Kategorie: Kapital und Arbeit

"Ausgequetscht wie eine Zitrone"

Verspätungen, marode Infrastruktur und Servicemängel gehören mittlerweile zum Alltag rund um die Eisenbahn in Deutschland. Ein Brandbrief eines Lokführers, der jüngst in zahlreichen “seriösen" Blättern und Eisenbahnmedien die Runde macht, bringt den desolaten Zustand sehr gut auf den Punkt, in dem sich die nach wie vor zu 100 Prozent bundeseigene Deutsche Bahn (DB) im Jahr 2019 befindet.


Er arbeitet aus seinen eigenen Erfahrungen die Folgen des Einstiegs in die Bahnprivatisierung 1994 kritisch auf und erklärt die Folgen für die Beschäftigten. Der laut eigener Aussage "100 Prozent überzeugte Vollbluteisenbahner", welcher seit fast 30 Jahren als Lokführer bei der Bahn tätig ist, gibt in seinem ausführlichen und kritischen Brief aus seiner Sicht Gründe für den "besorgniserregenden Zustand der Bahn" an. Schließlich befindet sich die DB AG im Jahr 2019 in der größten Krise ihrer Geschichte. Allein 2018 waren nur 73 Prozent aller Züge im Fernverkehr pünktlich und nur jeder fünfte ICE-Zug voll funktionsfähig.

Während sich Anfang der 1990er Jahre noch ein Großteil der Beschäftigen und Kunden der Bahn durch eine Privatisierung sicherere Arbeitsplätze und höhere Einkommen sowie einen besseren und kostengünstigeren Service erhoffte, treten die negativen Folgen der Bahnprivatiserung nun immer mehr zum Vorschein. 1994 wurden die beiden deutschen Staatsbahnen Bundesbahn (West) und Reichsbahn (Ost) in die Deutsche Bahn AG (DB), eine Aktiengesellschaft im Bundesbesitz, umgewandelt. Die Jahre nach der Bahnreform waren geprägt von Umstrukturierungen, Personalabbau und drastischen Einsparungen bei Mensch und Material. Auch wurde durch die Privatisierung der Druck auf die Beschäftigten im Betrieb erhöht. Der Lokführer gibt in seinem Brief Einblicke in den Alltag eines Eisenbahners: "Inzwischen habe ich viel zu oft eine Sechs-Tage-Woche mit 50/55 Stunden Arbeitszeit, Freizeit ist fast ein Fremdwort für mich geworden, mehr als 400 Überstunden, die ich Jahr für Jahr vor mir herschiebe wegen chronischem Personalmangel, wegen jahrelang verfehlter Personalpolitik unserer ach so tollen Führung. Ich fühle mich mittlerweile ausgequetscht wie eine Zitrone, bis zum letzten Tropfen." Bis heute leidet die Bahn unter erheblichem Personalmangel. So fehlen bei der DB 5800 Lokführer, Zugbegleiter, IT-Spezialisten und Mitarbeiter in den Ausbesserungswerken. Auch die Neueinstellungsoffensive von 2018 hat hier wenig geändert. Auch bei privaten Bahnen sieht es nicht besser aus.

Unter dem Sparkurs litt zunehmend auch das Schienennetz. So wurde jeder Meter Gleis und andere Bestandteile des Eisenbahnbetriebes und der Infrastruktur kritisch unter die Lupe genommen und was nicht rentabel oder nützlich erschien, wurde stillgelegt oder vom Konzern abgestoßen. Weichen und Ausweichgleise wurden entfernt und dadurch wurde die Kapazität des Netzes drastisch zurückgebaut. Die Global-Player-Strategie durch das DB-Managment hatte zur Folge, dass der DB-Konzern weltweit Firmen aufkaufte und gleichzeitig den Schienenverkehr im Stammland erheblich vernachlässigte. Seit 1994 wurden insgesamt 5400 Kilometer bzw. 16 Prozent des deutschen Schienennetzes stillgelegt. Aufgrund der fehlenden Netzkapazitäten sind solche Situationen längst kein Einzelfall mehr: "Ich sollte einen Güterzug von Offenburg nach Mannheim fahren. Ich hatte schon den ganzen Tag über Verspätung (...), kam in Offenburg verspätet an und fuhr deshalb gleich auf den Zug. Der war schon fertig, anhängen, Bremsprobe, lief alles glatt, wollte mich abfahrbereit melden um 19 Uhr. Dann die große Überraschung: Der Fahrdienstleiter teilt mir mit, mein Zug wird vom Rangierbahnhof Mannheim wegen Kapazitätsproblemen verweigert! Leider wieder einmal keine Ausnahme."

