Auf den ersten Blick mag es nach einem weiteren glänzenden Sieg Erdoğans aussehen, doch das täuscht. Schauen wir uns als erstes die Wahlergebnisse der Parlamentswahl an: Erdoğans AKP (42,6 %) verlor fast 7%, ihr Wahlpartner in ihrer sogenannten „Allianz des Volkes“, die faschistische MHP, erhielt 11,1%, womit sie zusammen eine knappe Parlamentsmehrheit haben. Das „Bündnis der Nation“ bekam 34,1%. Es besteht aus der „sozialdemokratischen“ CHP (22,6%), der islamistischen SP (1,3%) und einer Abspaltung der MHP, genannt İyi (9,96%). Die linke, pro-kurdische Partei HDP (11,7%) konnte trotz zunehmender Wahlabstinenz aufgrund massiver Repressionen einen leichten Stimmenzuwachs feststellen und ist mit der İyi die einzige Partei, die prozentual in der Wahl dazugewonnen hat.
Wahlmanipulationen vor allem in kurdischen Gebieten
Von freien Wahlen in der Türkei zu sprechen ist mittlerweile eine Farce. Seit dem Putschversuch 2016 wurden mehr als 150.000 Beamte entlassen, kritische Nachrichtenagenturen geschlossen, die restlichen auf AKP-Linie gebracht. Angriffe auf oppositionelle Büros und Wahlkampfhelfer werden polizeilich geduldet und über 55.000 politische Gegner befinden sich in Haft, darunter seit über eineinhalb Jahren der Präsidentschaftskandidat der HDP, Selahattin Demirtaş und ein Fünftel aller HDP-Parlamentarierinnen und Parlamentarier.
Vom Wahltag gibt es zahlreiche Berichte von Wahlmanipulationen, besonders aus dem südöstlichen Teil der Türkei, in dem die Mehrheit kurdisch ist und HDP wählt. So gab es Urnen, in denen von Anfang an hunderte Stimmzettel mit Kreuzchen für die AKP lagen. Andere Urnen wurden am Abend von der Polizei entwendet. Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter wurden misshandelt, verhaftet oder gewaltsam ausgesperrt. Hinzu kam, dass in vielen kurdischen Orten keine Wahllokale zugelassen wurden und viele so bis zu 35 Kilometer zurücklegen mussten, um überhaupt wählen zu können.
Warum wurde die AKP gewählt?
Trotz der Wahlfälschungen und Manipulationen lässt sich nicht leugnen, dass Erdoğans AKP immer noch von einem bedeutenden Teil der Bevölkerung gewählt wird. Unter anderem ist der Aufstieg der AKP eng verwoben mit dem Wirtschaftswachstum und der Industrialisierung Anatoliens. Kleine Dörfer entwickelten sich zu modernen Industriestädten. Dadurch ist eine neue Arbeiterklasse entstanden, die solange sich ihr Lebensstandard verbessert, AKP wählen wird, da sie glauben, ihr diesen Wohlstand zu verdanken.
Um dieses Bild aufrecht zu erhalten, verkündete die AKP eine Reihe von umfangreichen Vorwahlgeschenken. So wurde unter anderem der Mindestlohn angehoben und zwei Einmalzahlungen an Rentnerinnen und Rentner von jeweils 1.000 Lira (knapp 200 €) verkündet. Gleichzeitig wurde das Schreckensbild der Instabilität, Unruhen und des daraus folgenden Wirtschaftskollapses vermittelt, sollte es nicht zur Wiederwahl Erdoğans kommen.
Außerdem versucht Erdoğan durch die Hochhaltung des Nationalismus die Klassenwidersprüche zu verwischen und eine Stimmung zu schaffen, die die türkische Bevölkerung künstlich einen soll – natürlich nur die türkisch-islamische. Er versuchte die nationalistische Euphorie um die militärische Besatzung von Afrin (Nordsyrien) als Stimmen für die AKP zu nutzen und phantasierte von einem Großosmanischen Reich.
