Wir freuen uns mit unseren schweizerischen GenossInnen über den Erfolg dieses Artikels im Tagesanzeiger. Der Artikel zeigt die gesellschaftliche Relevanz der JUSO in der Schweiz, die insbesondere mit ihrer Kampagne zur Beschränkung der Managergehälter die Wut von Kapitalvertretern auf sich zieht. Olivia Eschmann, von unserem Schweizer Schwester-Funken wiederum nützt die ihr eröffnete Chance und hat damit wohl für die seit Jahren breitenwirksamste Marx-Propaganda in der Schweiz gesorgt.
Wir gratulieren und wollen auch unseren LeserInnen diesen Lesegenuss nicht vorenthalten.
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Ich bin Marxistin
Von Olivia Eschmann
Für eine 21-jährige Sozialistin aus Bassersdorf ist die Zeit gekommen, die Welt neu zu ordnen. Sie erklärt, warum das mit dem Denken von Karl Marx am besten geht.
Der Marxismus wird mittlerweile nur noch als Kampfbegriff gegen die Linken und Gutmenschen verwendet, beispielsweise vom «Tages-Anzeiger». Dort hiess es kürzlich: «Casting-Wettbewerb – gesucht Switzerland’s next Top-Marxist» als Antwort zum SP-Parteitag. So also geht das Schreckgespenst von Karl Marx in den Reihen der Sozialdemokratie wieder um. Die eigentliche Frage lautet jedoch: Weiss überhaupt noch jemand, was Marxismus ist?
Wenn ich die Welt betrachte, wird mir übel: Hunger, Arbeitslosigkeit und Unterdrückung auf der einen, Fettleibigkeit, Kommerz und Reichtum auf der anderen Seite. Natürlich beschämen uns all die kleinen schwarzen Kinder mit ihren dicken Bäuchlein und den großen traurigen Augen, doch als Pate eines solchen ist man ja wieder aus dem Schneider. Sozial sind wir ja allemal, nur bei uns arbeiten und leben, das sollen sie dann bitte unterlassen. Schließlich haben wir selbst zu wenig, ach ja, und unseren Reichtum haben wir uns auch selbst hart erarbeitet, ohne von anderer Ausbeutung zu profitieren.
Dummschwätzerei der bürgerlichen Politiker
Auch haben wir die Kriege, die Kolonien und den Imperialismus der anderen niemals heimlich unterstützt und uns daran bereichert. Und wer mit irgendwelchen Argumenten zum Bergier-Bericht, Waffenabkommen oder dem Bankgeheimnis kommt – das beweist keineswegs unseren Profit auf Kosten anderer. Glaubt man nicht einfach jede Dummschwätzerei der bürgerlichen Politiker und Ökonomen, welche uns weismachen wollen, Privatisierung und Sparprogramme seien zum Wohle der Gesamtbevölkerung, wird man schon als Kommunist verschrien. Marx sei Dank bin ich tatsächlich eine!
Als ich mit 17 Jahren zum ersten Mal mit der marxistischen Strömung «Der Funke» in Berührung kam, hatte ich, aus sozialdemokratischem Elternhause stammend, die typischen Vorurteile und Zweifel gegenüber dem Marxismus. Wie viele andere sah ich zwar die Vorzüge eines kommunistischen Systems, in dem alle Arbeit, einen gewissen Lebensstandard und Mitspracherecht besitzen, tat dieses jedoch als Utopie ab. Dazu kam noch die unvermeidliche Revolution, welche mir als ein unnötiges Blutvergießen und zusätzlich als genauso unwahrscheinlich wie der Sozialismus selbst erschien. Gerade in der Schweiz sah ich ein solches Bestreben als geradezu lächerlichen Idealismus an. Natürlich wusste ich über den Marxismus auch nicht viel mehr als jeder halbwegs interessierte Gymnasiast, was wiederum nicht unbedingt weniger ist, als alle anderen Bildungsbürger darüber wissen oder zu wissen glauben.
