Denn im Gegensatz zu den anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa, welche sich in den vergangen Jahren durch eine kapitalfreundliche und von Kontereformen gegen die Arbeiterklasse geprägte Politik bei dieser diskreditiert hatten, macht Labour aktuell einen noch nie dagewesenen Linksruck durch, der mit der überraschenden Wahl Jeremy Corbyns zum Parteivorsitzenden 2015 einsetzte. Die begeisterte Unterstützung der auf dem Kongress anwesenden Arbeiter und Jugendlichen für linke, antikapitalistische Ideen brachte dies zum Ausdruck.
Schon vor zwei Jahren hatte Corbyn das radikalste Wahlkampfmanifest seit den 1950ern vertreten, in dem er sich u.a. für die Verstaatlichung der Eisenbahnen und der Wasser- und Energieversorgung aussprach. Trotz des Linksrucks der letzten Jahre darf aber nicht übersehen werden, dass noch zahlreiche KarrieristInnen aus den Blair-Tagen in der Partei Führungspositionen im Parteiapparat und in der Parlamentsfraktion bekleiden und nur auf die passende Gelegenheit warten, um Corbyn in den Rücken zu fallen. Die Abspaltung von sieben Labour-ParlamentarierInnen im Februar dieses Jahrs hat gezeigt, wozu die Blair-Anhänger (Blairites) fähig sind, wenn sie ihre Karrieren in Gefahr sehen. Tony Blair war Premierminister von 1997 bis 2007 und ein Zeit- und Gesinnungsgenosse des früheren SPD- Kanzlers Gerhard Schröder.
Nun wurden beim jüngsten Parteitag weitere markante linke Forderungen beschlossen, die bei der nächsten Wahl im Programm der Labour Party zu lesen sein werden, wie etwa die Einführung einer 32-Stunden-Woche, die Abschaffung von Privatschulen, ein Nationales Pflegesystem analog zum staatlichen Gesundheitsdienst NHS, eine Ausweitung des öffentlichen Eigentums, die Umsetzung eines "Green New Deal" mit der Überführung der Energiekonzerne in öffentliches Eigentum sowie das Ziel eines klimaneutralen Großbritanniens bis 2030 beschlossen. „Unsere Partei muss für die 99%, nicht für die 52% oder 48% da sein“, brachte es Corbyn in Anspielung auf den knappen Ausgang des Brexit-Referendums 2016 treffend auf den Punkt und setzte damit die Klassenfrage, im Gegensatz zum Brexit, in den Mittelpunkt.
Bei der Antragsberatung stand auch die Wiedereinführung der ehemaligen Clause 4 auf der Tagesordnung, also jenes historischen Labour-Satzungsparagraphen, der als zentrale Zielsetzung der Partei Gemeineigentum an Produktionsmitteln und Kontrolle durch die arbeitende Bevölkerung festschreibt. Eine entsprechende Kampagne mit dem Namen Labour4Clause4 wurde Anfang 2018 an der Basis der britischen Labour Party und der Gewerkschaften von unserer britischen IMT-Schwesterorganisation Socialist Appeal gestartet. „Privatisierung und Profitstreben sind gescheitert. Wir brauchen eine sozialistische Labour-Regierung“, so eine zentrale Aussage der Kampagne.
"Den mit Hand und Kopf Produzierenden die Früchte ihres Fleißes und die bestmögliche Verteilung davon zu sichern, auf der Grundlage von Gemeineigentum an Produktionsmitteln und des bestmöglichen Systems einer Verwaltung durch das Volk und die Kontrolle über jeden Industriezweig oder Dienstleistungsbereich", heißt es in der ursprünglichen Clause 4. So fand unter dem Eindruck der Russischen Oktoberrevolution und aufgrund der politischen Radikalisierung der britischen Arbeiterbewegung 1918 mit Clause 4 die sozialistische Zielsetzung Gemeineigentum an Produktionsmitteln Einzug in die Labour-Satzung.
Über Generationen stiftete diese Zielsetzung in der Satzung Identität in der traditionellen Arbeiterpartei. Tony Blair, Premierminister von 1997 bis 2007 und ein Zeit- und Gesinnungsgenosse des früheren SPD-Kanzlers Gerhard Schröder, war es auf dem Zenit seiner Macht gelungen, die traditionsreiche Arbeiterpartei programmatisch nach rechts zu rücken und eine Mehrheit für die Streichung von "Clause 4" aus der Parteisatzung zu organisieren. Er wollte die Labour Party zu einer bürgerlichen liberalen Partei machen. Doch die rechtssozialdemokratischen "Blairites", also die Anhänger des früheren Premiers Blair, die die Partei viele Jahre lang vollständig in die Arme des Kapitalismus getrieben haben, wurden auf dem Kongress stark zurückgedrängt.
Die Kampagne Labour4Clause4 stößt auf viel Unterstützung bei engagierten Gewerkschaftsmitgliedern, Arbeitern und Jugendlichen und hat in Parteigliederungen sowie bei Gewerkschaftstagen ein starkes Echo gefunden. Linke Parlamentarier und der Filmemacher Ken Loach gehören zu den Erstunterzeichnern. Auch Parteichef Jeremy Corbyn und sein Schatten-Schatzkanzler John McDonell haben Sympathie gezeigt.
