Auslöser für die Krise waren von einem türkischen Forschungsschiff durchgeführte und militärisch begleitete seismische Untersuchungen im Ägäischen Meer nahe der griechischen Insel Kastellorizo. Dabei kollidierte eine türkische Fregatte mit einem griechischen Schiff. Der türkische Präsident Erdogan reagierte prompt mit einer Warnung: „Wir haben es gesagt, wenn sie uns angreifen werden sie einen hohen Preis dafür zahlen. Heute haben sie unsere erste Antwort erhalten.“ Aber auch Frankreichs Präsident Macron ließ sich nicht lumpen und verstärkte umgehend Frankreichs militärische Präsenz in der Region, um „die Situation im Überblick zu behalten und Frankreichs Entschlossenheit auszudrücken, das Völkerrecht zu wahren.“ Die französische Regierung ist dabei natürlich nur an der „Aufrechterhaltung des Völkerrechts“ interessiert, solange es ihren eigenen Interessen dient.
Die Kohlenwasserstoffreserven im südöstlichen Mittelmeer erwecken die Begierde vieler – sie zu erschließen und zu kontrollieren hat einen regelrechten Wettlauf ausgelöst. Die Größe dieser Vorkommen in der Region wird auf 1,7 Millionen Barrel Erdöl und 70 Billionen Kubikmeter Erdgas geschätzt. Allein die Gasfelder sollen mehr als 700 Milliarden US-Dollar wert sein.
Innerhalb weniger Monate wurden zwischen den beiden Hauptkonkurrenten und anderen Ländern gleichberechtigte Vereinbarungen für die Aufteilung des östlichen Mittelmeeres geschlossen. Ende 2019 unterzeichneten Erdogan und der Ministerpräsident der libyschen Übergangsregierung, Fayez al-Sarraj, eine Vereinbarung, eine weitere wurde am 6. August dieses Jahrs zwischen Griechenland und Ägypten geschlossen.
Die Grundidee der türkischen Regierung ist die Meereshoheit im Mittelmeerraum – ein Ziel, dem die mit Tripolis unterzeichneten Abkommen perfekt entsprechen. Aus der Sicht Ankaras besteht das Ziel darin, die Gebiete der türkischen Seeverkehrsgerichtsbarkeit gemäß der nationalen Souveränität der Türkei von 1920 zu erneuern, zunächst mit dem Sanremo-Vertrag und dann mit dem Vertrag von Sévres.
Im Mittelmeer haben Griechenland und der griechische Teil Zyperns exklusive, sogenannte „ausschließliche Wirtschaftszonen“ (AWZ) eingerichtet, in denen die Offshore-Bohrungen von Konzernen wie Total, Eni und Exxon durchgeführt werden. Erdogan stellt europäische Landkarten in Frage und ebenso das Recht von der Türkei vorgelagerten Inseln auf AWZs. Er besteht darauf, dass der türkische Festlandssockel bis nach Ägypten und Libyen reicht. Es geht hier weder um die „nationale Souveränität“ noch um die demokratischen Rechte kleinerer Staaten. Der Streit zwischen Griechenland und der Türkei ist beidseitig reaktionär und wir Marxisten unterstützen keine der beiden Seiten.
