Bereits Ende 2019 liefen die Vorbereitungen auf die anstehenden Tarifrunden im Sommer 2020 nur schleppend an. Dabei wäre es in diesem Jahr tatsächlich möglich gewesen, einen koordinierten gemeinsamen Kampf im gesamten öffentlichen Dienst zu organisieren. Die Entgelttabellen der Tarifverträge TvöD (Bund und Kommunen), SuE (Sozial- und Erziehungsdienste), TVN (Nahverkehr) und TVV (Tarifvertrag Versorgungsbetriebe) sind dieses Jahr ausgelaufen. Damit bot sich die Chance, dem seit Jahrzehnten andauernden Sparkurs, den Ausgliederungen und Privatisierungen, dem Personalmangel und der schlechten Bezahlung massiv und konzentriert entgegen zu treten.
Besonders jetzt, in Zeiten eines erneuten Wirtschaftseinbruchs, wäre es von entscheidender Bedeutung gewesen, die Kräfte so stark wie möglich zu mobilisieren und zu bündeln, um der VKA und der Regierung ihre Grenze aufzuzeigen. Nach der Bundestagswahl im nächsten Jahr wird die neue Bundesregierung – wie auch immer sie aussehen mag – unweigerlich ein riesiges Austeritätsprogramm schnüren, um die Staatsverschuldung, die sich jetzt im Zuge der Rettungspakete für das Kapital anstaut, wieder zurückzuzahlen. Das Beispiel Lufthansa zeigt, was auf die Lohnabhängigen hier zu Lande anrollt: Die Kapitalisten bekommen Milliarden geschenkt, die Arbeiterinnen und Arbeiter zahlen mit Rausschmiss, Lohnkürzung und noch mehr Arbeitsdruck.
Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst haben seit Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 überdeutlich gezeigt, dass ohne sie nichts läuft. In den Zeitungen und Nachrichten wurden sie als „systemrelevant“ gepriesen. Sie haben von allen Seiten jede Menge Applaus geerntet. Vor allem das politische Establishment zollte in Worten Respekt. Aber als es darauf ankam, die Aufopferungsbereitschaft in barer Münze zu vergüten, wurde schnell deutlich, dass all die Ehrerbietung in den Talkshows, Zeitungen und Pressekonferenzen lediglich scheinheilige Geste war.
Wie man eine Niederlage vorbereitet
Als klar wurde, dass zur Eindämmung der Corona-Pandemie starke Einschnitte im öffentlichen Leben erforderlich sein würden, wich die ver.di Führung davor zurück, für eine starke Tarifauseinandersetzung zu mobilisieren. Sie bot der VKA eine Nullrunde an, um so die Verhandlungen auf das nächste Jahr zu verschieben. Auf Verhandlungen im Tarifvertrag SuE wurde dieses Jahr dann auch vollständig verzichtet. In den TVöD-Verhandlungen weigerte sich die VKA, das Angebot anzunehmen. Sie nutzte die Gunst der Stunde für sich und bereitete einen harten Kampf gegen ver.di vor, um die Gewerkschaft in die Knie zu zwingen.
Mit dem alles andere als „sozialpartnerschaftlichen“ Vorgehen der VKA konfrontiert, war es für die Gewerkschaften schließlich unumgänglich, zu mobilisieren. Aber darauf war offenbar niemand ernsthaft vorbereitet. Die Forderungsdiskussion fand später als notwendig statt. Die Forderungen von der Basis wurden blockiert, weil sie zu hoch seien. Die Forderungen der ver.di-Jugend nach einem „Generalstreik“ wurde als Illusion abgetan und belächelt. Dabei wäre eine Kampagne dafür notwendig und durchaus möglich gewesen. Die Angestellten im öffentlichen Dienst hatten großen Rückhalt in der öffentlichen Debatte. Die Bundestarifkommission präsentierte schließlich eine schwache Forderung: 4,8 Prozent Entgelterhöhung auf 12 Monate Laufzeit bzw. ein monatlicher Mindestbetrag von 150 Euro. Eine Perspektive dafür, wie das durchzusetzen sei, blieb die Führung der Basis jedoch schuldig.
Das spielte in die Hände der öffentlichen Arbeitgeber. Denn mit der mäßigen Forderung ließen die Gewerkschaften durchblitzen, dass die Spitze nicht bereit war, einen ernsthaften Kampf zu führen. Deshalb setzten sie auf volle Konfrontation und versuchten mit dreisten Mitteln die Gewerkschaft und die Basis zu zermürben, um so ein Exempel für alle anderen abhängig Beschäftigten zu statuieren. So wurden zum Beispiel streikende Kolleginnen und Kollegen in manchen Kliniken einfach ausgesperrt.