Marx brachte mich zum Denken
Später lernte ich den Marxismus nicht einfach als Politik für den Sozialismus kennen, sondern als eine viel tiefere, viel grundlegendere Weltansicht. Die Dialektik, als Ergänzung zur formalen Logik, eröffnete mir ein völlig neues Denken. Die Gesellschaft, die Historie, alles zeigte sich mir nun als Komplex aus mit sich in Wechselwirkung befindenden Faktoren. Nicht mehr statisch und modellhaft, sondern im nie endenden Wandel begriffen. Historische Persönlichkeiten und Ereignisse wurden nicht mehr isoliert und systematisch überbewertet, so wie die Schule mich dies lehrte, sondern als vorübergehende Höhepunkte verschiedener im Widerstreit stehender Tendenzen betrachtet.
Was die ewigen Vorwürfe gegen den Marxismus angeht, hat der Kalte Krieg ganze Arbeit geleistet. Wer kennt nicht die Schreckensgeschichte des Realsozialismus, mit Stalin als größtem Exponenten. Nun, Stalin war kein Marxist, im Gegenteil: Er hat der Arbeiterbewegung sowie dem marxistischen Gedankengut erheblichen Schaden zugefügt. Nicht nur, indem er einige der wichtigsten Marxisten seiner Zeit ermorden ließ (Trotzki beispielsweise), sondern auch, indem er Russland nach der ersten erfolgreichen Revolution der Arbeiterklasse zu einem verzerrten Sozialismus deformierte.
Stalin – grausam wie die Nazis
Mit seinen ausschließlich machtorientierten Theorien wie «Sozialismus in einem Lande» und der Degeneration der internationalen Arbeiterorganisation Komintern rechtfertigte er sein totalitäres Regime, das dem des Nationalsozialismus in seiner Grausamkeit in nichts nachstand. Wer den Marxismus auch nur in seiner simpelsten Form begriffen hat, macht sich deshalb völlig lächerlich in dem Versuch, den Stalinismus mit dem Marxismus gleichzusetzen.
Die blutige Revolution, die wir alle so fürchten, ist natürlich nicht zu vergleichen mit den bürgerlichen Revolutionen, die die Industrialisierung und unseren modernen Staat einleiteten, auf welchen wir alle so stolz sind. Die demokratische Tradition in der Schweiz, von rechts bis links hochgelobt, ist auf kein anderes Ereignis als auf die im höchsten Grade blutige Französische Revolution zurückzuführen.
Die Demokratie verteidigen
Als Sozialisten sind wir eigentlich die konsequentesten Verteidiger der Demokratie, so konsequent sogar, dass wir sie nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft fordern. Es ist doch nicht möglich, im Kapitalismus von einer Demokratie zu sprechen, wenn sich das gesamte ökonomische Konstrukt im höchsten Masse undemokratisch, nämlich in den Händen von wenigen Privilegierten, befindet. Es wäre doch eigentlich nur gerecht, wenn das arbeitende Volk in seinen eigenen Betrieben das demokratische Mitbestimmungsrecht besäße. Schließlich sind es die Arbeiter und Konsumenten, die eine funktionierende Wirtschaft ermöglichen. Aber das sehen Herren wie «Weltwoche»-Chefredaktor Roger Köppel natürlich als Angriff auf die Unternehmerfreiheit. Ja, Herr Köppel, das ist es auch! Sie begründen die exzessiven Löhne und Milliardenboni mit der Verantwortung, die die Manager zu tragen haben. Wir sagen, dass wir ihnen gerne etwas von dieser Last abnehmen und Verantwortung übernehmen!
Auf meine naive Argumentation kenne ich die nicht minder naive bürgerliche Antwort: Das kapitalistische System ermöglicht jedem ein angenehmes Leben. Er muss nur fleißig und diszipliniert arbeiten. Prädestinierte Armut gibt es nicht. Die Klassengesellschaft ist ausgestorben. Natürlich sind die 50% der Weltbevölkerung, denen nur 1% des globalen Vermögens gehört, einfach zu faul und zu dumm, und die knapp eine Milliarde Hungernden sind dann noch fauler und dümmer.