Das blaue Vaterland der Türkei
Erdogans Parole lautet „Mavi vatan“ (Blaues Vaterland). Erklärtes Ziel ist die Kontrolle über das Meer zu erlangen, um Ressourcen beschlagnahmen und den Einfluss der Türkei vergrößern zu können. Dabei stützt er sich auf die militärische Macht des Landes. Die türkische Armee ist die zweitstärkste Streitkraft der NATO, was die Anzahl der Soldaten betrifft. Dieses expansionistische Bestreben trifft nicht nur auf die Gegenwehr Griechenlands, sondern auch insbesondere die seiner reichen Gönner einschließlich imperialistischer Mächte wie Frankreich. Auch Großmachtfantasien spielen hinein – aus dem Traum, eine Art Osmanisches Reich wiederaufzubauen, macht Erdogan keinen Hehl. Seine Ausdrucksweise beim letzten Zusammenstoß mit Griechenland ist in vielerlei Hinsicht auffällig:
„Wir haben genug von diesem Schattenspiel. Es ist komisch - die Türkei, die eine regionale und internationale Macht darstellt, mit einem Staat zu vergleichen, der nicht einmal der Aufgabe gewachsen ist, sich um seine eigenen inneren Angelegenheiten zu kümmern. Politische Akrobatik und Diplomatie reichen nicht mehr aus, um die Tyrannei der Länder zu verbergen, die sich als groß, stark und unbesiegbar betrachten. Alle feindlichen Akteure können sich vereinen, aber sie werden den Aufstieg der Türkei nicht aufhalten können.“ (2. September 2020) In diesem Zusammenhang lässt sich auch die provokante Entscheidung des „Sultans“ Erdogan, die Hagia Sophia von einem Museum in ein muslimisches Gotteshaus umzuwandeln, besser verstehen. Symbolträchtig ist auch, dass das ausgerechnet an dem Tag geschah, an dem 1923 der Vertrag von Lausanne unterzeichnet wurde, welcher die Grenzen des gegenwärtigen türkischen Staates festlegte. Erdogan bestreitet einen Zusammenhang.
Mit der globalen kapitalistischen Krise wird Erdogans Politik an Aggressivität zunehmen. Die türkische Wirtschaft schrumpfte im zweiten Quartal 2020 um knapp 10 Prozent. Dabei war das Land schon vor der Coronakrise in einem schlechten Zustand. Im Jahr 2019 wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur um magere 0,9 Prozent. Die Stärkung des US-Dollars führte zu einem Zusammenbruch der türkischen Lira, welche seit Jahresbeginn 20 Prozent ihres Wertes verlor. Das massive Handelsungleichgewicht kann nun nicht mehr durch Kapitalzuflüsse kompensiert werden, die bedingt durch COVID-19 erheblich geschrumpft sind. Ebenso lastet die Einschränkung der Wirtschaftstätigkeit und der Zusammenbruch des Tourismus schwer auf der türkischen Wirtschaft. Die jüngsten Zahlen der türkischen Außenhandelsbilanz deuten auf eine Katastrophe hin: Drei Milliarden Dollar Minus für den Monat Juli, womit der bereits im Mai gestartete Trend fortgesetzt wird. Die imperialistischen Aktivitäten der Türkei spiegeln teilweise den Wunsch der türkischen herrschenden Klasse wider, sich erneut als Großmacht zu etablieren und sind in gleichen Maße ein Versuch, die Massen von der sich zusammenbrauenden Krise und der wachsenden Armut abzulenken.
Ankara hat sich Hals über Kopf in den internationalen Wettbewerb gestürzt und versucht seinen Einflussbereich auszuweiten. Neben der Stärkung der Präsenz in den zuvor besetzten Gebieten in Zypern und Syrien kommen nun auch Militärstützpunkte in Albanien, Aserbaidschan, Libyen, Katar und sogar in Somalia hinzu. Gleichzeitig hat die Türkei über Vertretergruppen im Sudan, im Jemen, und sogar in Tunesien und anderen französischsprachigen westafrikanischen Ländern interveniert. Dies ist Ausdruck zunehmender Spannungen zwischen den Regimes in der Region. Es hat eine Neuausrichtung der Bündnisse stattgefunden. Diesbezüglich müssen wir uns das neueste „Normalisierungsabkommen“ zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten genauer betrachten. Neben dem offiziellen Beschluss, dass die arabische Bourgeoisie die Palästinenser ihrem Schicksal überlässt, wird die Intention der USA deutlich, mit Hilfe Israels einen Block zu schaffen (von einigen Kommentatoren bereits als „arabische NATO“ bezeichnet). Ziel ist es, dem Iran, der libanesischen Hisbollah (Verbündete Teherans) und Erdogan entgegenzuwirken. Dieser Block würde sich aus den reichen Monarchien in der Golfregion wie etwa den Emiraten, Saudi-Arabien und Ägypten zusammensetzen (mit Ausnahme Katars, das sich mit der Türkei verbündet hat).