Die erste Verhandlungsrunde scheiterte. Die Führung setzte nun auf punktuelle Delegiertenstreiks, verzichtete jedoch auf eine großflächige Mobilisierung. Vor der zweiten Verhandlungsrunde wurden Vermutungen aus dem ver.di-Hauptamtlichen-Apparat hörbar, dass die ver.di Führung die Gespräche mit der festen Erwartung begann, einen Abschluss zu erzielen. Ein Angebot der VKA lag zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht vor. Die VKA ließ sich auf keinen Kompromiss ein. Von „Sozialpartnerschaft“ und Kompromissbereitschaft war auf einmal keine Spur mehr. Das muss die Gewerkschaftsführung kalt erwischt haben.
Die Antwort waren Warnstreiks. Zur gleichen Zeit fanden auch Warnstreiks im ÖPNV statt, wo bundesweit separate Verhandlungen mit dem Ziel laufen, die Arbeitsbedingungen und Einkommen in den öffentlichen Verkehrsbetrieben deutlich zu verbessern. Eine Zusammenlegung der Streiks auf die gleichen Tage wäre eine effektive und sichtbare Kraftdemonstration gewesen und hätten beiden Tarifverhandlungen genützt. Aber dazu kam es nicht. Jeder kämpfte weiter für sich in vielen dezentralen Streikaktionen. Parallel dazu kam das Angebot der VKA: 3,5 Prozent für 36 Monate. Dieses Angebot der VKA war nicht anders als eine Provokation und der Versuch einer Tarifwende!
Ein wegweisendes Ergebnis
Das Ergebnis der dritten Verhandlungsrunde war dann alles andere als „respektabel“: Die Löhne und Gehälter werden zunächst zum 1. April 2021 um 1,4 Prozent, mindestens aber 50 Euro, sowie zum 1. April 2022 um weitere 1,8 Prozent angehoben. In 28 Monaten sind dies also nur 3,2 Prozent. Zudem gibt es nun von September 2020 bis April 2021 erst einmal eine Nullrunde. Die steuerfreie Corona- Sonderzahlung als Blaupause mit in die Entgelterhöhungen zu rechnen, ist auch mehr als Augenwischerei.
Einige Angriffe konnten zwar abgewehrt und andere kleine Verbesserungen erzielt werden. Aber der notwendige Kampf um eine deutliche Verbesserung der Arbeitsverhältnisse blieb aus. Gerade jetzt, wo die zweite Welle der Covid-19-Infektionen eine mögliche Überlastung in der Pflege bringen könnte, ist das ein schlechtes Ergebnis.
Das Ergebnis hat nicht nur Konsequenzen für die 2,3 Millionen Beschäftigten, die unter diesen Tarifvertrag fallen. Der TVöD ist die Leitlinie für ver.di und alle anderen Gewerkschaften. An diesem Tarifvertrag und an den Ergebnissen der Tarifrunden orientieren sich die Manager und Kapitalisten in allen anderen tariflichen und betrieblichen Auseinandersetzungen. Und derer stehen in den nächsten Monaten noch einige an. In den kommenden Wochen starten die Tarifverhandlungen in der Metall- und Textilindustrie.
In der Metallindustrie und hier insbesondere in der Auto- und Zulieferindustrie ist der Kahlschlag am härtesten. Stefan Wolf, der künftige Präsident des Gesamtverbands der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie, fordert Mehrarbeit ohne Lohnausgleich während der Krise. „Die 35-Stunden-Woche hält der künftige Gesamtmetallchef für unzeitgemäß. Auch Weihnachtsgeld, Spätzuschläge und Pausenregelungen sollten auf den Prüfstand“, berichtete SWR aktuell am 24. Oktober. Die Kapitalisten spielen mit der Angst der Beschäftigten um ihre Arbeitsplätze und erpressen sie damit. Das hat in der Luftfahrt bereits hervorragend geklappt, weil dort kein ernsthafter Abwehrkampf organisiert wurde. Jetzt ist die IG Metall am Zug. Auch diese Tarifauseinandersetzung steht jetzt unter schlechten Vorzeichen.