Mit der Privatiserung verschwanden für die Beschäftigten viele bahneigene Einrichtungen. Zu Bundesbahnzeiten existierten in vielen Bahnhöfen Übernachtungsmöglichkeiten und Sozialräume für die Lokführer und Zugbegleiter. "Wenn man mit einem fix und fertigen Zug im Startbahnhof nicht abfahren kann, weil es im Zielbahnhof keine freien Gleise gibt - dann ist ein absoluter Tiefpunkt erreicht. Wie stellen "Sie" sich das denn vor, liebe Chef's? Soll ich auf der Lok übernachten und meine Hängematte oder Luftmatratze mitnehmen?" erklärt der Lokführer aus seinen eigenen Erfahrungen. Solche Einrichtungen fehlen heutzutage. Auch wurden über die Jahre bahneigene Telekommunikation und Eisenbahnerwohnungen an Private verscherbelt.

Bis Ende der 1990er Jahre folgte die "zweite Stufe" der Bahnreform: So wurde die Deutsche Bahn in bis zu 200 bereichsbezogene Tochtergesellschaften aufgespalten. "Am Bahnsteig stand noch ein Personenzug RE 4728, der hätte längst abfahren sollen. Machen wir es kurz, der ist dann ausgefallen, weil kein Personal vorhanden war, um diesen Zug von Offenburg nach Karlsruhe zu fahren. Die Traktion wurde aufgelöst und jede Gesellschaft hat ihre eigenen Lokführer. Ich als Cargo darf keinen Zug von Regio & Fernverkehr fahren. Bei der Bundesbahn hätte ich wenigstens diesen Zug noch fahren können, denn da war ja alles zusammen unter einem Dach", schildert der Lokführer die hausgemachten Probleme. Die Folgen sind Spaltung der Belegschaften, Koordinierungsmängel, permanente Umstrukturierungen sowie mehr Wettbewerb zwischen den DB-Töchtern statt Zusammenarbeit.

Auch gehört zur schonungslosen Bilanz des Lokführers ein Blick auf die Rolle der Gewerkschaften. "Der Kollege Alexander Kirchner sollte lieber ganz ruhig sein, wenn er jetzt eine zweite Bahnreform fordert. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, denn die Gewerkschaften haben im Aufsichtsrat sämtliche eklatanten Fehlentwicklungen seit 1994 klaglos mitgetragen", meint er im Bezug auf die Gewerkschaften in der Frage der Bahnprivatisierung. Während in Frankreich und Großbritannien die Gewerkschaften überwiegend gegen Privatisierung kämpfen, sollte in Deutschland die Bahnprivatiseriung über Co-Management mit der Führung der Eisenbahnergewerkschaft TRANSNET abgewickelt werden. Diese "Sozialpartnerschaft" wurde am meisten durch die Troika aus SPD-Kanzler Gerhard Schröder, dem damaligen DB-Chef Hartmut Mehdorn und dem TRANSNET-Vorsitzenden Norbert Hansen verkörpert. Sie wollten die Bahn an Börse bringen. „Norbert und ich haben früher die Revolution geplant, die wir heute gemeinsam verhindern müssen“, erklärte Schröder beim TRANSNET-Gewerkschaftstag am 9. November 2004. Schließlich wechselte Nobert Hansen 2008 von der Gewerkschaftsspitze in den DB-Vorstand und TRANSNET, welche 2011 mit der kleineren und konservativeren GDBA in der heutigen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG aufging, stürzte in eine tiefe Krise. Kirchner ist übrigens seit 2008 EVG-Vorsitzender.

Aus Enttäuschung über die Politik der damaligen "DB-Hausgewerkschaft" TRANSNET wechselten einige Eisenbahner zur GDL (Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer), welche seit 2007 zu Streiks aufrief. Doch statt Widerstand gegen die Bahnprivatisierung ging es der GDL vor allem darum, ihren Einfluss in der Berufsgruppe der Lokführer zu stärken. Als "Gegenmodell" zum Börsenkurs fordert die GDL eine Trennung von Netz und Bahnbetrieb, was nur eine zweite Variante der Bahnprivatisierung nach britischem Vorbild und reine Rosinenpickerei ist.