Es ist kein Zufall, dass der Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate, Anwar Gargash, in einer Rede vor der Arabischen Liga feststellte: „Die Einmischung der Türkei in die inneren Angelegenheiten der arabischen Länder ist ein klares Beispiel für eine negative Einmischung in die Region“. Es ist auch ziemlich klar, dass das Abkommen zwischen den Emiraten und Israel weit davon entfernt ist, ein Friedensabkommen zu sein, und die gesamte Region nur noch weiter destabilisieren wird. Das Schüren eines türkischen Nationalismus kann lediglich dazu beitragen, das Unvermeidliche hinauszuzögern: Massenproteste, die Erdogans bereits im Niedergang begriffenes Regime erschüttern werden. Die doppelte Niederlage bei den letzten Bürgermeisterwahlen in Istanbul 2019 war ein erstes Anzeichen dafür.
Zudem lässt Erdogans Expansionspolitik in Europa und vor allem in Paris bereits die Alarmglocken läuten, denn Frankreichs Interessen kollidieren mit denen der Türkei. Die Intervention des französischen Imperialismus auf Seiten Griechenlands ist hauptsächlich der Tatsache geschuldet, dass das französische multinationale Unternehmen „Total“ bereits lukrative Verträge über den Abbau von Erdöl und -gas in der Region abgeschlossen hat und eine Änderung der AWZ diese Deals gefährden würde. Der Konflikt hat jedoch eine größere Bedeutung. In jedem einzelnen Land stehen Frankreich und die Türkei auf entgegengesetzten Seiten. „Wir müssen einen Pax Mediterranea schaffen, weil wir beobachten, dass eine imperiale Regionalmacht mit einer Art historischen Fantasie zurückkehrt und ich beziehe mich dabei auf die Türkei“, so Macron am 1. September 2020. Macrons „Pax Mediterranea“ hat nichts mit Pazifismus zu tun, sondern ist Ausdruck des Strebens nach französischer Vorherrschaft über das gesamte Mittelmeer. Die Rolle, die Macron nach der Explosion in Beirut gespielt hat, ist ein weiterer Beweis dafür. Macron ging erfolglos aus dem am 10. September auf Korsika abgehaltenen Gipfel der „Med7“ (bestehend aus sechs an das Mittelmeer angrenzende EU-Länder und Portugal) hervor. Kein EU-Land war bereit, für den Ruhm Frankreichs bis zum Tode zu kämpfen, insbesondere wenn Erdogan droht, für mehr als vier Millionen Flüchtlinge die Grenzen zu öffnen und sie gen Europa zu schicken. Pyrrhussieg in Libyen Die Spannungen werden nicht abklingen, doch bis vor zwölf Monaten schienen der mittlerweile abtrünnige General Haftar und seine Armee - unter anderem unterstützt von Frankreich, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten - unaufhaltsam zu sein und seine Eroberung von Tripolis wurde für selbstverständlich erachtet. Doch dann beschloss Erdogan anzugreifen und sein ganzes Gewicht hinter Sarraj einzubringen. Hunderte von Kämpfern wurden nach Tripolis geschickt - nicht von der regulären türkischen Armee, sondern von islamistischen Söldnerkämpfern aus Nordsyrien, wo sie gegen die YPG kämpften. Erdogan errang den Sieg auch dank der geänderten Haltung Russlands, das zunächst Haftar unterstützt hatte.
Putin gab Erdogan in Libyen im Rahmen von Abkommen mit der Türkei über Syrien grünes Licht für das türkische Eingreifen in Libyen und lieferte russische S-400-Raketen an Ankara. Während Sarraj in die Türkei reiste, um den amerikanischen Botschafter zu treffen, wurden Anfang Juni sowohl sein Stellvertreter als auch der Außenminister von Tripolis in Moskau empfangen. Eine Woche zuvor waren die Söldner der Wagner-Gruppe (eine mit dem russischen Staat verbundene paramilitärische Truppe) aus Libyen geflohen. Im April war der Rückzug der Wagner-Gruppe entscheidend für die Eroberung von Tarhuna (dem für Haftar wichtigsten logistischen Stützpunkt auf dem Weg nach Tripolis) durch die Streitkräfte der Übergangsregierung. Haftar lernte auf die harte Tour, dass imperialistische Staaten keine permanenten Freunde und Verbündete haben, sondern nur permanente Interessen.