Gewerkschaften wachsen im Kampf
Abgesehen von dem Ergebnis gelang in dieser Tarifrunde im TVöD etwas, das selbst viele gestandene Gewerkschafter nicht für möglich gehalten haben. „Noch nie hatten wir fast aus dem Stand heraus ohne in die Betriebe zu können so gut mobilisiert“, kommentierte ein Gewerkschaftssekretär im Fachbereich 03 in einer Diskussion unter seinem „persönlichen Zwischenruf“ zum Tarifabschluss auf Facebook. Trotz der schwierigen Bedingungen waren viele Beschäftigte bereit, für bessere Löhne, Arbeitsverhältnisse und Würde zu kämpfen. Der enorme Druck am Arbeitsplatz, besonders auch durch die Pandemie und das Selbstbewusstsein, unersetzbar für das Laufen der Gesellschaft zu sein, haben viele Kolleginnen und Kollegen zum Kampf bewogen. Das Potenzial für einen noch breiter angelegten Kampf war sehr groß. Aber die Mobilisierung war nicht nur durch die Einschränkungen wegen der Pandemie schwierig, sondern auch auf Grund unzureichender Vorbereitung.
Vor einer bevorstehenden Wirtschaftskrise wurde von aufmerksamen Beobachtern bereits letztes Jahr gewarnt. Aber dennoch wurden die Basismitglieder und die Hauptamtlichen in allen DGB Gewerkschaften nicht auf die anstehenden Kämpfe und den politischen Umbruch vorbereitet. Die Krise des Kapitalismus bedeutet auch die Krise der Sozialpartnerschaft. Seit Jahren sinkt die Zahl tarifgebundener Betriebe und liegt mittlerweile bei etwa 25 Prozent. Die Kapitalisten wehren sich effektiv dagegen. Auch die Zahl der tarifgebundenen Arbeitsplätze geht zurück. Personal- und Betriebsratsgründungen werden zunehmend erschwert. Generell ist Union Busting ein immer häufiger aufkommendes Problem.
Dass es trotz der verzwickten Lage gelungen ist, „fast aus dem Stand heraus“ so gut zu mobilisieren, zeigt an, dass sich der Unmut unter der Oberfläche angestaut hat. Jahrzehnte von Stagnation und Krise prägen das Bewusstsein der Lohnabhängigen. Immer mehr abhängig Beschäftigte wollen sich wehren und brauchen dafür eine sichtbare Kampforganisation. Die Gewerkschaften müssten diese Rolle einnehmen, aber die gegenwärtige Führung traut sich nur Kämpfe mit angezogener Handbremse zu. Der Hauptvorwand dafür ist das Argument, dass der Organisationsgrad im öffentlichen Dienst zu niedrig sei und deshalb kein besseres Ergebnis erzielt werden könne. Dabei zeigt die Erfahrung, dass oft aber auch Unorganisierte mit streiken.
Dieses Vorurteil hat bereits Rosa Luxemburg 1906 in ihrer Streitschrift „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ beantwortet. Sie argumentiert dafür, dass wir unsere Kampforganisationen und besonders die Gewerkschaften als lebendige Organismen begreifen. Gewerkschaften können „bei dem ‚normalen‘ Verlauf der Dinge, ohne stürmische Klassenkämpfe, bestimmte Schichten – und zwar gerade das Gros, die wichtigsten, die tiefststehenden, die vom Kapital und vom Staate am meisten gedrückten Schichten des Proletariats – eben gar nicht“ organisieren. „Anderseits aber können die Gewerkschaften, wie alle Kampforganisationen des Proletariats, sich selbst nicht auf die Dauer anders erhalten als gerade im Kampf, und zwar nicht im Sinne allein des Froschmäusekrieges in den stehenden Gewässern der bürgerlich-parlamentarischen Periode, sondern im Sinne heftiger, revolutionärer Perioden des Massenkampfes. Die steife, mechanisch-bürokratische Auffassung will den Kampf nur als Produkt der Organisation auf einer gewissen Höhe ihrer Stärke gelten lassen. Die lebendige dialektische Entwicklung läßt umgekehrt die Organisation als ein Produkt des Kampfes entstehen.“
Wir brauchen eine selbstbewusste und vernetzte Basis
In dieser Tarifrunde wurden tausende neue „Tarifbotschafter“ in den Betrieben und viele neue Mitglieder gewonnen. Die alte, traditionelle Vorgehensweise, diese neuen kämpferischen Arbeiterinnen und Arbeiter nur in der Mitgliederdatei abzuhaken, muss ein Ende finden. Stattdessen ist es notwendig, sie jetzt politisch auszubilden und sie für die anstehenden Tarifrunden und betrieblichen Auseinandersetzungen aufzubauen. Sie müssen dabei unterstützt werden, Vertrauenskörperschaften sowie Betriebs- und Personalräte an ihren Arbeitsplätzen aufzubauen.
