Der Blick eines Beschäftigten einer Kinder- und Jugendpsychiatrie zeigt, dass das profitorientierte Gesundheitssystem die Arbeit der Therapeuten, Pflegekräfte und Ärzte immens behindert und die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in ernsthafte Gefahr bringt.
In meinen Augen – und da stehe ich nicht allein da – kann man für die kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung eine goldene Regel aufstellen: In den meisten Fällen, und je jünger das Kind ist, umso mehr sind die Auffälligkeiten der Kinder Symptome oder Reflektionen der Probleme in der Familie, Wohngruppe oder des generellen Umfelds des Kindes. Jeder der sich ernsthaft mit Kindern und Jugendlichen auseinander setzten will, muss sich auch mit deren Umfeld beschäftigen und auseinandersetzen. Selbst in Fällen, wo eine klare biologische Komponente für die Auffälligkeiten der Kinder vorliegt, kommt es stark darauf an, wie sein Umfeld damit umgeht.
Dementsprechend bezieht die Behandlung eines Kindes/Jugendlichen auch das Umfeld mit ein. Das macht eine Behandlung komplexer und bedarf Zeit, um Vertrauen aufzubauen, um Verständnis und Veränderungen herbeizuführen, um Versuche zu starten, aus Fehlern zu lernen und Hilfskomponenten von außen (z.B. durch das Jugendamt) zu finden. Nur so kann in meinen Augen einem Kind/Jugendlichen geholfen werden. Aber diese Zeit ist uns nicht gegeben denn im Regelfall geben die Krankenkassen einen Behandlungsraum von drei Monaten vor. Drei Monate sind nur dann ausreichend, wenn die Therapie reibungslos verläuft, das Kind und die Eltern oder das umliegende System von Anfang an mit Motivation mitarbeitet oder wenn die Symptomatik nicht stark ausgeprägt ist. Das trifft in den wenigsten Fällen zu, sodass drei Monate selten zu einem befriedigenden Abschluss einer Behandlung führen.
Dass unser System den Kindern und Jugendlichen nicht wirklich hilft, zeigen zwei Phänomene:
Zum einen die immens hohe Rückfallrate. Wenn ein Kind, das erste Mal mit z.B. 7 Jahren bei uns in der Klinik war, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es bis zum 18 Lebensjahr noch mehrere Male in unsere Klinik behandelt werden muss – meist wegen genau derselben Symptomatik. Das liegt nicht daran, dass bei uns in der Klinik Amateure arbeiten würden, sondern daran, dass unsere Mittel lediglich für Kriseninterventionen und akute Symptombekämpfungen reichen. In den meisten Fällen erkennen wir die Gründe für die Symptomatik der Kinder und Jugendlichen, allerdings reicht die vorgegebene Zeit bei weitem nicht aus, sie zu behandeln oder zu verändern. Das kann man mit der Behandlung eines Patienten mit angebrochenem Fuß vergleichen, dem statt Gips und Reha, nur eine Schmerztablette verschrieben wird. Sie wird ihm helfen, einige Zeit wieder normal Laufen zu können aber der Grund der Schmerzen bleibt unberührt. Im „besten Fall“ reichen dem Patienten einige Schmerztabletten, im schlechtesten Fall, wird der Fuß schlimmer, weil er überlastet wird und nicht heilt.
Das zweite Phänomen ist fast noch erschreckender. Immer wieder sorgen vor allem Jugendliche aktiv dafür, dass sie länger in unserer Klinik bleiben (z.B. durch Androhung von Suizid). Das, obwohl unsere Klinik in meinen Augen weder ästhetisch noch inhaltlich (durch fehlende Mittel, Personal, Zeit) viel zu bieten hat. Zudem ist das Essen meist schrecklich und es gelten viele strenge Regeln. Der Grund dafür ist, dass die Jugendlichen selbst merken, dass sich zu wenig verändert hat. Sie wissen, wenn sie in ihr altes Umfeld zurückkommen, wird alles (fast) genauso wie vorher sein und nach nur wenigen Wochen werden sie sich so fühlen wie zu dem Zeitpunkt als sie zu uns gekommen sind. Sie fühlen sich nicht sicher und tun alles dafür, bei uns zu bleiben. Denn die klaren, einfachen Strukturen der Klinik helfen ihnen durch den Alltag zu kommen. Anders als die unklaren und chaotischen Strukturen ihres Alltags in der Familie, Schule, usw.