Man schaue sich eines der reichsten Länder der Welt an, die Schweiz, welches die Früchte des Kapitalismus in sich vereint. Sollte nicht zumindest in einem solchen Land allgemeiner Wohlstand herrschen – jener Wohlstand, der uns von der freien Marktwirtschaft immer versprochen wurde? Stimmt es denn nicht, dass die Bonzen in ihren Zürichbergvillen, Anzüge von Armani tragend, massenhaft vergoldete Truffes in sich reinstopfen und ihre Kinder an Privatschulen schicken, während die große Mehrheit in Billigwohnungen lebt, an einem Aldi-Brot kaut und deren Kinder in den staatlichen Schulen keine Abschlüsse durch Papis fette Brieftasche geschenkt kriegen?
Parallelwelt der Superreichen
Die Steuerstatistik weist 120'000 Millionäre aus. Diese 3% der Steuerpflichtigen haben so viel Vermögen wie die restlichen 97% zusammen. 0,3% der Steuerzahler mit über 5 Millionen Franken privatem Kapital verfügen sogar über fast ein Viertel des gesamten Vermögens in der Schweiz, hingegen besitzen 30% der Haushalte gar keine ersparten Mittel. Diese offensichtliche Ungerechtigkeit wird natürlich völlig verständlich, wenn man bedenkt, dass sich die wenigen Reichen ihr Vermögen mit eigenem Schweiß und Blut selbst erwirtschaftet haben: Genau aus diesem Grund halten wir ja an der Erbschaftssteuer fest.
Diese Parallelwelten sind eigentlich offensichtlich, und doch wollen es die meisten immer noch nicht wahrhaben. Und da setzte ich als «Funkistin» an. Wir «Funkisten» sind eine marxistische Strömung in der Juso und versuchen durch unsere Zeitung «Der Funke» (www.derfunke.ch), den Marxismus vor allem in der politisch wie auch gewerkschaftlich organisierten Jugend einzubringen. Die Sozialdemokratie hingegen bietet schon lange keine Gegenkraft mehr zum bürgerlichen Kuchen. Nicht nur hat sie sich von ihrer eigentlichen Basis, den Lohnabhängigen, abgewandt und führt seit langem einen lächerlichen Mitglieder- wie Sitzverteilungswettbewerb mit der CVP und den Grünen. Nein, stattdessen fungiert sie, instrumentalisiert durch ihren Parlamentarismus, längst als Feigenblatt für die bürgerliche Politik der Kürzungen und der sozialen Ungleichheit. Ganz im Gegensatz zur Juso, welche über ihre Mutterpartei hinaus zu einer eigenständigen und ernst zu nehmenden politischen Kraft heranwachsen konnte. Ziel unserer Politik ist es, gemeinsam mit den Gewerkschaften für bessere Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen und so auch für den Sozialismus zu kämpfen.
Den Protest globalisieren
Diesen Kampf versuchen wir auch über unsere Landesgrenzen hinauszutragen, um eine internationale Bewegung aller Lohnabhängigen zu schaffen. In einem globalisierten Ausbeutungssystem braucht es auch eine Globalisierung des Protests durch die Massen. Die internationale Solidarität ist zentral im Kampf gegen den Weltkapitalismus, ist sie doch unsere stärkste Waffe.
Ich als Jungsozialistin versuche, mich für eine bessere und gerechtere Welt einzusetzen. Der Sozialismus ist dann selbstverständlich das lang ersehnte Paradies. Dort fliegen übrigens auch die Hunde, und rosarote Schmetterlinge baden in Honigmilchseen. Vielleicht bin ich auch einfach Realistin in meiner Annahme, dass auch der Kapitalismus nicht das Ende der Menschheitsgeschichte darstellt und wie jedes andere bisherige Wirtschaftssystem einmal einem neuen, fortschrittlicheren System weichen muss. Gerade jetzt, in einer Zeit der Krisen und Erschütterungen, stellt sich die Frage: Ist die Zeit nicht gekommen, um die Welt neu zu ordnen, für uns und damit auch von uns?
* Olivia Eschmann wird im nächsten Herbstsemester das Geschichtsstudium beginnen.
Quelle: Tages-Anzeiger
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