Was noch vor vier Jahren als das stabilste Land Europas galt, ist nun klar zu einem der politisch instabilsten geworden. Auslöser der anhaltenden politischen Krise war das 2016 abgehaltene Brexit-Referendum, was von der Mehrheit der Wähler mit Ja beantwortet wurde. Doch die wirklichen Gründe hierfür liegen deutlich tiefer. So erlebte Großbritannien, die einstige Industrie- und Weltmacht Nummer Eins, spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen systematischen Niedergang. Was einst ein Land mit kostenloser Bildung, niedrigen Mieten, guter Gesundheitsversorgung und Arbeitsbedingungen war, wurde sowohl unter Tory- als auch unter Labour-Herrschaft zum Vorzeigemodell für neoliberale Politik, Privatisierung und Zerschlagung öffentlicher Betriebe und Einrichtungen und gewerkschaftsfeindliche Gesetze und zum westeuropäischen Billiglohnland.
Die Weltwirtschaftskrise von 2008 verschärfte die Situation durch die Krisenbewältigungs- und Austeritätspolitik im Sinne der Bürgerlichen. So hat sich die soziale Lage für viele in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verschlechtert. So sind viele kleine private Haushalte hochverschuldet und völlig überlastet. Landauf landab leiden viele Gemeinden, die früher einmal blühende Industrielandschaften waren, unter kommunaler Finanznot. Atypische Beschäftigungsverhältnisse erhalten immer mehr Einzug im Dienstleistungsbereich und in der viel umworbenen Tourismusbranche. Infrastruktur und Gesundheitswesen sind durch Privatisierung und Sparpolitik stark heruntergewirtschaftet worden und gelten als rückständig und marode. In der Hauptstadt London, internationaler Finanzplatz und Wohnsitz der Superreichen, verschlingt ein Vollzeit-KiTa-Platz einen großen Teil des Nettomonatseinkommens eines Niedriglöhners auf der Grundlage der offiziellen staatlichen Mindestlohns von derzeit 8,21 Pfund.Neben hoher Obdachlosigkeit und Wohnungsnot ist das Phänomen Hunger kein Einzelfall mehr.
Diese Erfahrungen führten innerhalb der Arbeiterklasse zu einer Gärung und einer zunehmenden Anti-Establishment-Haltung, was sich erstmals besonders stark im Brexit-Referendum zeigte, also der Frage nach einem Verbleib in der Europäischen Union (EU) oder Austritt. Dies stürzte nicht nur Großbritannien, sondern auch die EU in die Krise. Der Niedergang des britischen Kapitalismus brachte auch Verwerfungen der politischen Landschaft mit sich. So wird die regierende Conservative Party (Tories), traditionell Vertreterin des Großkapitals und der weitsichtigeren und liberalen Teile des Adels, heute zunehmend von reaktionären und größenwahnsinnigen Aufsteigern und Kleinbürgern angeführt. Sie behaupten, Großbritannien könnte durch den Brexit wieder eine Weltmacht werden. Aktuell erhofft sich Johnson allein durch die "Brexit"-Rhetorik einen Wahlsieg. Die Auswirkungen eines Brexits auf die Arbeiterklasse sind noch nicht spürbar. So plant die Regierung Johnson etwa den Ausverkauf des staatlichen Gesundheitsdienstes National Health Service (NHS) an US-amerikanische Pharmakonzerne, was einem Generalangriff auf die britische Arbeiterklasse gleichkommen würde.