Ich möchte mich natürlich nicht für eine dauerhafte Hospitalisierung von Kindern aussprechen. Je weniger Zeit sie bei uns benötigen, desto besser. Aber jedes Kind und dessen Familie, Wohngruppe etc. sollte genug Zeit kriegen, um sich so zu entwickeln, dass dem Kind und letztendlich auch seinem Umfeld wirklich geholfen wurde. Natürlich kann das einen längeren Aufenthalt erfordern, aber die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass es bei diesem einen Aufenthalt bleibt. Wiederholte Aufnahmen in Psychiatrien bringen die immense Gefahr mit sich, dass Kinder und Jugendliche den Schluss ziehen, dass ihnen keiner helfen kann und sie nicht zu retten sind. Denn wer, wenn nicht die Leute in der Psychiatrie können einem helfen? Und wenn die es noch nicht einmal schaffen, wer soll es dann? Ich möchte gar nicht darüber nachdenken wie oft ich selbst Kinder sagen hören habe, dass Sie zu nichts taugen und später sowieso im Gefängnis enden, keine Arbeit finden, Alkoholiker werden, niemand sie lieben wird, weil es ja sowieso schon niemand tut. Das traurige ist, dass unser Gesundheitssystem nicht wirklich etwas dagegen tun kann, dass sich solche Vorstellungen als unwahr erweisen.
Die Bluthunde des MDK
Der sogenannte Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) ist wahrscheinlich die ausschlaggebende Institution, die mir die Illusion eines selbst nur halbwegs funktionierenden Gesundheitssystems mit voller Wucht geraubt hat. Die Aufgabe des MDK ist es, die einzelnen Behandlungsverläufe für die Krankenkassen zu überprüfen und einzuschätzen ob z.B. die Dauer der Behandlung gerechtfertigt war oder nicht. Dabei geht es nicht um das Wohl des Kindes, sondern um das Wohl der Konten der Krankenkassen. Der MDK hat das Recht Fälle zu überprüfen, vor allem wenn sich ein Patient länger als drei Monate bei uns in Behandlung befand. Sollte der prüfende Gutachter empfinden, dass es kein Grund dafür gab, einen Patienten so lange zu behandeln, heißt das, dass die Klinik für diese Behandlung kein oder weniger Geld bekommt und zusätzlich eine Strafe bezahlen muss.
Es ist mir unverständlich wie die Einschätzung eines Gutachters, der den Patienten nicht einmal zu Gesicht bekommen hat, mehr zählen kann als die Einschätzungen eines kompletten Teams von Pflegekräften, Ärzten und Therapeuten die tagtäglich mit dem Kind zusammenarbeiten. Je mehr Fälle der MDK negativ bewertet, desto mehr Fälle darf der MDK überprüfen. Das sorgt für gewaltigen Druck, vor allem bei unserem Chefarzt, der dafür sorgen muss, dass so viel Geld wie möglich durch die Behandlungen reinkommt. Obwohl unser Chefarzt in meinen Augen nur das Beste für unsere Patienten will, ist er gezwungen, Druck – besonders auf die Therapeuten – auszuüben, damit wir die Behandlung so schnell wie möglich beenden.
Dazu kommt, dass der MDK bestimmte Diagnosen als nicht ausreichenden Grund für die Behandlung eines Kinds oder Jugendlichen in einer Klinik einstuft. Das führt regelrecht dazu, dass von unserer Seite an den Diagnosen rumgepfuscht werden muss oder Diagnosen vergeben werden müssen, die eigentlich völlig falsch sind oder nur auf losen Verdacht beruhen. Alles nur damit wir Patienten weiterbehandeln können. Solche Diagnosen können aber langfristige negative Folgen, z.B. bei der Jobsuche, für die Kinder und Jugendlichen haben.
Desweitern sehen wir bei vielen Patienten die Notwendigkeit einer Behandlung, die aber vom MDK als nicht akut genug bewertet werden. Letztendlich müssen wir ständig alles dafür tun, dass die Bluthunde vom MDK unsere Fährte nicht aufnehmen und uns die Fälle zerreißen. Dass dabei die psychische Gesundheit unserer Patienten auf die ein oder andere Art in Gefahr gebracht und unsere Arbeit stark behindert wird ist etwas was wir notgedrungen in Kauf nehmen müssen, um überhaupt arbeiten zu können. Es hinterlässt auch bei uns Spuren und die Frustration bei allen Kolleginnen und Kollegen ist deutlich spürbar.
