müsse. Die Partei regiert in vielen Kommunen mit, oft sogar zusammen mit rechten Parteien. Zwischenzeitlich hat die SP an Mitgliedern verloren und nie wieder ein solch gutes Wahlergebnis wie 2006 erreicht. Das bedeutet, dass die Partei stagniert, und das trotz der vielen guten AktivistInnen in ihren Reihen und ihren Kampagnen für ein staatliches Gesundheitswesen, niedrigere Mieten, höhere Löhne und Sozialleistungen etc. Das waren sicherlich gute Aktionen, aber die Fokussierung auf die Alltagsthemen hat nicht ausgereicht. Unter den jungen Menschen liegt das SP-Stimmergebnis unter dem nationalen Durchschnitt. Die SP wird von den jungen WählerInnen als Partei für die Alten, Armen und Kranken angesehen, obwohl sie z. B. für die Abschaffung der Darlehen für StudentInnen kämpft. Die Partei hat versucht, die PVV-WählerInnen zu besänftigen, indem sie keine eindeutige Stellung zugunsten der MigrantInnen bezogen und sich in vielen Fragen „neutral“ verhalten hat. Die SP will die Freizügigkeit für osteuropäische WanderarbeiterInnen und MigrantInnen beenden. Ihre Stellung zur EU ist vage, eine Mischung aus Linksreformismus mit chauvinistischen Elementen. Außerdem unterstützt sie traditionell die Polizeigewerkschaften, obwohl es viele Probleme mit der Polizeigewalt und der ethnischen Profilerstellung von jugendlichen MigrantInnen gibt. Erst vor kurzem wurde eine Wahlkampagne gestartet, die auch das Thema Diskriminierung beinhaltete. In der Zwischenzeit haben viele junge MigrantInnen und antirassistische AktivistInnen sich der Partei Denk oder ihrer Abspaltung Artikel 1 angeschlossen, weil sie in der SP keine politische Heimat gefunden haben. Um die Stagnation der Partei aufzuhalten, braucht es ein starkes sozialistisches und internationalistisches Programm. Die Besänftigung von PVV-WählerInnen wird dabei nicht nützlich sein. Diese stärkt nur die rechten Parteien insgesamt. Die PVV-WählerInnen müssen durch ein sozialistisches Programm gewonnen werden, nicht durch eine nationalistische Politik. 50PLUS, einer demagogischen Partei für “Menschen über 50“, ist es gelungen, ältere Menschen zu gewinnen und ihre Sitzzahl von zwei auf vier zu erhöhen. Wir haben schon die neuen Parteien Denk und Forum für Demokratie erwähnt, die drei bzw. zwei Sitze erringen konnten. Die einzige Konstante bei diesen Wahlen waren die kleinen christlichen Parteien, die zusammen auf acht Sitze kommen. Artikel 1, eine linke Abspaltung von Denk, schaffte es nicht ins Parlament, obwohl sie von vielen AktivistInnen aus der Anti-Rassismus-Bewegung unterstützt wurde. Es ist notwendig, dass diese AktivistInnen jetzt nicht aufhören, sondern ihren Kampf gegen Diskriminierung mit einem klaren sozialistischen Programm zur Veränderung der Gesellschaft verknüpfen und die Wurzeln der Diskriminierung in unserer Klassengesellschaft offenlegen. Eine solche Koalition wird relativ stabil sein, bis sie gezwungen ist, Kürzungen durchzuführen. Sie wird direkt nach der Regierungsbildung mit neuen „Arbeitsmarktreformen“ anfangen. Wenn die „große Erholung“ zum Stillstand kommt, werden wir drastischere Kürzungen erleben. Das wird dann das Ende der Flitterwochen dieser Regierung bedeuten und auch das Ende der Glaubwürdigkeit von Mark Rutte, denn er ist schließlich nicht derjenige, der für die wirtschaftliche Erholung verantwortlich ist. Für die SP wird es neue Möglichkeiten geben, aber dafür muss sie ihren Kurs ändern. Anstatt zu zeigen, was für eine „realistische“ Partei sie ist, muss sie für ein sozialistisches Programm kämpfen. Falls nicht, wird die Opposition auf kultureller Ebene einerseits von GroenLinks und andererseits von der PVV ausgefochten. Auch der niederländische Gewerkschaftsbund FNV ist von den starken Verlusten der PvdA betroffen. Mit der PvdA in der Regierung hatten die Gewerkschaftsbürokratie stets einen Stützpunkt und einen Vorwand, um nicht zu mobilisieren. Nachdem dieser Stützpunkt verschwunden ist, wird die Bürokratie gezwungen, gegen ihren Willen zu mobilisieren, wenn die Unternehmer mit ihren Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse beginnen Obwohl die Wahlergebnisse kurzfristig nach „Stabilität“ aussehen, ist auf lange Sicht kein Problem gelöst. Wir leben nicht mehr unter „normalen Umständen“. Die grundlegenden Probleme der Krise des Weltkapitalismus sind nicht gelöst. Über die Jahre werden immer mehr arbeitende Menschen und Jugendliche erkennen, dass nicht der „Populismus“ oder bestimmte Bevölkerungsschichten das Problem sind, sondern dass das System selbst bis in den Kern verrottet ist und abgeschafft werden muss. Übersetzung: Tony Kofoet |