Erdogans Erfolge in Libyen waren die Vorboten der gegenwärtigen Eskalation. Wie bereits erwähnt, wurde im Rahmen des Abkommens mit Libyen eine AWZ eingerichtet, die sich von den Küsten der Türkei bis zu den Küsten Libyens erstreckt. Nun möchte Ankara die Offshore-Gasvorkommen an den Küsten Griechenlands und Zyperns erschließen, an denen auch Eni, Total und amerikanische Konzerne ein großes Interesse haben. Der Sieg des Sultans ist also nicht frei von Konsequenzen, sondern nur der Auftakt für neue internationale Krisen. Die regionale Krise nimmt einen immer schärferen Verlauf, was zu ernsthaften militärischen Konfrontationen führen kann. Dafür gibt es mehrere Gründe. Da ist zunächst die beispiellose Tiefe der gegenwärtigen wirtschaftlichen Rezession, aber es gibt auch ein allgemeineres Merkmal: die relative Schwächung des US-Imperialismus, die mehr Raum für den Aufstieg verschiedener regionaler Mächte lässt, jede von ihnen mit eigener politischer Agenda. Dies zeigt sich nirgendwo deutlicher als im Nahen Osten und Nordafrika.
So schreibt auch die griechische IMT-Sektion: „Die Aussicht auf einen Krieg zwischen der Türkei und Griechenland ist derzeit nicht die wahrscheinlichste Perspektive. Die herrschenden Klassen beider Länder verfolgen diese Absicht gerade nicht. Ein Krieg wäre für beide Länder wirtschaftlich katastrophal und würde ernsthafte Risiken für die Stabilität des Systems bergen. Die gefährlichen Machenschaften beider herrschenden Klassen könnten jedoch zu einer mehr oder weniger ernsthaften Konfrontation führen. In solchen Fällen besteht immer das Risiko, dass sie die Kontrolle über die Situation verlieren und in einen Krieg hineingezogen werden. Da sich die Krise der beiden bürgerlichen Regimes in beiden Ländern verschärft, besteht immer die Möglichkeit, dass eine der beiden herrschenden Klassen versucht, ihr Regime durch Erfolg in einer militärischen Konfrontation zu stabilisieren.“
Bei jedem „Friedensgipfel“ und bei jeder Versammlung multinationaler Gremien und Institutionen wird der Ruf nach „internationalem Konsens“ und „international vereinbarten Lösungen“ laut. Die Zeiten, in den wir leben, sind jedoch nicht von internationaler Zusammenarbeit, sondern vom Vorrang nationaler bürgerlicher, kapitalistischer Interessen geprägt. Der Nationalismus ist überall auf dem Vormarsch. Es ist der ideologische Deckmantel der herrschenden Klasse für Handelskriege und Wettbewerb zwischen den Ländern. Der Konflikt zwischen den USA und China ist bloß das bezeichnendste Beispiel, aber es gibt auch Konflikte zwischen den USA und der EU, sowie zwischen China und den mächtigsten Ländern der EU. Und dann gibt es kleinere Konflikte wie den zwischen Griechenland und der Türkei sowie in Libyen und Syrien, die im finsteren Schatten der imperialistischen Weltmächte stehen.
In der Nachkriegszeit und auf der Grundlage eines massiven internationalen Wirtschaftsbooms wären solche Konflikte unter der Aufsicht und Regie der USA und der Sowjetunion (UdSSR) relativ friedlich gelöst worden, aber heute ist dies nicht mehr möglich. In den Gebieten, in denen der Imperialismus sein Erbe in Form von tiefsten nationalen Spaltungen und Rivalitäten hinterlassen hat, werden Handelskriege und der Wettstreit um Einflusssphären auch in offene militärische Konflikte umschlagen und unweigerlich an Bedeutung gewinnen. Regional- und Stellvertreterkriege werden in Zukunft an der Tagesordnung sein. Es ist die Pflicht der Arbeiterklasse in diesen an das Mittelmeer grenzenden Ländern und im Nahen Osten einen unabhängigen und internationalistischen Klassenstandpunkt einzunehmen. Vor über hundert Jahren rief der deutsche Kommunist Karl Liebknecht aus: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ Diese Losung ist aktueller denn je und muss von allen bewussten Arbeitern und Jugendlichen verinnerlicht und uns ein Leuchtfeuer bei kommenden stürmischen Ereignissen werden!
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