Dass diese Forderung noch in vielen Köpfen verbreitet ist, zeigt der Ruf des Grünen-Politikers Anton Hofreiter nach einer Trennung des DB-Konzerns in eine Infrastruktur- und eine Transportgesellschaft. “Wehe, das Netz wird jemals privatisiert und aus dem Bahnkonzern herausgelöst, wie es der Herr Hofreiter und andere Unwissende fordern, dann werden wir ein blaues Wunder erleben und beängstigende Zustände bekommen, die wir uns in unseren kühnsten Träumen nicht vorgestellt hätten. Die Eisenbahn ist ein Verbundsystem, schon immer gewesen, von Anfang an, wo ein Rädchen in das andere greift, sehr arbeitsteilig, das muss man erstmal kapiert haben, und funktioniert deshalb nur reibungslos, wenn alles zusammen bleibt", kommentiert der Eisenbahner die Position des Fraktionsvorsitzenden der einstigen Öko-Partei und spricht sich stattdessen für einen einheitlichen und integrierten Bahnbetrieb aus. GDL, Grüne, CDU/CSU, FDP und Wirtschaftsverbände verschweigen jedoch, dass dieses Modell der Privatisierung in Großbritannien Flurschäden hinterlassen hat. Großbritannien ist das Mutterland der europäischen Bahnprivatisierung. Aufgrund negativer Erfahrung fordern heute rund drei Viertel der britischen Bevölkerung die Wiederverstaatlichung und Zusammenfügung des fragmentierten Eisenbahnwesens, was eine der ersten Amtshandlungen einer linken Labour-Regierung unter Jeremy Corbyn sein müsste.

Als Reaktion auf die Analyse des Lokführers über die Bahnprobleme gibt sich die Deutsche Bahn offen und betont, dass bereits Maßnahmen getroffen würden, um aus der Krise herauszukommen. Doch statt der Entwicklung einer modernen öffentlichen Bahn im Interesse von Mensch und Umwelt drängen der DB-Aufsichtsrat, Bundesrechnungshof sowie bürgerliche Politiker und GDL vor allem auf einen Verkauf der DB-Auslandstochter Arriva. Für deren Beschäftigte in ganz Europa bedeutet dies wieder ein Stück weit Privatisierung. Auch ein Interview der Medien mit dem Lokführer erlaubt die DB nicht.

Verständnis hingegen zeigt die Bundestagsabgeordnete Sabine Leidig (DIE LINKE), Mitglied im Verkehrsausschuss. "Also dieser Brief des Hauptlokführers hat mich wirklich zutiefst beeindruckt, weil er auf mehreren Seiten beschreibt, erstens wie die Realität in seinem Berufsalltag ist. Es sind 160.000 Vollzeitarbeitsplätze abgebaut worden, ganz viel bei der Wartung, bei der Reparatur und Instandhaltung ist eingespart worden. Also alles trägt dazu bei, dass die Bahn insgesamt weniger flexibel, weniger verlässlich und viel schlechter ist, als sie sein müsste", so Leidig.

Ein zentraler Grund für die Krise ist die Vernachlässigung der Eisenbahn und die Bevorzugung des Straßenverkehrs und der Luftfahrt durch die Verkehrspolitik unter dem ständigen Druck und starken Einfluss der Auto- und Mineralöllobby. Im Gegensatz zu Straßen- und Flugverkehr wird die Bahn mit der Öko- und Mineralölsteuer belastet. Warum die Bahn in Deutschland nicht vorankommt, liegt auch zum großen Teil an der hiesigen übermächtigen Auto/Lkw-Industrie. Die Macht der Großkonzerne der Automobilindustrie in der BRD ist gigantisch, das sollte jedem von uns unmissverständlich klar sein. Unsere Politiker knicken dann, wie so oft, sofort ein. Die Arbeitsplätze, die vielleicht unter Umständen durch eine Verkehrswende wegfallen würden, könnten neu entstehen im Eisenbahnsektor" meint der schreibende Eisenbahner über die verfehlte Verkehrspolitik und die damit verbundene zunehmende Verstopfung der Straßen. Er fordert eine grundlegende Verkehrswende: "Des deutschen liebstes Kind ist das Auto, freie Fahrt für freie Bürger, da fängt es an. Solange wir das in der überwiegenden Mehrheit denken, wird sich nichts ändern. Wir bräuchten einen gesellschaftlichen Wandel/Konsens darüber, eigentlich schon lange. Da wir in einer Demokratie leben, kann nur die Mehrheit deswegen etwas erreichen." Besonders in Zeiten globaler Umweltkatastrophen hat die Bahn vor dem Schiff, Flugzeug und Automobil Vorrang. Es bleibt also bei dem Ziel, mehr Menschen und Güter auf die Schiene zu bringen. Der Kahlschlag, der seit dem Einstieg in die Bahnprivatisierung erst richtig los ging und den regionalen Schienengüterverkehr zerstört hat, muss rückgängig gemacht werden.

Auch im 21. Jahrhundert bleibt der Schienenverkehr ein Rückgrat einer sozialen und ökologischen Verkehrsinfrastruktur. Statt Privatisierung, Liberalisierung und Sozialdumping auf dem Rücken der Beschäftigten und zu Lasten der Kunden brauchen wir die Vereinigten Eisenbahnen Europas in öffentlichem Eigentum und unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und der Bevölkerung. So wäre es möglich, dem Wunsch des Lokführers, dass sich die Bahn eines Tages "für fünf Sekunden Verspätung" entschuldigt, näher zu kommen.

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