Das Geschäft mit der Psyche
Für die Behandlung eines Patienten bekommt die Klinik im Durschnitt eine fünfstellige Summe ausgezahlt. Wir reden hier von Beträgen von 10.000 bis 60.000 Euro und aufwärts. Insgesamt haben wir 7 Stationen und Teilstationen (z.B. Tagesklinik). Auf diesen befinden sich jeweils durchschnittlich 13 Patienten, wenn nicht sogar mehr. Man kann sich ausrechnen, dass die Klinik eine immense Summe an Geld erhält. Dazu kommt, dass die KJP nur ein Teil eines großen Krankenhauses ist.
Durch die Coronapandemie ist auch das „normale“ Krankenhaus ständig überfüllt. Dieses Krankenhaus gehört wiederrum zu einem Krankenhauskomplex von vielen Einrichtungen. Soweit ich weiß, sind auch diese meist überlaufen. Trotzdem heißt es ständig, dass das Haus kein Geld hätte. Stellen werden gekürzt, es mangelt an allen Ecken und Kanten. In den meisten Bereichen haben wir noch kaum Internetempfang und die Technik ist generell veraltet. Viele der auf unserer Website ausgewiesenen wunderbaren Angebote, können nicht umgesetzt werden, da das Personal fehlt, die finanziellen Mittel nicht zur Verfügung gestellt werden oder diese Aufgrund von Sparmaßnahmen nicht benutzt werden dürfen. Kürzlich lagen wir uns mit der Buchhaltung in den Haaren, weil diese darauf pochte, dass das Haus nicht genug Geld hätte für einen neuen A2 Block Blätter, den ich brauchte.
Da fragt man sich, wo das ganze Geld hingeht. Ganz klar „nach oben“. Damit meine ich nicht unseren Chefarzt, sondern die sogenannte Geschäftsführung des Krankenhauses. Ich finde es sehr bezeichnend, dass das Wort Geschäftsführung für die Leitung gewählt wurde. Die KJP und jedes Krankenhaus ist mittlerweile zu einem Unternehmen geworden. Auch diese Betriebe haben die Aufgabe – auf Kosten der (psychischen) Gesundheit unserer Patienten sowie der Arbeit des Personals – Profit in die Taschen einiger weniger zu pumpen.
Bis heute habe ich nicht herausgefunden, was eigentlich die Aufgabe dieser Geschäftsführung ist. Ich weiß nur, dass sie uns Quoten vorgibt, die wir zu erfüllen haben. Wo das nicht geschieht, wird mit Stellenkürzung und Krankenhausschließung gedroht. Tatsächlich ist unser Krankenhaus wohl seit einiger Zeit pleite. Da wir allerdings eine katholische Einrichtung sind, springt die Kirche immer wieder ein um uns „zu retten“. Ich glaube, würde man sich der Geschäftsführung entledigen, wäre schonmal mehr Geld für mehr Personal und bessere Therapien vorhanden.
Von Bekannten aus anderen Kliniken weiß ich, dass es dort teilweise noch skrupelloser zugeht und bestimmte Diagnosen auf Anweisung der Geschäftsleitung auffällig oft und grundlos vergeben werden, da bekannt ist, dass die Krankenkassen dafür viel Geld zahlen. Die Gier treibt diese Herren und Damen zu wahrlich abscheulichem Umgang mit Patienten und Beschäftigten.
Arbeitsbedingung der Pflege
Das deutsche Gesundheitssystem ist durch die Coronapandemie komplett überlastet. Auch in den Psychiatrien hinterlässt sie ihre Spuren. Viele Kinder und Jugendliche leiden massiv darunter, dass sie von ihren sozialen Kontakten abgeschnitten werden. Eltern sind überfordert damit, dass ihre Kinder nicht zur Schule können, vor allem wenn sie selbst im Homeoffice arbeiten. Familien sind in den meisten Fällen völlig überlastet. Der Anstieg häuslicher Gewalt ist ein klares Zeichen dafür. In den letzten Monaten hatten wir vermehrt Fälle von stark ausgeprägten Waschzwängen, Depressionen oder Ängsten, die deutlich auf die Pandemie zurückzuverfolgen waren.
Auch die Mitarbeiter der KJP leiden. Ständig wechseln die rechtlichen Vorgaben der Pandemiepolitik. Maßnahmen werden angeordnet, die in unseren Augen zum Teil wenig Sinn machen. Das konstante Versagen der Politik lässt große Frustration und Hoffnungslosigkeit aufkeimen. Die Arbeit in der KJP war vorher schon nicht leicht, vor allem für die Pflege. Wie in jeder Klinik haben wir für die Pflege ein Schichtsystem. Die Kollegen in der Pflege müssen in der Regel 12 Tage durcharbeiten, um dann drei Tage frei zu haben. In den 12 Tagen arbeiten sie allerdings in wechselnden Schichten, z.B. zwei Tage Frühschicht, ein Tag Spätschicht und dann wieder Frühschicht. Wer sich auch immer dieses System ausgedacht hat kann nicht das Wohlergehen der Beschäftigten im Kopf gehabt haben.
