Interview mit Frank Schmidt-Hullmann, Leiter der Abteilung für europäische Baupolitik und Internationales beim Hauptvorstand der IG BAU Die IG BAU hat schon Anfang 2004 vor den Folgen der Europäischen Dienstleistungsrichtlinie gewarnt. Gibt es überhaupt noch einen Bereich, der von dieser "Bolkestein-Richtlinie" verschont bliebe? Nach dem Bolkestein-Entwurf bleibt nahezu ausschließlich die staatliche Hoheitsverwaltung - z.B. die Polizei - verschont, und diese auch nur dann, wenn für die jeweilige Tätigkeit keine Gebühr erhoben wird. Die Richtlinie würde nicht nur die privaten Dienstleistungsbranchen und den Bau, sondern auch große Teile der öffentlichen Dienste und - über Leiharbeit - praktisch auch alle Industriebranchen erfassen.
|
Wie sähe dieses Land in zehn Jahren aus, wenn sich jetzt die Hardliner im Europäischen Parlament durchsetzen würden? Wir hätten ein totales Rechtschaos und einen gnadenlosen Wettbewerb mit dann 28 verschiedenen Standards für Betriebe der gleichen Branche auf unserem Markt. In jedem EU-Land würden die einheimischen Betriebe unter Berufung auf niedrigere Standards einiger ihrer Mitbewerber nach Absenkung der heimischen Standards rufen. Firmen könnten sich jederzeit über eine Registrierung in einem anderen EU-Land aus hiesigen Pflichten verabschieden und hier trotzdem weiterarbeiten - als Schmutzkonkurrenz. Flächentarife, Betriebsrat usw. würden zum Auslaufmodell, Kontrolle von Mindeststandards praktisch unmöglich. Viele Stadtplanungsvorgaben würden nur noch für Investoren mit Inlandssitz gelten, nicht aber für Firmen aus einem anderen EU-Land. Man kann in einem kurzen Interview gar nicht alles aufzählen. Nach der europaweiten Demonstration in Brüssel im März 2005 sprachen sich Bundeskanzler Schröder und der Deutsche Bundestag für eine grundlegende Überarbeitung der Richtlinie aus. Warum droht jetzt trotzdem eine Neuauflage von "Bolkestein"? Der Richtlinienentwurf von Bolkestein wurde von der Kommission nicht zurückgezogen, sondern aufrecht erhalten. Das übliche Mitentscheidungsverfahren lief einfach weiter. Deshalb müssen das Europäische Parlament und der Rat jetzt die Richtlinie ablehnen oder - und das ist wahrscheinlicher - zumindest Änderungen beschließen, um den Entwurf zu entschärfen. Der neue Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD fordert eine Überarbeitung der Richtlinie und kritisiert das Herkunftslandprinzip in der bisherigen Ausgestaltung. Wird nun eine Kanzlerin Merkel im Sinne der IG BAU im Europäischen Rat auf den Tisch hauen? Wenn man Politikern glauben will, würde das natürlich geschehen. Aber Merkel hat in einem neuen Interview bereits gesagt, dass sie die ganze Aufregung nicht versteht. Also wird das, wenn überhaupt, nur dann geschehen, wenn sich hier in den nächsten Monaten ein noch größerer öffentlicher Druck aufbaut. Einige deutsche oder belgische Europa-Abgeordnete stammen aus der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft. Sind diese Parlamentarier für gewerkschaftliche Argumente offen? Durchaus, aber sie stehen unter Druck ihrer Fraktionsführung. Nur wenn sie von uns noch mehr unter Druck kommen, werden sie sich bei den Abstimmungen in unserem Sinne entscheiden. Also sprecht mit ihnen. Je mehr desto besser. Im Oktober wurden gewerkschaftliche Protestaktionen gegen die Richtlinie kurzerhand abgeblasen. War dies nicht voreilig? Nein, das war rein taktisch bedingt, denn die Abstimmung im Parlament wurde kurz vorher um Monate auf den Anfang 2006 verschoben und damit wäre die Wirkung der Demo bei den Abgeordneten und in der Öffentlichkeit bis zur Abstimmung verpufft. Im Moment ist noch unklar, ob das Parlament im Januar oder Februar abstimmt. Wir müssen die Demo entsprechend legen. Dazu finden gerade europaweit Verabredungen statt. Ob eine Demo am 14. Januar in Straßburg Sinn macht, wenn die Abstimmung wahrscheinlich erst am 14.2. stattfindet, muss gemeinsam neu überlegt werden. Wahrscheinlich wird die Demo am Samstag vor der Abstimmung in Straßburg stattfinden. Falls - wie befürchtet - die bürgerliche Mehrheit im Europaparlament bei ihrer harten Linie bleibt: Wie mobilisierungsfähig sind die Gewerkschaften in den kommenden Wochen, um ausreichend Druck aufzubauen und "Bolkestein" zu verhindern? Wir werden alles tun, was uns möglich ist. Im DGB herrscht da weitgehend Einigkeit. Wir brauchen jetzt beides: intensive Lobbyarbeit gegenüber Parlamenten und Regierung, aber auch massenhafte Mobilisierung unserer Mitglieder und der verbündeten Kräfte bis hinein ins Unternehmerlager. Ob uns das gelingt, hängt auch von den Medien ab. Die IG BAU musste niemand wecken, wir sind da seit fast 2 Jahren ständig am Ball. Aber die meisten Medien berichten fast nichts, weil seit dem Frühjahrsgipfel 2005 der falsche Eindruck vorherrscht, die Richtlinie sei im Grunde vom Tisch. Auch das ND könnte ruhig noch etwas mehr berichten, als im Moment. Artikel, die uns unterstellen, die IG BAU sei nun erst aufgewacht, zeugen jedenfalls eher davon, dass das Thema in der Redaktion schon lange nicht mehr beobachtet wurde, als dass sie der Realität entsprechen. In Österreich erscheinen jeden Tag 2-3 Artikel zum Thema, es geht also. Warum nicht bei uns? Hinweis: Eine Langfassung dieses Interviews von Hans-Gerd Öfinger erschien am 23. November 2005 in der Tageszeitung "Neues Deutschland"
|