Die herrschende Klasse, die eigentlich keinen Brexit will, hat die Kontrolle über ihre traditionellen Parteien verloren. So ist der einzige Grund der Unterstützung der Banken und Konzerne für Johnson die Angst vor einer Labour-Regierung unter Jeremy Corbyn. Mit der Wahl Corbyns zum Labour-Chef 2015 setzte ein lange nicht mehr erlebter Linksruck in der Partei ein. Viele Arbeiter und Jugendliche, die die Labour Party schon lange abgeschrieben hatten, traten ein und belebten die Partei. So ist Labour zur aktuell größten politischen Partei Europas geworden. Dass man mit klassenkämpferischer Rhetorik und sozialen Fragen durchaus bei Wahlen Erfolg haben kann, stellte Corbyn 2017 unter Beweis, als er bei der damaligen Unterhauswahl mit 40 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis der Labour Party seit der Jahrtausendwende holte und nur zwei Prozent hinter den als Sieger geglaubten Tories lag. Auch im aktuellen Wahlkampf bringen sich viele Arbeiter und Jugendliche ein, um nach der Begeisterung beim jüngsten Parteitag für einen wirklichen Wandel (Real Change) zu kämpfen.
Gleichzeitig steht Corbyn von allem Seiten unter Druck, nicht zuletzt von den rechtssozialdemokratischen Blairites, welche in den letzten Jahren stark zurückgedrängt wurden und Corbyn vom Regierungssitz in der "Downing Street" fernhalten wollen. So sind diese auch an öffentlichen Diffamierungskampagnen der bürgerlichen Medien gegen Corbyn beteiligt. Die Antisemitismusvorwürfe sind nur ein Beispiel hierfür. Letztlich vertreten die Blairites sowie die Liberal Democrats (Liberale) die Interessen der herrschenden Klasse mehr als die Tories unter Boris Johnson.
Für eine sozialistische Labour-Regierung!
Die bürgerlichen Medien wollen uns glauben machen, dass Corbyn nur ein unpopulärer "Altlinker" sei und im Wahlkampf um die Übernahme der Regierung auf verlorenem Posten kämpfe. Hierbei verweisen sie auf den Abstand zwischen Labour und den Tories in den aktuellen Meinungsumfragen. Dass Meinungsumfragen jedoch keine Wahlen sind und stark vom tatsächlichen Endergebnis abweichen können, zeigte die letzte Parlamentswahl 2017 selbst. Während Labour damals in den Umfragen wenige Tage vor der Wahl noch weit hinter den Tories lag, holte die Partei die Tories bei der Wahl sogar beinahe ein.
Noch ist alles offen. Corbyn ist Hoffnungsträger für Millionen Menschen und kann auf eine Parteibasis zählen, die begeistert und motiviert von Haus zu Haus geht und Wahlkampf macht. Das Programm der Labour Party ist das am weitesten links stehende Programm einer größeren Partei, das den Wählern seit Jahren vorliegt. Es fordert die Verstaatlichung der Eisenbahnen, Energieunternehmen, Post, Telekom sowie der Pharmakonzerne und ein Ende der Austeritätspolitik. Doch den Worten müssen Taten folgen. Es ist ein klassisches (links-)keynesianistisches Programm und kein sozialistisches oder marxistisches. Dieses Programm verzichtet auf einen Bruch mit der Herrschaft des Kapitals und beschränkt sich auf einzelne, durchaus wichtige Verbesserungen für die Masse der arbeitenden Menschen. Doch angesichts einer heraufziehenden Wirtschaftskrise hätte eine solche Regierung sehr wenig Spielraum für positive Reformen. Eine Regierung Corbyn würde schnell auf Widerstand der Kapitalistenklasse stoßen. Vergessen wir nicht, dass 2015 auch die "linke" SYRIZA-Regierung unter Alexis Tsipras in Griechenland vor dem Kapital und der EU kapitulierte und somit den größten politischen Verrat seit Generationen an der griechischen und europäischen Arbeiterklasse seit Generationen beging. Eine konsequente Reformpolitik im Interesse der arbeitenden Menschen ist ohne Überführung von Banken und Großkonzernen in öffentliches Eigentum und demokratische Kontrolle der Wirtschaft durch die Beschäftigten nicht erfolgreich. Darum kämpfen wir für ein sozialistisches Programm in der Labour Party.
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