In diesem Jahr hat es in einigen großen britischen Gewerkschaften wie Unite und Unison große Veränderungen gegeben. Was ist passiert?
John Russell: Sowohl bei Unite als auch bei Unison hat es in diesem Jahr Veränderungen in der Führung gegeben, die den Wandel der großen Gewerkschaften unter der Oberfläche widerspiegeln. Bei Unite wurde Sharon Graham von den Mitgliedern zur Generalsekretärin gewählt – eine Außenseiterin, die den rechten Flügel und die etablierte Linke überrascht hat. In Unison wurde der NEC (die Bundesleitung) – das führende Gremium der Gewerkschaft – vom linken Flügel unter dem Motto „Time for real change“ gewonnen. Bei der Wahl des Unison-Generalsekretärs kam Paul Holmes – Teil dieser Kampagne – auf den zweiten Platz und hätte gewonnen, wenn nicht aufgrund von sektiererischen Taktiken die Stimmen der Linken gespalten worden wären. Leider ging dieses Amt am Ende an den rechten Flügel, so dass der Kampf innerhalb der Gewerkschaften weitergeht.
Wie war die Situation in den Gewerkschaften vor diesen jüngsten Veränderungen?
JR: Unite und Unison sind die größten Gewerkschaften im Vereinigten Königreich und vertreten jeweils rund 1,3 Millionen Mitglieder. Unison war jahrzehntelang eine Bastion des rechten Flügels der Gewerkschaftsbewegung, während die vorherige Führung von Unite zwar nominell links stand, aber letztlich Teil des alten Establishments war. Beide Gewerkschaften sind kolossale Apparate voller Bürokraten, die seit Jahrzehnten von ihren Vergünstigungen und hohen Gehältern profitieren.
Woher kommt dieser Linksruck?
JR: Die wachsende Zahl der Mitglieder lechzt nach kämpferischen Gewerkschaften. Insbesondere im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie haben sich die Angriffe auf Löhne und Arbeitsbedingungen verstärkt. Viele zuvor nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiter sind den Gewerkschaften beigetreten und suchen nach echten Lösungen.
Nach der Demoralisierung vieler Sozialisten und Aktivisten in der Labour-Party wandten viele ihre Energie den Gewerkschaften zu und stellten fest, dass die bestehende Führung unzulänglich war. Fast eine halbe Million Menschen traten der Labour Party auf der Grundlage der von Corbyns Führung vertretenen sozialistischen Ideen bei – ein erheblicher großer Teil dieser Menschen wurde nun aus der Labour Party ausgeschlossen oder hat sie aus Abscheu vor der neuen rechten Führung verlassen. Bei diesen Aktivisten handelt es sich um Menschen aus der Arbeiterklasse, die auch Gewerkschaftsmitglieder sind – und die konzentrieren ihre politische Energie jetzt dorthin.
Diese beiden großen Gewerkschaften haben auf dem Labour Parteitag 2019 die radikale sozialistische Politik gebremst, indem sie die obligatorische Wiederwahl von Abgeordneten und den Antrag zur Wiedereinführung von der Klausel 4 (Sozialisierung von Schlüsselindustrien, Infrastruktur, usw.) abgelehnt haben. Diese Gewerkschaften verfügen auf diesem Parteitag über eine große Blockstimme. Labour-Aktivisten, die dies miterlebt haben, werden die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen haben: Auch in den Gewerkschaften, die durch tausend Fäden mit der Labour Party verbunden sind, ist ein Wandel erforderlich.
Wie konnte der linke Flügel gewinnen?
JR: Der Sieg war in vielerlei Hinsicht ein Schock für die Linke wie für die Rechte – insbesondere für die etablierte Linke, die mit dem Sieg ihrer angepassten Kandidaten gerechnet hatte. Diese Siege wurden vor allem durch Kampagnen an der Basis und durch das Aufzeigen einer radikalen und klaren Alternative erreicht.
Die Mitglieder haben die Krise des Kapitalismus während des letzten Jahrzehnts und insbesondere in den letzten Jahren beobachtet und gesehen, wie sich dies in ihren Arbeitsbedingungen und Löhnen widerspiegelt. Wie wir wissen, gibt es in der Gesellschaft im Allgemeinen einen massiven Hunger auf Veränderungen.
In Unison wurde die Kampagne „Time for Real Change“ vom linken Flügel aufgebaut, durch eine Einheitsfront linker Aktivisten in der Gewerkschaft. Der Sieg der Linken im NEC beruhte auf dem Erfolg der Kampagne von Paul Holmes für das Amt des Generalsekretärs einige Monate zuvor – es ging also darum, über mehrere Kampagnen eine gewisse Dynamik aufzubauen.
Wie hat die Gewerkschaftsbürokratie dagegen angekämpft?
JR: Der Kampf in der Gewerkschaft Unison zwischen der gewählten linken Führung und der rechten Bürokratie hat einen neuen Höhepunkt erreicht, wobei die Bürokraten mit rechtlichen Schritten drohen. Der rechte Flügel hat versucht, Beschlüsse des NEC für „illegal“ zu erklären, da sie die Befugnisse des NEC überschreiten.
Die Linken sollten zwar nicht ausschließen vor Gericht zu gehen und sich darauf vorbereiten, den Prozess zu gewinnen, doch sollte sie in der Realität nicht viel Vertrauen in dieses Verfahren haben. Die Gerichte sind keine Freunde der Arbeiterbewegung. Das haben wir daran gesehen, wie sie immer wieder von den Bossen eingesetzt wurden, um Streiks der Beschäftigten zu verhindern. Diese Institutionen sind Teil des Establishments. Manchmal können sie sich zwar auf die Seite der Linken schlagen, um den Anschein der Unparteilichkeit zu wahren, aber darauf kann man sich nicht verlassen. Den Rechten würde es nur so passen, wenn die Linken in den Gerichten festsitzen würden.