Die Belegschaften bei Post und Telekom können davon ein Lied singen, was es heißt, gut organisierte und erfahrene Gewerkschaftsmitglieder unter den Kolleginnen und Kollegen in den eigenen Reihen zu haben, die in der Lage sind, ihre Kämpfe selbst zu organisieren. Solche Belegschaften sind nicht leicht zu brechen und können effektiver kämpfen.
Dann werden sich auch die Forderungen der Basis umso eher in den Forderungen der Gewerkschaften wiederfinden, weil die demokratische Kontrolle von unten stärker ist, wenn die Basis selbstbewusst und kampferfahren ist. Darauf müssen wir hinarbeiten. Die Gewerkschaften sind keine Versicherungsagenturen, sondern Organisationen zur Durchsetzung der Interessen der Lohnabhängigen. Sie dienen dazu, kollektiv einen größeren Teil vom Kuchen, den die Lohnabhängigen produzieren, für sich zu erstreiten.
Letzten Endes geht es in tariflichen und betrieblichen Auseinandersetzungen nicht um Gerechtigkeit oder Arbeitsleistung der Kolleginnen und Kollegen, sondern um Macht, also die Fähigkeit, dem Kapital und seinem Staat einen Schlag zuzufügen und dadurch eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse zu erkämpfen. Darauf muss man sich aber vorbereiten. Im Hinblick auf die anstehenden Angriffe ist das jetzt dringend geboten, diese Kampfbereitschaft herzustellen. Nach der Tarifrunde ist vor der Tarifrunde. Wir dürfen nicht warten!
Die Sozialpartnerschaft aufkündigen
Die nächste Tarifrunde muss so vorbereitet sein, dass ein Erzwingungsstreik möglich ist. Manager und Kapitalisten sowie der bürgerliche Staat müssen die Macht der Beschäftigten im öffentlichen Dienst spüren. Dabei geht es hier nicht nur um Show oder Machtfantasien, sondern um unsere blanke Existenz. Noch mehr Sparmaßnahmen, Privatisierung, Arbeitsplatzvernichtung, Arbeitsverdichtung und Stagnation bei den Löhnen können wir uns schlicht nicht leisten.
Dass das möglich ist, zeigen wichtige Kämpfe in den letzten Jahren. So haben 1992 Streikende im öffentlichen Dienst, bei Bahn und Post in einem 11-tägigen Streik 5,4 Prozent mehr Lohn und Gehalt und 200 DM mehr Urlaubsgeld erkämpft. 2015 gab es intensive Arbeitskämpfe in den Sozial- und Erziehungsdiensten über Wochen hinweg, bei der Deutschen Post, der Deutschen Bahn (GDL) und der Lufthansa (Piloten). Leider wurde der Kampf in den Sozial- und Erziehungsdiensten von oben abgewürgt, statt eine noch breitere Solidaritätskampagne aufzubauen.
Es wird zudem behauptet, dass es schwer sei, im öffentlichen Dienst lange und harte Arbeitskämpfe zu führen, weil die öffentliche Meinung stets gegen die Streikenden gerichtet sei. Aber das lässt sich ebenso beheben. Der Kampf um die Solidarität aller anderen Lohnabhängigen muss im Voraus auf der Straße geführt werden. Je früher und breiter solche Solidaritätsaktionen angelegt sind, desto stärker wird der Rückhalt der restlichen Arbeiterklasse sein. Deshalb ist es an der Zeit, einen Bruch mit der ausschließlich diplomatischen Vorgehensweise der Gewerkschaftsführung zu vollziehen. Echte Siege können und werden im Betrieb und auf der Straße errungen und nicht am Verhandlungstisch.
Wir können weder Staat noch Kapital Vertrauen schenken. Sie werden die Krise nur in ihrem Interesse zu lösen versuchen. Nach der Bundestagswahl sind massive Angriffe zu erwarten. Wir müssen uns an der Basis organisieren und kämpfen lernen. Wir müssen die zögerliche Führung unserer Gewerkschaften massiv unter Druck setzen und von unten eine neue kämpferische Führung aufbauen.
Deshalb heißt es jetzt mehr denn je: Wir brauchen eine aktive, selbstbewusste, kämpferische und gut vernetzte Basis. Wir brauchen eine sichtbare Opposition zu den gewerkschaftlichen Illusionen in die „Sozialpartnerschaft“ und müssen uns auf die heftigen Klassenkämpfe der kommenden Jahre vorbereiten!
|