Diese VV hätte eine Möglichkeit sein können, hunderte neue Studierende zu mobilisieren und der Bewegung ein Programm zu geben, mit der die Arbeiterbewegung für die Klimastreiks gewonnen werden könnte. Leider kam es anders. Stattdessen gab es eine Woche voll langwieriger und zäher Diskussionen um Organisationsfragen und Formulierungen. Am Ende blieben als einziges konkretes Ergebnis eine halbseitige Resolution und keine Forderungen.
Demokratische Diskussion
Das grundlegende Problem war, dass keine inhaltliche Debatte stattfand. Die VV sollte Forderungen beschließen. Denn diese sind das Kernstück einer Bewegung. Mit ihnen versuchen wir Menschen für unsere Sache zu gewinnen. Sie geben uns Orientierung im Kampf. Unterschiedliche Forderungen setzen unterschiedliche Strategien und Kampfmethoden voraus. Diskussionen und Beschlüsse über Forderungen sind daher auch immer programmatische Richtungsentschlüsse. Es macht daher wenig Sinn, ganz unterschiedliche Forderungen, die auf ganz unterschiedlichen Programmen basieren, durcheinander zu werfen.
Genau das tat aber die Sitzungsleitung. Anstatt die Forderungen nach programmatischem Ansatz zu sortieren, wurden sie nach Themengebieten aufgeteilt. So stand unter dem Themengebiet „Mobilität“ die Forderung nach der Verstaatlichung der Autoindustrie neben der Forderung, Parkplätze an der Uni zu begrünen. Eine Richtungsdebatte zwischen verschiedenen programmatischen Ansätzen wurde so von vornherein verhindert.
Fehlende Antragsfristen und Unklarheit im Verfahren sowie eine Einschränkung von Mehrheitsentscheidungen zugunsten des Konsensprinzips taten ihr übriges. Eine demokratische Debatte war nicht möglich. Am Ende wurde sogar noch in einer frühmorgendlichen Plenumssitzung beschlossen, dass die Antragsteller ihre Forderungen nicht selbst einbringen dürfen.
Als dann am Donnerstag endlich die Debatte um die Forderungen stattfinden sollte, fand auch hier keine Diskussion über den Inhalt der Forderungen statt. Stattdessen wurde sich an der Formulierung einzelner Sätze festgebissen, die angeblich diskriminierend seien.
Anstatt auf inhaltliche Argumente zu setzen, wurde die Auseinandersetzung von Emotionen bestimmt. In der Absicht, die Gefühle einzelner Aktivisten nicht zu verletzen, wurde keine demokratische Debatte zugelassen. So wurde uns eine Stellungnahme zum Vorwurf des Antisemitismus verwehrt.
„Struktureller Antisemitismus“
Wir, die Marxistischen Studierenden Berlin, argumentierten, dass die Schüler und Studierenden sich mit der Arbeiterbewegung verbünden müssen, um die Forderungen der Klimabewegung durchzusetzen. Doch unser Programm war stetig Angriffen seitens einiger studentischer Aktivisten ausgesetzt. Schon zu Anfang der Diskussion wurde ein Antisemitismusvorwurf gegen das Wort „Wirtschaftsbosse“ laut. Der Vorwurf wurde wiederholt, als ein Genosse erklärte, dass der Begriff „Arbeiter“ sehr wohl Menschen ausschließe, nämlich solche, die von der Ausbeutung fremder Arbeit lebten. Der Gebrauch dieser Wörter sei „strukturell antisemitisch“, so unsere Kritiker, weil sie das Nazi-Narrativ vom „schaffenden und raffenden Kapital“ reproduzieren würden.
Mit „strukturellem Antisemitismus“ ist gemeint, dass, wie beim Antisemitismus, bestimmte gesellschaftliche Gruppen für das Übel in der Gesellschaft verantwortlich gemacht und als „geheime“ Machthaber hingestellt werden. So wie der Antisemitismus das „Weltjudentum“ als „geheime Strippenzieher“ darstellt, so würden wir angeblich die Wirtschaftsbosse als heimliche Machthaber hinstellen, die ausgerottet werden müssten.