Durch den ständigen Wechsel sind die Kollegen oft übermüdet. Viele berichten davon, dass sie zuhause eigentlich nur noch schlafen. Besonders diejenigen die selbst Kinder haben, haben keine Freizeit. Selbst an den drei freien Tagen kommt es oft vor, dass sie wegen Personalnotstand, doch nochmal zur Arbeit kommen müssen. Die Übermüdung und Überlastung frustriert unsere Pflegekräfte. In Kombination mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen ist das eine explosive Mischung, die zu vielen Konflikten führt. Eine bedürfnisorientierte Planung könnte das verhindern. Der Großteil unser Pflegekräfte ist Mitte 40 und aufwärts. Die jüngeren Generationen bleiben meist nicht lange. Ich kenne keinen einzigen Pfleger, der sagt, dass er die Arbeit, so wie sie ist, gut findet. Viele wollen den Beruf wechseln. Die ältere Generation besänftigen sich damit, dass es nie wirklich besser war. Aber was passiert, wenn sie in Rente gehen oder einfach nicht mehr weitermachen können? Es herrscht jetzt schon Pflegenotstand, der kaum noch aufzufangen ist.
Mehrfach habe ich als Therapeut die Aufgaben der Pflege übernommen, da es nicht genug Personal gab. Auch an Ärzten mangelt es. Unsere Oberärzte sind alle schon nah am Rentenalter und arbeiten durchgängig. Von einer Bekannten aus dem Studium habe ich erfahren, dass sie in einer Psychiatrie gearbeitet hat, in der es monatelang keine Ärzte gab. Das ist eigentlich allein schon rechtlich nicht möglich. Dementsprechend stand diese Klinik kurz vor der Schließung bis sich ein ehemaliger Chefarzt erbarmt hat und aus seiner Rente zurückgekehrt ist, um die Klinik weiterzuführen. Wäre diese Klinik geschlossen worden, hätte ein riesiges Einzugsgebiet auf Kliniken aufgeteilt werden müssen, die selbst überlastet sind.
Wohngruppen
Durch meine Arbeit habe ich viel mit Wohngruppen zu tun. Dort leben Kinder und Jugendliche, die aus verschiedensten Gründen nicht mehr bei ihren Eltern wohnen können, dürfen oder wollen. Verständlicherweise sind diese Kinder und Jugendlichen oft schwer belastet und brauchen viel Unterstützung. Wir haben sehr oft mit Wohngruppen zu tun, die mit den Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes nicht zurechtkommen. Vor allem dann, wenn ihre Schützlinge ihre Impulse nicht kontrollieren können und deshalb in Konflikten stark ausrasten und übergriffig werden. Diesen Kindern ist meist geholfen, wenn man als Betreuer solche Situationen deeskalieren kann. Nach meiner Erfahrung kann man aber 80 Prozent der Konflikte ganz einfach durch deeskalierende Methoden unproblematisch lösen.
Wir in der Klinik wurden darin ausgebildet, die Betreuer der Wohngruppen meistens leider nicht. Das liegt daran, dass die Träger der Wohngruppen nicht bereit sind, solche Weiterbildungen zu bezahlen. Deshalb kommt es zu immer größeren Konflikten, bis die Wohngruppe sagt, dass sie ein Kind nicht mehr halten kann. Dann beginnt etwas, was wir bitter als Wohngruppenhopping bezeichnen. Das Kind wird von einer Wohngruppe zur nächsten geschoben. Das Kind baut immer größere Frustration und Bindungsängste auf, gerät häufiger in Konflikte, die durch die Betreuer nicht aufgefangen werden können. Ein Teufelskreis der nicht zu stoppen ist. Mir ist wichtig zu betonen, dass ich damit keinen Betreuer aus einer Wohngruppe beschuldigen möchte. Die meisten die ich kennengelernt habe, waren engagierte Pädagogen, die bei Unterbesetzung und für viel zu geringer Bezahlung, übermenschliches leisten, um den Kindern und Jugendlichen zu helfen. Die Schuld liegt auch hier im Gesundheits- und Sozialsystem, das an wichtigen Stellen wegen der Sparpolitik heruntergekommen ist. Die Gesundheit sowohl der Beschäftigten als auch der Kinder wird aufs Spiel setzt.
