Auslöser des von den Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreiks ist die von der Regierung von Präsident Emmanuel Macron geplante "Reform" des französischen Renten- und Pensionssystems. Jedoch bedeutet der Begriff "Reform" hier keineswegs soziale Verbessserung und Fortschritt, sondern eine Anhebung des allgemeinen Renteneintrittsalters von bisher 62 auf 64 Jahre. Kurz gesagt bedeutet dies: Länger arbeiten, weniger Rente. Dies kommt einem Generalangriff auf die französische Arbeiterklasse gleich. Während das Eintrittsalter im Vergleich zu Deutschland als niedrig erscheint, ist Frankreich jedoch keineswegs ein "Rentenparadies": Schließlich sind viele Menschen aufgrund neoliberaler Reformen und Deregulierungen des Arbeitsmarktes in den letzten Jahren und angesichts von sinkendem Lebensstandard immer öfter dazu gezwungen, bis deutlich über die 62 Lebensjahre zu arbeiten, um sich und ihre Familie zu ernähren. Macrons Pläne, die vollen Rentenbezüge erst ab 64 Jahren auszuzahlen, würden die Situation für viele verschärfen, denn viele sind gesundheitlich so angeschlagen, dass sie gar nicht bis 64 durcharbeiten. Darum rief die Gewerkschaft CGT zusammen mit der FO, Solidaire und anderen Anfang Dezember zum Streik auf. Dieser Aufruf konnte Hunderttausende auf die Straße mobilisieren und die Beschäftigen verschiedener Sektoren und Betriebe üben nun knapp seit einem Monat den Schulterschluss gegen Macron und seine Reichen-Regierung.
“Riester” auf Französisch
Alleiniger Gewinner von Macrons Vorhaben sind die großen Banken und Versicherungskonzerne, die nach neuen Anlagemöglichkeiten suchen. In Deutschland hat dies in Form der vor 20 Jahren durch die Regierung des ehemaligen SPD-Kanzlers Gerhard Schröder durchgeboxten "Riester-Rente" und der danach von SPD-Vizekanzler Müntefering in der GroKo eingeführten "Rente mit 67" massiven Schaden angerichtet. So werden abhängige Beschäftigte bei sinkendem Rentenniveau und Anhebung des Eintrittsalters gezwungen, sich private Vorsorgemöglichkeiten zu suchen, was sich aber die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung auf Dauer nicht leisten kann. Somit ist zunehmende Armut im Alter, die in Deutschland erschreckende Ausmaße angenommen hat, auch in Frankreich vorprogrammiert.
Dies hat sich auch Macron zum Programm gemacht. Er will diese Konterreform nun zuerst bei den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sowie bei Berufsgruppen, in denen aufgrund arbeitsbedingter Belastung eine Frühverrentung möglich ist, in die Tat umsetzen. Das stößt auf großen Widerstand. Speerspitze in der derzeitigen Streikbewegung sind daher auch die Beschäftigen der staatlichen französischen Bahngesellschaft SNCF und der Pariser Verkehrsbetriebe (RATP). Sie gehören zu den wenigen gewerkschaftlichen Hochburgen in Frankreich, in denen noch viele soziale Standards und relativ gute und erträgliche Arbeitsbedingungen gelten. Besonders die Chéminots (Eisenbahner) können auf eine kämpferische Tradition zurückblicken. Soziale und betriebliche Verbesserungen konnten in den vergangenen Jahrzehnten von unten erkämpft bzw. Angriffe von oben abgewehrt werden. Gegen diese vermeintlichen "Privilegien" hetzen Macron und die bürgerlichen Medien und versuchen somit einen Keil zwischen die Masse der arbeitenden Bevölkerung zu treiben. Wie kampferprobt die französichen Eisenbahner sind, zeigte zuletzt am besten die dreimonatige Streikbewegung gegen die von Macron durchgeboxte "Bahnreform", welche eine zunehmende Liberalisierung und Privatisierung im französischen Schienenverkehr bedeutet. Hier machte allerdings die Gewerkschaftsführung einen Rückzieher.
Den Streikenden ist es gelungen, weite Teile des Landes und des öffentlichen Lebens lahmzulegen. So ist der Personenverkehr und der TGV-Hochgeschwindigkeitsverkehr zwischen den großen Metropolen und Ballungsgebieten und in die benachbarten Länder stark eingeschränkt. Ähnliches gilt für den öffentlichen Nahverkehr in der Hauptstadt Paris. Hinzu kommen die Kämpfe in weiteren Bereichen und es gelang diese zu verschmelzen. So streiken auch die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, LehrerInnen und Krankenhauspersonal und viele andere seit Beginn aktiv mit. An Heiligabend gaben die BaletttänzerInnen der Pariser Oper aus Protest gegen die Rentenreform und aus Solidarität mit den Streikenden eine Aufführung von Tschaikowskis Schwanensee unter freiem Himmel zum Besten.