Krise
Doch schon längst steuert die Türkei auf eine tiefe wirtschaftliche Krise zu und die AKP weiß, dass dies ihr Untergang sein könnte. Darin lag auch einer der Gründe für die vorgezogene Wahl. Schon längst steigt der Wohlstand der Massen nicht mehr. Das Wirtschaftswachstum betrug 2011 noch satte 11% und ist auf 4% gesunken. Doch selbst diese 4% sind nichts anderes als das Aufpumpen einer riesigen Spekulationsblase in der türkischen Wirtschaft. Die hohen Wachstumsraten wurden nicht zuletzt in einem Bauboom geschaffen und durch niedrige Zinsraten und hohe Staatsausgaben ohne entsprechende Einnahmen lange aufgebläht. Die Folgen sind explodierende Schulden im privaten und staatlichen Sektor. Das Außenhandelsdefizit ist ebenfalls katastrophal.
Die türkische Währung Lira ist nur noch 19 Cent wert, die Inflation liegt bei über 12% und das bei stagnierenden Billiglöhnen und meist einem Arbeitstag von zwölf Stunden. In der Arbeiterschaft brodelt es, ein immer größerer Teil spürt, dass es so nicht weitergehen kann und betritt die politische Bühne. Die Angst davor ist bei den Herrschenden angekommen und so nutzt die Regierung den Ausnahmezustand, um Streiks zu verbieten und mithilfe der Polizei zu zerschlagen. Doch auch das schüchtert viele nicht mehr ein. So haben im Februar 130.000 Metaller trotz Verbotes gestreikt, bis der Unternehmerverband einen Großteil der Forderungen übernahm.
Ein anderes Beispiel von Streik im Ausnahmezustand fand letztes Jahr beim Glasproduzenten Şişecam statt. Dort verlangsamten die Beschäftigten die Produktion und besetzten schlussendlich sogar die Fabrik, bis sie sich einen Tarifvertrag erkämpft haben. Noch sind die Arbeitskämpfe und Streiks isoliert und vereinzelt, da nur etwa 6% der Lohnabhängigen in der Türkei gewerkschaftlich organisiert sind und die Gewerkschaften sehr hierarchisch geführt werden. Aktive Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter werden oft in ihren Betrieben als Aufrührer oder gar Vaterlandsverräter verschmäht, doch das wird sich beim weiteren Einbruch der Lebensverhältnisse und durch weitere Siege der Arbeiterbewegung ändern. Den Menschen wird immer klarer, dass der Nationalismus ihren Lebensstandard nicht sichert, sondern ihnen ihre Kinder im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung nimmt und sie immer weiter, immer erbarmungsloser ausbeutet im Namen der Nation!
İyi als Oppositionspartei?
Für manche enttäuschte AKP/MHP-Wählerinnen und Wähler mag die İyi als eine Alternative erscheinen. Die Partei erhielt mit Unterstützung der CHP aus dem Stand fast 10% und gibt sich als Opposition zu Erdoğan. Ihre Präsidentschaftskandidatin, die ehemalige Innenministerin Meral Aksener, warb mit Forderungen nach Vermögensumverteilung, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, einem besseren Bildungssystem und einem demokratischen Parteiengesetz. Doch das İyi-Spitzenpersonal setzt sich vor allem aus ehemaligen MHP-Funktionären zusammen und ist extrem nationalistisch. Aksener selber verachtet Flüchtlinge, folgt dem faschistischen Wolfsgruß und war als Innenministerin für ihre repressive und autoritäre Politik bekannt. All ihre Bekenntnisse zur Demokratie sowie zur sozialen Gerechtigkeit sind nichts als Heuchelei. Ihr erklärtes Ziel ist es, die Kurden-Frage militärisch zu lösen, was den Bürgerkrieg neu entfachen würde und letzten Endes die Arbeiterschaft zum Stillhalten drängen und weitere Opfer in all ihren Lebensbereichen zur Folge haben würde. Das alles wird erneut im Namen der Nation gerechtfertigt.