Manchmal ist es eindeutig, dass ein Kind nicht mehr zuhause wohnen kann. Dann wird von unserer Seite aus, zusammen mit dem Jugendamt, ein Verfahren eingeleitet, sodass das Kind in eine Wohngruppe umziehen kann. Diese sind aber komplett überfüllt und es gibt generell viel zu wenige. So ein Umzug kann sich ewig in die Länge ziehen. Bei sehr akuten Fällen gibt es die Möglichkeit, Kinder in Obhut zu geben. Doch im Regelfall dauert es mehrere Monate. Aus psychiatrischer Sicht heißt das, dass die Kinder monatelang ihren Familien ausgesetzt bleiben müssen, wo sie psychisch misshandeln werden. Nur bei eindeutig sichtbarer körperlicher Misshandlung kann schnell und drastisch gehandelt werden.
Als KJP wird uns aber nur wenige Monate Behandlungsdauer gegeben und die Notwendigkeit einer Wohngruppe zeigt sich meist erst während der Behandlung, deshalb können wir die Kinder in dieser Zeit meist nur ambulant unterstützen. Viele Familien erweisen sich jedoch als Behandlungsresistent. So passiert es oft, dass wir die Kinder in ein schreckliches Umfeld entlassen müssen, mit dem Wissen, dass wenn überhaupt, erst in einigen Monaten ein Platz in einer Wohngruppe frei wird. Das ganze Verfahren ist natürlich komplexer und sprengt den Rahmen dieses Berichtes, aber es ist ein Problem, mit dem wir immer wieder zu kämpfen haben.
Wer für Gott arbeitet, beschwert sich nicht
Als ich angefangen habe zu arbeiten, fiel mir sofort auf, dass es an unserer Klinik keinen Betriebsrat gibt. Auf meine Erkundigung teilte man mir mit, dass es Betriebsräte in katholischen Einrichtungen generell nicht gibt. Der Grund: „Wer für Gott arbeitet, muss sich nicht beschweren!“ Ich wäre fast vom Stuhl gefallen. Auf Druck von Beschäftigten wurden aber sogenannte Mitarbeitervertretungen (MAV) eingeführt. Die MAV ist allerdings nicht mehr als ein Alibi, denn sie hat so gut wie keine Rechte und im Vergleich zu einem Betriebsrat auch keinen Kündigungsschutz und ist direkt der Geschäftsführung untergeordnet. Sprich, die MAV kann nichts umsetzten, was die Geschäftsführung nicht sowieso umsetzen will.
Durch einen Kollegen, der Mitglied der MAV in unserer Klinik ist, weiß ich, dass die MAV-Mitglieder zwar zu den Meetings der Geschäftsführung eingeladen, sie dort aber regelrecht beleidigt und drangsaliert werden. Für mich klingt es, als ob die MAV nur eingeladen wird damit die Bonzen jemanden haben über den sie sich lustig machen können. Dabei gibt es so viele Dinge die schief laufen und eine unabhängige Vertretung der Beschäftigten nötig machen, die sich für unsere Rechte und die unserer Patienten einsetzt.
Konsequenz?
Genau wie im gesamten deutschen Gesundheitssystem haben anderthalb Jahre Pandemie eine unüberschaubare Krise offengelegt. Von Seiten der Politik wurden absolut keine Schritte unternommen, um die Situation zum Besseren zu wenden. Ich und vielen Kollegen haben das Gefühl, dass das gesamte Gesundheitssystem kurz vor einem Kollaps steht. Während die Geschäftsführung reicher wird, arbeiten wir Beschäftigten unter immer schwierigeren Bedingungen und mit immer weniger Mitteln zur Hand. Schon jetzt können wir Kindern und Jugendlichen kaum helfen. Die Wartelisten sowohl für die Kliniken als auch privaten Praxen werden immer länger.
Meine Motivation für den Job eines Psychologen/Therapeuten war und ist es Menschen zu helfen. Mittlerweile muss ich mir aber eingestehen, dass unser privatisiertes, auf Gewinn fokussiertes Gesundheitssystem zum Teil mehr Schaden anrichtet, als dass es wirklich hilft. Es ist klar, dass jeder der in unser KJP arbeitet, das aus einer ähnlichen Motivation tut wie ich. Würde man uns die Leitung der Klinik in die Hände geben, würde man den MDK abschaffen und die Finanzierung der Kliniken, Wohngruppen und anderen Einrichtungen bedarfsgerecht organisieren, dann könnten das Gesundheitssystem den Kindern und Jugendlichen wirklich hilft.
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