Auf dem Kongress stimmte eine überwältigende Mehrheit von 62 Prozent der Delegierten aus den Parteiuntergliederungen in den Wahlkreisen für die Wiederaufnahme des Sozialisierungsartikels. Diese scheiterte jedoch am Widerstand und der Sonderstellung der Gewerkschaftsapparate mit ihren Blockstimmen. Die Frage wurde an eine Kommission übertragen und bleibt weiter in der Diskussion. Nun kommt es umso mehr darauf an, in allen Gewerkschaften eine grundlegende Veränderung und einen Linksruck zu erreichen. Versuche wie etwa durch Blair, die starke Verbindung von Labour zu den Gewerkschaften zu kappen, scheiterten in der Vergangenheit. Schon jetzt unterstützen allerdings einige Gewerkschaften (Post, Bäcker und Lebensmittel) die Kampagne „Labour4Clause4“.
Eine Wiederaufnahme von Clause 4 wäre von großer Bedeutung und hätte Signalwirkung weit über Großbritannien hinaus. Für den Erfolg oder Misserfolg einer künftigen Labour-Regierung ist diese Frage von zentraler Bedeutung. Eine Regierung unter Jeremy Corbyn, der einen staatlichen Anbieter von kostengünstigen Medikamenten schaffen will, darf es nicht nur bei der Verstaatlichung von Eisenbahnen und Energiekonzernen belassen. Ohne die Überführung von Banken und Großkonzernen in öffentliches Eigentum und demokratische Kontrolle der Wirtschaft durch die Beschäftighten wäre eine Labour-Regierung letztlich nicht erfolgreich.
Auch besteht die Gefahr, dass die in der Parlamentsfraktion nach wie vor stark vertretenen Blairites eine künftige Regierung Corbyn behindern oder gar sabotieren. Dies zeigten die aus dieser Ecke auf Corbyn einprasselnden Antisemitismusvorwürfe im vergangen Jahr. Bislang begünstigten die Satzungsbestimmungen amtierende Parlamentarier mit der Folge, dass sie für die nächsten Wahlen automatisch wieder antreten konnten und nicht von der Parteibasis gewählt werden mussten. Dies ruft nach einer gründlichen Demokratisierung der Partei. So muss die Basis in den Wahlkreisen das uneingeschränkte Recht erhalten, Parlamentskandidaten vor jeder Wahl neu zu nominieren und dabei gegebenenfalls auch altgedienten Abgeordneten das Vertrauen zu entziehen.
Unter dem Druck der "Blairites" hatte sich Corbyn für ein zweites Brexit-Referendum ausgesprochen, um den 2016 beschlossenen EU-Austritt doch noch in letzter Sekunde zu verhindern. Dies wäre "ein gefundenes Fressen" für Demagogen wie den konservativen Premier Boris Johnson und den rechten Nigel Farage, die sich als "Champions der Demokratie" aufplustern könnten, befürchtet Fiona Lali, IMT-Genossin und Parteitagsdelegierte der Wahlkreisorganisation (CLP) der Partei von Uxbridge im äußersten Westen der Hauptstadt London. Solche Forderungen lösen auch nicht die bestehenden krassen sozialen Ungerechtigkeiten im Land, warnt sie. “Statt Illusionen in die EU zu schüren, die Austerität, Angriffe auf Arbeitnehmerrechte und den nassen Tod zahlreicher Flüchtlinge im Mittelmeer zu verantworten habe, brauchen wir ein sozialistisches Europa", so ihre Überzeugung. "Auch Clause 4 wäre mit dem EU-Grundsatz freier Märkte und Kapital nicht vereinbar."
Im Falle von Neuwahlen dürfte Uxbridge schlagartig in das öffentliche Rampenlicht rücken. Boris Johnson hatte sich diesen lange als konservative Hochburg geltenden Wahlkreis als Sprungbrett für seinen langen Marsch in die Downing Street, den Amtssitz des Regierungschefs, ausgesucht und wurde hier zweimal in das Unterhaus gewählt. Doch bei der letzten Unterhauswahl im Juni 2017 war sein Vorsprung vor dem Labour-Kandidaten auf nur noch 5.000 Stimmen geschrumpft.
Um erstmals seit einem Jahrhundert einen amtierenden Premier im Wahlkreis zu schlagen, haben Labour-Basisaktivisten und Corbyn-Anhänger die Kampagne „Unseat Boris Johnson“ („Nehmt Boris Johnson den Parlamentssitz weg“), in welcher auch IMT-Mitglieder vor Ort aktiv sind. Das solche konservativen Wahlkreise kein verlorenes Gebiet für eine linke Labour Party sind, zeigt die Universitätsstadt Canterbury, die seit Generationen nur durch konservative Abgeordnete vertreten wurde. Doch beim letzten Urnengang konnte aufgrund einer dynamischen Kampagne die durch radikalisierte Studierende aufgefrischte örtliche Labour Party mit ihrer Kanidatin und Corbyn-Anhängerin Rosie Duffield diesen Wahlkreis erobern.
Um bei der nächsten Wahl Boris Johnson zu schlagen und um die oben genannten Programmpunkte in der Regierung durchzusetzen, muss Labour einen harten Bruch mit den Vertretern des Kapitals, den "Blairites" vollziehen, stark auf Klassenpolitik setzen und für ein sozialistisches Regierungsprogramm kämpfen. Denn eine linke Labour-Regierung, die Banken und Konzerne enteignet und sozialistische Poltik betreibt, wäre nicht nur fortschrittlich im Sinne der arbeitenden Klasse in Großbritannien, sondern wäre auch Ausgangspunkt für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa als fortschrittliche Alternative zur EU.
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