Noch mag sie als Ausdruck des Protestes für manche Wählerinnen und Wähler eine Berechtigung haben, doch im Grunde bedient die İyi nur den Nationalismus. Doch dieses Feld wird am erfolgreichsten schon durch die AKP besetzt und so wird die Partei bald ihren Protestcharakter verlieren und in der Parteienlandschaft versinken.
Perspektive und HDP
Die linke und prokurdische HDP hat sicher keinen leichten Stand im konservativen und teils rassistischen Mainstream, doch umso wichtiger ist es, dass sie sich klar als Arbeiterpartei aller Völker definiert. Mit Anbiederung an den Mittelstand oder anderen reformistischen Illusionen wird sie es nicht schaffen, die Arbeiterinnen und Arbeiter aufgrund ihrer Klassenbasis zu vereinen und das Erdogan-Regime durch revolutionäre Aktionen der Massen zu stürzen. Die Aufgabe von Revolutionären, in der Türkei insbesondere der HDP, ist es, die Bewegung mit den kommenden Arbeitskämpfen zu verbinden, diese voranzutreiben und die Massen bei ihrem Prozess zu begleiten und zu unterstützen. Dafür ist es allerdings notwendig, dass die Tendenz zur Aufweichung Richtung Liberalismus innerhalb HDP gestoppt wird. Doch auch hier gibt es in der Partei richtige Ansätze. So wurden diesmal offen revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten ins Parlament gewählt. Sie muss sich klar positionieren und deutlich machen, dass ihr Rätesystem nichts mit bürgerlichen Demokratien gemein hat. Es ist weitaus progressiver als alles, was der Westen praktiziert, es greift die bestehende Ordnung dieser Welt an, indem es die Macht aus den Parlamenten in die Hände der Menschen legt.
Illusionen darin, dass die EU so ein System dulden oder sogar gutheißen würde, sind naiv. Jegliche Rätedemokratien der Geschichte, seien es nun die Räte in der Novemberrevolution 1918 in Deutschland, die Pariser Kommune oder die Russische Revolution, sie alle wurden von den kapitalistischen Mächten bis aufs Blut bekämpft. Daher ist es notwendig, dass die kurdische Arbeiterpartei in allen Ländern dieser Welt, Mitstreiterinnen und Mitstreiter um ein revolutionäres, antikapitalistisches Programm organisiert und es offensiv nach außen trägt. Nur so hat eine, wie sie es nennen, „radikaldemokratische“ Gesellschaft Zukunft. Zum Teil geschieht das schon, doch noch sehr vage. Es muss offen auf die arbeitende Klasse dieser Welt zugegangen werden, denn der Kampf, den die kurdische Bewegung führt, ist kein geringerer als ein Kampf zur Befreiung der Menschheit in ihrer Gesamtheit.
Die Krise, in die die Türkei immer tiefer hinab schlittert, ist von den Bürgerlichen nicht aufzuhalten. Es ist eine organische Krise des Kapitalismus und all ihr Material zur Krisenüberwindung haben sie bereits verschossen. Der Staatshaushalt ist längst kritisch überschuldet, Arbeitskraft ist billig, die Arbeitszeiten ausgedehnt, die Arbeiterschaft gereizt. Noch hält die Mehrheit still, doch die Gezi-Park-Proteste im Jahre 2013 haben gezeigt, dass manchmal ein zufälliger Funke wie das Fällen von einigen Bäumen, ausreicht, um das Land durch massive, militante Massenproteste zu erschüttern. Und das war erst der Anfang einer erwachenden Arbeiterklasse, die sich immer mehr ihrer Kraft bewusst wird.
Die Revolution in Rojava kann dabei zu einem Leuchtfeuer der Hoffnung werden. Der Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben, das nicht den Zwängen des Marktes unterworfen ist – einem System frei von Unterdrückung. Doch um diese Kraft vollends entfalten zu können, ist ein Bruch mit dem kapitalistischen Privateigentum an den Produktionsmitteln und dem Großgrundbesitz nötig.
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