Zu Beginn berichteten die Funke-Redakteure Hans-Gerd Öfinger und Maria-Clara Roque von einem Aufenthalt im südfranzösischen Marseille, das auch von der Bewegung der Gelbwesten erfasst wurde. In der Mittelmeermetropole kam es zum Schulterschluss verschiedener Demonstrationen – Gelbwesten, Klimaschützer, Mieterbewegung. „Gelbe, grüne und rote Westen lieben unseren blauen Planeten“, „Systemveränderung statt Klimawandel“ oder „Grüne und gelbe Westen – ein gemeinsamer Kampf“ waren hier gängige Parolen. Viele Jugendliche hatten sich hier vor allem durch die Polizeigewalt gegen die Demonstrierenden politisiert und an den Demos teilgenommen. Hier würde eine ganze neue Generation von Aktivisten heranwachsen, so Hans-Gerd Öfinger.
Anschließende folgte ein längerer Gastbeitrag von Daniel Gauthier aus Frankreich. Er hatte viele Jahre in Wiesbaden gewohnt und war in Attac und der LINKE-Stadteilgruppe Westend aktiv. Daniel lieferte interessante Informationen aus erster Hand. In seinem Wohnort, einer Kleinstadt im ländlichen Frankreich, nahm er an den örtlichen Aktionen der Gelbwesten teil. In der als konservativ geltenden Region Deux Sevres hatten sich auch viele Menschen durch die Bewegung der Gilets Jaunes politisiert und radikalisiert und gingen in ihrem Leben überhaupt erstmals demonstrieren. Auslöser der Bewegung war die angekündigte Erhöhung der Mineralölsteuer. Dies gerät vor allem der Bevölkerung ländlicher Regionen zum Nachteil, weil hier sehr viele arbeitende Menschen aufgrund eines schlechten Öffentlichen Nahverkehrs auf das Auto angewiesen sind, um den Arbeitsplatz und die nächst größere Stadt zu erreichen. Ebenso beschrieb er die auch in Deutschland bestehende große Kluft zwischen Stadt und Land in Frankreich. Durch die Privatisierung und Schließung kommunaler Krankenhäuser sind viele Menschen gezwungen, lange Strecken bis zum nächsten Krankenhaus zu fahren. Schlechte Vernetzung und Infrastruktur sind unter anderem Folgen der Privatisierung von Post und Telekom. Hohe Steuern und Abgaben wirken sich stark auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse und Rentner aus.
Die angekündigte Erhöhung der Mineralölsteuer wurde so zum Auslöser der Bewegung. Die Gründe liegen aber viel tiefer – in der Gärung, welche in den letzten zehn Jahren aufgrund neoliberaler, bürgerlicher Politik innerhalb der französischen Gesellschaft eintrat. Diese Privatisierungs- und Kürzungspolitik ging jedoch nicht geräuschlos an der Arbeiterklasse vorbei, sondern fand etwa in den Massenprotesten 2005, in den Studentenprotesten 2006, der Streikbewegung gegen die Arbeitsmarktreform 2016 sowie im Eisenbahnerstreik im Frühjahr 2017 ihren Ausdruck. Genau wie in Deutschland nimmt auch in Frankreich die allgemeine Parteibindung und Loyalität zu traditionellen Parteien ab. Die Sozialistische Partei (PS) und die Kommunistische Partei (PCF), welche über Jahrzehnte breite Unterstützung in weiten Teilen der Arbeiterklasse hatten, befinden sich momentan auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit. Befeuert wurde dies zuletzt durch die Präsidentschaft von François Hollande (PS), welcher eine Politik nach dem Vorbild des SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder betrieb.