Die wichtigste Aufgabe der Linken muss darin bestehen, ihren Aufruf an die Basis der Gewerkschaft zu richten. Sie sollten so bald wie möglich eine nationale Unison-Sonderkonferenz einberufen – das höchste Gremium der Gewerkschaft, das sich aus den Delegierten der Mitglieder zusammensetzt. Lasst die Basis entscheiden! Das ist weitaus besser, als vor Gericht zu gehen und die Sache in die Hände eines Richters zu legen.
Haben sich Taktik und Strategie der Gewerkschaften in den Arbeitskämpfen durch den Führungswechsel verändert?
JR: Die Veränderungen sind noch nicht lange her, und der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Die Rechten werden diesen Sieg der Linken nicht einfach so hinnehmen, und sie kontrollieren immer noch den bürokratischen Apparat. Insbesondere in der Gewerkschaft Unison ist die neu gewählte Führung des NEC – obwohl von den Mitgliedern unterstützt – zwar im Amt, aber letztlich nicht an der Macht. Die Entscheidungen werden von nicht gewählten Beamten hinter dem Rücken der Mitglieder getroffen.
Aufgrund dieser jüngsten Entwicklungen haben sich jedoch bereits Veränderungen in den Gewerkschaften abgezeichnet. Auf der nationalen Unite-Konferenz im Oktober dieses Jahrs wurde berichtet, dass die Zahl der von der Gewerkschaft organisierten Urabstimmungen im Vergleich zum letzten Jahr um 60 Prozent gestiegen ist. Auf dieser Konferenz verabschiedete die Gewerkschaft auch eine Reihe linker Anträge, darunter der Antrag von Socialist Appeal, sich für eine neue sozialistische Clause 4 einzusetzen.
Warum brauchen wir kämpfende Gewerkschaften? Und was ist falsch an Kompromissen?
JR: Ein Kompromiss mit den Bossen bedeutet einen Kompromiss zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. In der derzeitigen Wirtschaftslage sind Angriffe auf Arbeitsbedingungen, Löhne und Arbeitsverträge an der Tagesordnung. Der Kapitalismus befindet sich in einer Krise, und alles, was er der Arbeiterklasse anbieten kann, sind Kürzungen. Die Menschen der Arbeiterklasse brauchen Gewerkschaften, die diese Angriffe nicht einfach so hinnehmen.
Welche Rolle spielen die Marxisten während dieser Prozesse in den Gewerkschaften?
JR: Die Rolle der Marxisten in diesem Prozess muss darin bestehen, der Bewegung das politische Rückgrat zu geben und eine langfristige Perspektive zu bieten. Wir müssen unsere Perspektiven für eine echte radikale Umgestaltung der Gesellschaft klar und deutlich darlegen, denn das sind die Ideen, die wirklich bei den Menschen ankommen. Wir müssen die Linken auffordern, sich nicht in die Hinterzimmer-Taktik der Rechten verwickeln zu lassen, indem sie die Massen der Mitglieder in die Aktion gegen die alte Bürokratie einbezieht. Die Arbeiter suchen nach Antworten, nach einer kämpferischen Führung, die sie aus dem Schlamassel herausführt.
Socialist Appeal hat eine wichtige Rolle im linken Flügel innerhalb Unison gespielt. Ein Genosse hat einen Sitz im neuen linken NEC eingenommen und wir konnten dort als eine Organisation zuverlässiger Basisaktivisten mit einem starken politischen Verständnis der ablaufenden Prozesse auftreten.
Was können wir aus diesem Kampf lernen?
JR: Erstens, dass der Hunger auf eine revolutionäre Führung in den Organisationen der Arbeiterklasse vorhanden ist. Zweitens, dass der rechte Flügel alles in seiner Macht stehende tun wird, um den Aufstieg einer solchen Führung zu verhindern. Drittens, dass der linke Flügel dies nur bekämpfen kann, indem er die Massen an Mitgliedern in den Kampf für eine sozialistische Politik für die Arbeiterklasse in ihren Gewerkschaften einbindet.
Was sind unsere Perspektiven? Was können wir tun?
JR: Es ist noch ein langer Weg, aber mit dem Tempo der heutigen Ereignisse können die Dinge in relativ kurzer Zeit drastisch umschlagen. Vor allem in Unison besteht die unmittelbare Aufgabe für den linken NEC darin, der rechten Bürokratie die Kontrolle über die Partei zu entreißen, und dies kann nur geschehen, wenn die Mitglieder als Massenkraft in den Kampf eintreten.
In beiden Gewerkschaften muss die längerfristige Aufgabe darin bestehen, Kämpfe zu vernetzen. Die Unite hat bereits einige vielversprechende Schritte unternommen. Auf ihrer Konferenz betonte der neue Generalsekretär die Notwendigkeit, die internationalen Verbindungen der Gewerkschaft als Antwort auf multinationale Unternehmen wie Amazon zu nutzen, und sprach über ein Bündnis der linksgeführten Gewerkschaften im Vereinigten Königreich. Die Grenzen von isolierten und atomisierten Kämpfen werden immer deutlicher. Gemeinsame und koordinierte Kämpfe über die traditionellen Gewerkschaftsgrenzen und auch über nationale Grenzen hinaus sind der Weg nach vorn.
Diese Art von mutigen Worten, vor allem jedoch Taten werden die bestehenden passiven Mitglieder und die neu hinzukommenden Mitglieder dazu inspirieren, Großes von ihren Gewerkschaften zu erwarten. Sie werden die Millionen von Arbeitern, die diese Gewerkschaften vertreten, mobilisieren, und damit echte Veränderungen anstreben.
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