Dieser Vergleich ist offensichtlich absurd und völlig unzulässig. Denn im Kapitalismus findet die Ausbeutung nicht heimlich statt. Es bedarf keiner Verschwörungen oder heimlicher Strippenzieher. (Auch wenn die Kapitalisten oft genug versuchen, ihren politischen Einfluss an der Öffentlichkeit vorbei auszuüben, etwa durch vertrauliche Gespräche mit Politikern.)
Der Antisemitismus versucht, absurde Verschwörungen zu konstruieren, die unmöglich zu beweisen sind, weil es sie nicht gibt. Den Kapitalismus aber gibt es, genau so wie die herrschende Klasse der Kapitalisten. Dass Kapitalisten von der Arbeit ihrer Arbeiter leben, ist nicht nur ein offensichtlicher Fakt, dessen Leugnung an Wahnsinn grenzt. Es ist auch der einzige Weg, wie der Kapitalismus funktionieren kann. Genau so ist offensichtlich, dass Kapitalisten durch ihre ökonomische Macht gleichzeitig auch die politische Macht haben. Wer kann großzügige Parteispenden verteilen? Wer kann sich mit Spitzenpolitikern zum Abendessen verabreden oder ihnen nach deren politischer Laufbahn einen lukrativen Posten in Unternehmen und Lobbyverbänden anbieten? Wer hat das Geld, eine eigene Zeitung herauszugeben oder einen eigenen Fernsehsender zu gründen? Wer hat das Geld, Stiftungen und Institute zu gründen und Lehrstühle an Universitäten zu sponsern? Kapital und Politik sind durch tausend Fäden miteinander verknüpft – das ist offensichtlich und bedarf keiner geheimen Strippenzieher im Hintergrund. Gerade in der Umweltfrage wird das eindeutig. Dies zeigt auch der Umgang der Politik mit dem Dieselskandal oder der Solarindustrie.
Auch die Analogie zur Nazi-Parole vom „schaffenden und raffenden Kapital“ ist völliger Unsinn. Diese von den Nazis und anderen Antisemiten gebrauchte These besagt, dass es „gutes, produktives, deutsches Industriekapital“ gibt, welches den Wert schaffe, und „böses, jüdisches Finanzkapital“, welches destruktiv wirke. Das ist offensichtlich Unsinn, denn ohne Banken und Kredit könnten die immer größer werdenden Industrieunternehmen nicht existieren. Und real sind Banken-, Finanz- und Industriekapital stark miteinander verflochten. In unserem Fall ging es jedoch um etwas völlig anderes: Es ging nicht um eine Einteilung in „gutes“ und „böses“ Kapital, sondern um die Feststellung, dass die Kapitalisten von der Arbeit der Arbeiter und auf deren Kosten leben.
Aber! Nicht nur ist die von unseren Kritikern bediente Analogie falsch und eine zynische Verharmlosung des Antisemitismus und des Holocaust. Sie zielt vor allem darauf ab, eine Diskussion über den Klassengegensatz und die Kapitalistenklasse zu unterbinden, egal ob von den einzelnen Aktivisten beabsichtigt oder nicht. So hilft sie den Kapitalismus zu stützen und damit das System, das die Schrecken des Antisemitismus und anderer Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen erst hervorbringt. Stattdessen müsse man, so unsere Kritiker, den Kapitalismus als System betrachten, von dem wir alle ein Teil seien. So wären alle Menschen gleichermaßen für die Grauen des Kapitalismus verantwortlich. Anstelle des Klassenkampfes tritt der Kampf jedes Individuums gegen sich selbst.
Doch auch wenn die Übel des Kapitalismus nicht Resultat der persönlichen Bosheit der Kapitalisten sind, so ist es doch falsch, die Verantwortung für die Verbrechen des Kapitalismus einfach auf ein abstraktes System abzuschieben. Denn auch wenn es falsch wäre, einzelne Kapitalisten individuell für alles verantwortlich zu machen, sind doch die Kapitalisten als Klasse verantwortlich. Die Kapitalisten und ihr Staat kämpfen ganz real und mit voller Absicht gegen die Arbeiterklasse. Sie entlassen streikende Arbeiter, verhindern Betriebsratsgründungen, sperren aus, lassen Streiks und Demonstrationen niederknüppeln, fälschen Testergebnisse im Dieselskandal usw. Das machen sie, um ihr System zu verteidigen. Ein System, das auf Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeitenden und Armen sowie auf Umweltzerstörung fußt.