Der vor seiner Wahl zum Präsidenten 2017 als „sozialliberal“ und dem „politischen Zentrum“ zugehörig beschriebene Investmentbanker Emmanuel Macron hat relativ schnell nach seinem Wahlsieg sein wahres Gesicht gezeigt und die Sozialkosmetik weggewischt. Für die herrschenden Klasse in Frankreich ist der ehemalige Wirtschaftminister der ideale Kandidat, um neoliberale Konterreformen gegen die arbeitende Bevölkerung durchzuführen, vor denen seine Amtsvorgänger Sarkozy und Hollande bislang zurückgeschreckt sind. Macron will eine weitgehende Prekarisierung des Arbeitsmarktes sowie eine Ausweitung des Niedriglohnsektors in Frankreich umsetzen, was ganz im Interesse der französischen Kapitalistenklasse liegt. Die Menschen, die im letzten Jahr aus verschiedenen Gründen Macron wählten, sind besonders wütend. Mittlerweile erhält Macron nur noch von 26 Prozent der Bevölkerung Unterstützung, während laut Umfragen rund drei Viertel der Bevölkerung mit den Gelbwesten sympathisieren. Gauthier verglich die aktuelle Situation Macrons mit der des ehemaligen Staatspräsidenten Charles de Gaulle im Mai 1968. Dieser floh aus Angst um seine Macht während des revolutionären Generalstreiks nach Baden-Baden. Doch eine Woche später saßen er und seine Regierung wieder fest im Sattel. Dazu trug damals die verräterische Politik der KP- und Gewerkschaftsführung bei.
Eine linke Alternative zur Politik Regierung stellt für viele Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise (FI, Unbeugsames Frankreich) dar. Jedoch weist der FI einige organisatorische und programmatische Schwächen auf. So versteht sich der FI mehr als Bewegung als eine Partei. Auch geht das ehrgeizige Reformprogramm nicht über die Grenzen des Kapitalismus hinaus. Währen der Gelbwestenproteste konnte der rechte Front National (FN), welcher im letzten Jahr von vielen enttäuschten und demoralisierten Arbeitern gewählt wurde, keinen stärkeren Zuspruch erlangen. Zwar wenden sich rechte Führer wie Marine Le Pen demagogisch an die Arbeiterklasse, doch wenn es drauf ankommt, zeigen sie ihren wahren Klassencharakter, scheuen unkontrollierte Massenbewegungen und rufen zur „Ruhe“ auf. Schließlich sucht Le Pen momentan eine Anbiederung an die konservativen Republikaner und hat ihre Partei in Rassemblement National umbenannt.
Am Ende diskutierten wir noch über einige wichtige Fragen und Perspektiven der Bewegung und ob es eine solche Bewegung auch in Deutschland geben könnte. Während der FI in jenen Tagen, wenn auch etwas verspätet, Solidaritätsdemonstration veranstaltete, tut sich die Führung der Gewerkschaft CGT schwer, sich mit den Gelbwesten zu solidarisieren. Jedoch bekundeten einzelne CGT-Regionalgliederungen, Basis- und Betriebsgruppen ihre Solidarität. Die Gewerkschaftsführung rief daraufhin zu Aktionstagen, nicht jedoch zu dem notwendigen Generalstreik auf. Ähnlich schwer tut sich die Führung des DGB und der hiesigen LINKEN, deren Vorsitzender Bernd Riexinger sich tagelang sehr abwertend über die Gilets Jaunes geäußert hatte. Selbst wenn es zu einem Abschlaffen der Bewegung kommen sollte, werden in Zukunft aufgrund der neoliberalen Politik Macrons noch weitere Klassenkämpfe in Frankreich stattfinden. Der Politik Macrons kann die französische Arbeiterklasse jedoch nur auf der Basis eines revolutionären Programms mit sozialistischen Übergangsforderungen im Interesse der lohnabhängigen Bevölkerung gegenübertreten. Die einzige fortschrittliche Lösung liegt darüber hinaus in der Vergesellschaftung der Großkonzerne und Banken und der Kampf für den Sozialismus. Aber nicht nur in Frankreich, sondern international.
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