Kategorie: Europa |
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Polen als Testfeld für Lohndumping und Entrechtung |
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Die neoliberale und gewerkschaftsfeindliche Politik polnischer Regierungen hat die Gewerkschaften geschwächt. Ein Hort des Widerstandes ist nach wie vor die traditionsreiche polnische Bergarbeitergewerkschaft ZZG (Zwi¹zku Zawodowego Górników w Polsce) im Gesamtpolnischen Gewerkschaftsdachverband OPZZ [Ogólnopolskie Porozumienie Zwizków Zawodowych-OPZZ] mit Sitz im oberschlesischen Katowice. Ein Interview mit Andrzej Chwiluk, Vorsitzender der ZZG. |
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Was stellt die ZZG heute dar und welches sind ihre Hauptanliegen? Wir sind die größte Gewerkschaft im Bereich Steinkohlebergbau und haben in den letzten Jahren durchaus einiges erreicht bzw. verhindern können. So gelang es uns, die Pläne der Regierung, die durch „Umstrukturierung“ letztlich den gesamten Kohlebergbau aufgeben will, stark abzubremsen und auch dafür zu sorgen, dass Bergarbeiter aufgrund ihrer schweren körperlichen Belastungen weiterhin mit 55 in die Frührente gehen können. Ursprünglich wollte man die Renteversicherung – ähnlich wie in Chile unter Pinochet – liberalisieren und privatisieren und die Altersgrenze für Bergarbeiter auf 60 Jahre anheben Unter der früheren rechten Regierung in Polen wurden 24 Bergwerke geschlossen. Als dann die Linke vor einigen Jahren wieder die Regierung übernahm, wollte sie sieben weitere Bergwerke schließen. Wir haben aber klar gestellt: Wir lassen keine einzige Zechenschließung zu. Die Gefahr bestand darin, dass diejenigen Belegschaften, die sich nicht direkt betroffen fühlten, zunächst passiv blieben. Wir machten den Kollegen klar: Gestern waren wir dran, heute kommt ihr dran, und so machen sie uns nacheinander platt. Daher müssen wir zusammen stehen, Letztendlich wurde dann nur eine Zeche geschlossen. Es kostet viel Kraft und Überzeugungsarbeit, um den Menschen klar zu machen, dass das scheinbar Unmögliche möglich ist. Was unternimmt die ZZG über die eigene Branche hinaus? Wir konzentrieren unsere Arbeit auf die „eigene“ Branche, suchen gleichzeitig aber auch den Schulterschluss mit Beschäftigten und Gewerkschaften in anderen öffentlichen Betrieben, um gemeinsam die Liberalisierung und Privatisierung abzuwehren. Warum haben Gewerkschaften in Polen derzeit einen besonders schweren Stand? Seit Anfang der 1990er Jahre beherrscht US-amerikanisches Kapital die polnische Wirtschaft mit dem Ziel, bei uns Zustände wie im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts wieder herzustellen und alle Hindernisse hierbei aus dem Weg zu räumen. Die Gewerkschaften in Polen wurden in den letzten 15 Jahren erheblich geschwächt, so dass wir etwa in unserer Branche nur noch einen Organisationsgrad von rund 14% haben. In den allermeisten Medien Polens wird fälschlicherweise behauptet, Gewerkschaften seien ein großes Hindernis für die Entwicklung der Wirtschaft. In der Berichterstattung kommen Gewerkschaften anderer Länder kaum vor. Viele Menschen sind in den letzten Jahren aus Polen ausgewandert und haben in Westeuropa Arbeit gesucht. Dies ist in der Tat ein Ausdruck der gegenwärtigen Krise, weil junge Menschen hier keine Zukunftschancen und akzeptablen Arbeitsplätze mehr finden. Die Arbeitslosigkeit ist im europaweiten Vergleich sehr hoch. 1989 waren noch 80 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter berufstätig, 2003 waren es nur noch 55 Prozent. Dies ist eine große Herausforderung für uns. Wir müssen die Zustände hier im Land ändern. In Deutschland drohen Konzerne zunehmend mit der Verlagerung der Produktion in Richtung Osten und wollen damit Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerung erzwingen. Polen ist für ganz Europa ein Testfeld für niedrige Löhne, miserable Arbeitsbedingungen und eine Entrechtung der arbeitenden Bevölkerung. Arbeitsbedingungen und Sicherheitsstandards haben sich in den letzten 15 Jahren erheblich verschlechtert. Die Massenarbeitslosigkeit steigert die Angriffe der Arbeitgeber auf noch bestehende soziale Standards. Ein öffentlicher sozialer Dialog findet nicht statt. Anstatt für annehmbare Lebensverhältnisse im Lande zu sorgen und etwas gegen den Abbau von Schutzrechten und Arbeitsplätzen zu unternehmen, konzentriert sich die Regierung lieber auf die Auswertung alter kommunistischer Geheimdienstaktien. Nun haben sich 94% der polnischen Bergarbeiter in einer Abstimmung gegen eine Privatisierung der (noch staatlichen) Bergwerke ausgesprochen. Polnische Bergarbeiter werden sich nie mit einem Ausverkauf der Branche und der Werte, die sie mit ihren eigenen Händen geschaffen haben, abfinden. Der Kohlebergbau ist als Energieträger für Polen wie für ganz Europa von strategischer Bedeutung. Es wäre ein schwerer Fehler in Polen und in Europa, die Kohleförderung aufzugeben. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass Kohle für die Energieversorgung wichtig ist und auch umweltschonend eingesetzt werden kann. In diesem Sommer wird eine ZZG-Delegation Venezuela besuchen. Mit welcher Zielsetzung? Die allermeisten Medien in Polen stellen Venezuela als Diktatur dar. Ich weiß, dass dies nicht stimmt und habe mich mit vielen Venezolanern darüber unterhalten. Die Erfahrung mit besetzten und von den Belegschaften kontrollierten und verwalteten Betrieben in Venezuela sollte von den europäischen Gewerkschaften aufgegriffen werden. Damit bin ich voll solidarisch. ZZG und OPZZ pflegen auch Kontakte zu deutschen und europäischen Gewerkschaften. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht? Ich habe von den deutschen Gewerkschaften sehr viel gelernt, würde ihnen aber raten, weniger auf die Bedürfnisse der Politiker einzugehen und auch nicht bei der Liberalisierung der Wirtschaft an Kompromissen mitzuwirken, sondern mehr auf ihre eigene Basis zu hören. Vor drei Jahren stellte ich bei der Europäischen Kommission einen Antrag gegen Sozialdumping in Polen. Leider unterstützte mich keine andere europäische Gewerkschaft dabei. Aber mir ist auch klar: außerhalb der bestehenden Strukturen der großen, traditionellen Gewerkschaften werden wir nichts erreichen. Wir müssen unsere Gewerkschaften in unserem Sinne verändern. Jede Spaltung schadet. Daher streben wir eine Vereinigung aller polnischen Gewerkschaften im Energiesektor – Steinkohle, Braunkohle, Kraftwerke – und gemeinsame Aktionen an. Dann wären wir gegenüber der Regierung in einer viel besseren Verhandlungsposition. Für die Einheit würde ich auch auf meine Position als Vorsitzender verzichten, wenn es nötig wäre. Fakten zur polnischen Wirtschaft Nach 1989 erlebte auch Polen, genau wie die anderen Länder des ehemaligen „Ostblocks“, einen immensen wirtschaftlichen Niedergang. Zwischen 1989 und 1991 fiel das Bruttosozialprodukt im Vergleich zu 1988 um 20%. Für die einzelnen Industrien bedeutete dies einen Rückgang der Produktion um 38% in der Schwerindustrie, 41% in der Leichtindustrie und 25% in der Nahrungsmittelproduktion. Dies schlägt sich heute, im EU-Vergleich, zum einen in niedrigen Löhnen nieder; so arbeitet z.B. ein deutscher Arbeiter im Durchschnitt 40% weniger Stunden als sein polnischer Kollege und verdient dabei fünfmal mehr. Mit durchschnittlich 2000 Arbeitsstunden im Jahr haben polnische Arbeiter und Angestellte EU-weit die längsten Arbeitszeiten und nahezu die geringsten Einkommen. Seit 2003 nahm die Zahl der abhängig Beschäftigten um fast 5 Millionen ab. Täglich wurden rund 1400 Arbeitsplätze vernichtet. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei rund 40 Prozent und ist damit europaweit am höchsten. Zwischen 1990 und 1991 wurden rund zwei Millionen Beschäftigte entlassen, während gleichzeitig die Reallöhne um 25% sanken. Eine direkte Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs Polens. Seit 2003 nahm die Zahl der abhängig Beschäftigten um fast 5 Millionen ab. Täglich wurden rund 1400 Arbeitsplätze vernichtet. Kein Wunder, dass Millionen Polen im Ausland Arbeit suchen. Weiterhin ist auch die wirtschaftliche Situation der Arbeitslosen in Polen katastrophal. Ein Drittel der Erwerbslosen sind Langzeitarbeitslose, die schon seit über zwei Jahren keinen Job mehr finden konnten. Über 90% erhalten keine Arbeitslosenunterstützung, da diese in Polen grundsätzlich nur für zwölf Monate gezahlt wird – egal, ob man dazwischen gearbeitet hat oder nicht. Aber auch wer noch Arbeit hat, ist kaum besser dran: der offizielle polnische Durchschnittslohn lag 2005 bei umgerechnet 375 € pro Monat. Das reicht auch in Polen nicht wirklich zum Leben, vor allem wenn man bedenkt, dass viele Arbeiter weit weniger verdienen, da z.B. der Mindestlohn bei nur 30% des offiziellen Durchschnittslohns liegt! So wundert es auch kaum, dass 1996 4,6% und 2005 schon 12,3% der polnischen Bevölkerung unterhalb der offiziellen Armutsgrenze lebten. |