Wir müssen die Kapitalistenklasse eindeutig als den Feind aller Arbeitenden und Unterdrückten benennen. Und wir müssen als Arbeiterklasse gegen die Kapitalistenklasse kämpfen. Wir müssen ihnen die ökonomische und politische Macht entreißen. Durch Streiks, Demonstrationen, Generalstreiks, Revolutionen. Es ist die historische Aufgabe der Arbeiterklasse, den Kapitalismus durch eine sozialistische Revolution zu stürzen, um Ausbeutung und Unterdrückung zu beenden.
Wer darauf verzichtet, die Kapitalisten als Feinde der Arbeiterklasse zu benennen, verschließt seine Augen vor dem Klassenkampf und macht sich so handlungsunfähig. Die Position unserer Kritiker hat zur Folge, dass an die Stelle ernsthafter Maßnahmen zur Beseitigung des Kapitalismus ein individualisierter Kampf gegen sich selbst und ein abstraktes „System“ erfolgen soll. Jeder solle nach eigenem Ermessen seinen Beitrag dazu tun, dass die Welt ein besserer Ort würde. Die zur Wahl stehenden Mittel sind Selbstkasteiung in Form von Konsumkritik oder impotente „Kritik“ am Schreibtisch ach so aufgeklärter Oberlehrer. Am Ende bleibt es, egal wofür man sich entscheidet, nur noch den letzten Schritt zu tun und dem Zynismus zu verfallen, weil all die Kritik und Züchtigung doch nicht für bessere Zustände gesorgt haben. Solche „Systemkritiker“ hat die herrschende Klasse gern. Wir tun gut daran, solche Dummheiten links liegen zu lassen und uns dem Ernst des Lebens, also dem Klassenkampf, zu widmen.
Postkolonialismus
Ein weiteres Mal wurde die schädliche Rolle der Identitätspolitik deutlich, als die Umbenennung von FFF gefordert wurde. Der Name forciere koloniale Unterdrückungsmuster, da viele Menschen im „globalen Süden“ bereits in der Vergangenheit oder in der Gegenwart von den negativen Folgen der Klimakatastrophe betroffen seien. Stattdessen solle FFF sich in Fridays for Past, Presence and Future umbenennen.
Die Idee, irgendeine Person außerhalb postkolonialer Seminare und kleiner akademischer Zirkel, erst recht Menschen im globalen Süden, würden einer Bewegung fernbleiben, da sie sich auf Grund des Namens diskriminiert fühlten, ist mehr als absurd. Solche Diskussionen führen in der Praxis nur dazu, dass inhaltliche Diskussionen über Forderungen, die tatsächlich den Menschen in imperialistisch ausgebeuteten Ländern nützen würden, verhindert werden.
Es stimmt, dass die Menschen in Erdteilen wie Afrika, Asien und Lateinamerika die Auswirkungen der Klimakrise viel früher und härter zu spüren bekommen als die Menschen in den imperialistischen Ländern. Die Kapitalisten der imperialistischen Länder zerstören die Umwelt besonders in den sogenannten Entwicklungsländern, um ihre Profite zu mehren. Ihr mächtigster Gegner ist dabei die Arbeiterklasse in den imperialistischen Ländern, in internationaler Solidarität mit den arbeitenden, armen und unterdrückten Massen der ganzen Welt.
Die Vertreter des „Postkolonialismus“ erweisen den Menschen dieser Länder damit einen Bärendienst, indem sie eine solche Bewegung verhindern. Nicht ohne Grund spielt diese „Theorie“ in den realen Massenkämpfen der Menschen in diesen Ländern, von Chile über den Libanon und den Sudan bis nach Hong Kong, keine Rolle. Diese heroischen Kämpfe der Arbeiterklasse und unterdrückten Massen dieser Länder sollten hingegen das Vorbild für die Klimastreikbewegung sein.
Statt uns also mit nutzlosen Formulierungsdiskussionen herumzuschlagen, ist es unsere Pflicht, eine internationale Bewegung aufzubauen, die dazu in der Lage ist, die Macht der Banken und Konzerne zu brechen. Und zwar in der Realität und nicht in den idealistischen Elfenbeintürmen sogenannter Narrative, Konstrukte und Formulierungen. Die Bank- und Konzernchefs geraten nur dann in Panik, wenn die Arbeiterklasse streikt und gemeinsam mit der Jugend kämpft und die Kapitalisten enteignet.
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