Je länger der Streik andauert, umso mehr Solidarität und öffentliche Unterstützung erhält dieser aus der französischen Bevölkerung. Der Plan Macrons, durch einen mit den Gewerkschaften vereinbarten "Weihnachtsfrieden" die Bewegung zum Erliegen zu bringen, ist nicht aufgegangen. Vielmehr zeigten viele Menschen, die über die aufgrund des eingeschränkten Eisenbahnverkehrs Familienangehörige über die Feriertage nicht sehen konnten, ihr Verständnis für den Streik oder bekundeten gar Symphatie.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass momentan der Kampfgeist der Streikbewegung von 1995, wenn nicht sogar ein Hauch des revolutionären Generalstreiks von Mai 1968, auf den Straßen Frankreichs zu spüren ist. Viele sehen dabei besonders Parallelen zu 1995. Damals kündigte die konservative Regierung Juppé eine Reihe von Konterreformen, beginnend bei der SNCF, an, was Widerstand und eine massive Streikbewegung auslöste. Dies fand auch viele Symphatie bei deutschen Gewerkschaftern. Die Angriffe konnten zwar auf unbestimmte Zeit verschoben werden, jedoch wurde die Streikbewegung von der Teilen der Gewerkschaftsführung und insbesondere der CFDT sabotiert. Der aktuelle Streik läuft mit einer Dauer von einem Monat nun länger als 1995 und ist somit der längste Streik der französischen Geschichte seit über 30 Jahren. Auch beteiligen sich viele Jugendliche und die weiter kämpfenden Gilets jaunes (Gelbwesten), welche die am meisten ausgebeuteten Schichten der französischen Arbeiterklasse repräsentieren, am Streik und an den Protesten. Wichtig ist vor allem ein übergreifender Schulterschluss von Jugend und Arbeiterklasse, betonen unsere französischen IMT-Genossen. Denn auch Studierende und vor allem die Arbeiterkinder unter ihnen sind von der Kürzungspolitik im Bildungs- und Sozialwesen betroffen.
Vielerorts wurden spontane Demonstrationen mit massiver staatlicher Repression durch die berüchtigte Bereitschaftspolizei (CRS) bekämpft. Den Herrschenden in Frankreich und Europa sitzt offenbar noch immer die Angst vor einer Bewegung wie der der Gelbwesten vor einem Jahr, die einen sozialen Flächenbrand auslöste und bisher eher passive Schichten der Arbeiterklasse mitriss, im Nacken. Viele erfuhren bei den Polizeieinsätzen hautnah, auf wessen Seite der bürgerliche Staat und seine Organe in einer Situation wie jetzt in Frankreich stehen.
Und unsere Solidarität?
Streiken ist kein Zuckerschlecken, sondern erfordert große Opfer und viel Solidarität. Doch von Solidarität mit den Kollegen und Kolleginnen in Frankreich ist seitens des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und seiner Einzelgewerkschaften in diesen Tagen nichts zu spüren. Vielmehr wird das gesamte Thema in den allermeisten deutschen Gewerkschaftsmedien weitgehend verschwiegen und werden die Mitglieder nicht drüber informiert. Ist es manchen an der DGB-Spitze vielleicht peinlich, daran erinnert zu werden, dass sie die “Riester-Reform” vor 20 Jahren kampflos hinnahmen und keinen Widerstand gegen die Altersarmut leisteten, die uns heute zunehmend auf Schritt und Tritt begegnet? Der Zufall will es, dass in diesen Wochen auch in Deutschland eine Gewerkschaft gegen die SNCF streikt. Seit Dezember kämpft die Bahngewerkschaft EVG bei der deutschen SNCF-Tochter Eurobahn/Keolis um die Anerkennung als Tarifpartner. Warum gibt es keinen offensichtlichen Schulterschluss und keine Verschmelzung mit dem Kampf der französischen Eisenbahner? Nur wenige deutsche Gewerkschafter engagieren sich derzeit für Solidarität mit dem französischen Streik.
In Frankreich gibt es im Gegensatz zu Deutschland kein von der Gewerkschaft ausgezahltes Streikgeld für die Mitglieder. Zwar konnten durch beachtliche Summen an Spenden aus der Bevölkerung die Streikkassen etwas gefüllt werden. Doch ohne finanzielle Streikunterstützung sind angesichts der höher werdenden Lebenshaltungskosten einzelne Arbeiter etwa bei der SNCF wieder gezwungen, die Arbeit wieder aufzunehmen.
Neben fehlender internationaler Solidarität stellt sich vor allem die derzeitige Gewerkschaftsführung in Frankreich als großes Problem dar. So sucht die Führung nach einem Monat "Dampfablassen" das Gespräch mit Macron und will ihn von seinem Vorhaben abbringen. Die Hoffnung, in ihm einen “Sozialparntner auf Augenhöhe” zu finden, ist nichts weiter als ein Luftschloss. Die Stimmung an der Basis der Gewerkschaften ist weitaus radikaler und für eine Fortsetzung der Kämpfe.
Macron gibt sich hart und die Regierung macht derzeit keinen Schritt zur Rücknahme ihrer Pläne und will die "Rentenreform" wie geplant ganz durchboxen, wie der Präsident auch in seiner Neujahrsansprache klarmachte. Die Streikbewegung hat daher nur zwei Perspektiven: Sieg auf ganzer Ebene oder totale Niederlage. Für einen Sieg braucht es eine Ausweitung der Kämpfe im gesamten Öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft und ein revolutionäres Programm mit sozialistischen Übergangsforderungen im Interesse der lohnabhängigen Bevölkerung gegen die neoliberale Kürzungs- und Sparpolitik Macrons und zur Verteidigung sozialer Errungenschaften. Es ist höchste Eisenbahn für einen internationlen Schulterschluss der Arbeiterklasse und der protestierenden Jugend.
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