Kultur als Text voller Zeichen
In der Wissenschaft gibt es verschiedene Ansätze, die Kultur zu beschreiben. In der Kulturwissenschaft werden oft die Semiotik (Lehre der Zeichen) von Cassierer und die Lehre über die Semiosphären von Lotman zu Grunde gelegt. Die Semiotik sieht eine sehr abstrakte Form, was Kultur ausmacht. Die Kultur ist ähnlich wie ein umfassender und komplexer Text auf vielen verschiedenen Zeichen aufgebaut. Diese Zeichen werden durch Semiosphären abgegrenzt und bilden ein Zentrum mit einer Peripherie.
Das Zentrum beinhaltet alle für eine Kultur wichtigen Elemente wie zum Beispiel die Regeln einer Sprache oder Erinnerungsfiguren und andere Sachen, die im kollektiven Gedächtnis eine Rolle spielen. Die Peripherie weist vor allem Dinge vor, die in der Kultur nur als Randerscheinungen zu Tage treten. Der Übergang von Zentrum und Peripherie ist offen und fließend.
Die Zeichen innerhalb einer Kultur basieren auf Codes, die nur von Mitgliedern der Kultur vollständig verstanden werden, an den gemeinsamen Grenzen der Kulturen kommt es aber zum Austausch dieser Codes. In den Peripherien entstehen deshalb oft neue Codes, die als Hybride (Mischung aus beiden) bezeichnet werden können. Außerdem gibt es einen ständigen Übersetzungsprozess zwischen angrenzende Codes.
Die Außenkultur als Unbekannte
Nun gibt es tatsächlich nicht nur Kultur und Gegen-Kultur(en), sondern faktisch auch Außenkulturen. Außenkulturen sind Kulturen, die nicht an der Grenze der Peripherie der Kultur liegen, sondern hinter den Grenzen mehrerer Gegen-Kulturen. Diese Außenkultur ist der Kultur, von der wir ausgehen zumeist gänzlich unbekannt. Die Kultur kann mit deren Zeichen überhaupt nichts anfangen und kommt nicht einmal direkt in die Versuchung, sich damit auseinanderzusetzen, weil diese Außenkultur auf Grund der Lage einfach keine unmittelbare Rolle spielt.
Die Welt ist allerdings wegen der Technisierung und Globalisierung jetzt in der Lage, den Austausch zwischen Kultur und Außenkultur zu ermöglichen. Natürlich war das zu früheren Zeitpunkten auch möglich, allerdings hatte das keine direkten Auswirkungen auf die Entwicklung der Codes, es sei denn es handelte sich um weltverbessernde Erfindungen oder Dinge, derer sich die Kultur aus einer Außenkultur bemächtigen wollte.
Die Globalisierung der Kultur
Globalisierung ist zwar nicht immer etwas Gutes, jedoch ermöglicht sie auf kulturellem Gebiet, die Peripherien und ihre Grenze auf ungeahnte Maße zu erweitern. So entstehen mit der einhergehenden Digitalisierung der Welt gedacht neue offene kulturelle Grenzen zu vormals Außenkulturen, die sich nun in Gegen-Kulturen verwandeln. Die ehemaligen Außenkulturen haben nun auch direkten Einfluss auf die Entwicklung der Kultur, da natürlich nun neuer Austausch möglich wird und auch zwischen Zentrum und Peripherie ständiger Austausch stattfindet.
Mit dieser Sache ist aber noch eine Lehre verbunden, die auf Jacob Burckhardt, einen Kulturhistoriker zurückgeht. Er hat sich mit der Entwicklung der Weltgeschichte auseinandergesetzt und die Geschichte auf drei Potenzen aufgebaut: Staat, Religion als feste und starre Potenzen; Kultur als dynamische und sich verändernde Potenz. Eine der Drei ist immer dominant und wirkt somit auf die anderen ein. Die Kultur, weil sie die dynamische Potenz darstellt, ist diejenige, die sich unter Staat und Religion verändert.
Die Angst vor Überfremdung
Auf dieser Theorie ist es möglich herzuleiten, wie Ängste zustande kommen und worauf sie beruhen. In erster Linie sind „Mischungen“ von verschiedenen Kulturen schon von Anbeginn der Zeit vorhanden und werden, solange es Kulturen gibt, niemals verschwinden. Hätte es diese Vermischungen von Codes und Zeichen nicht gegeben, wären uns viele Dinge, die wir heute alltäglich nutzen, verwehrt geblieben. Natürlich hätte sich dann auch unsere Sprache völlig isoliert entwickelt und wir würden sicher mit Abstrichen immer noch so sprechen, wie es die frühen Menschen taten, jedenfalls kein Hochdeutsch nach wissenschaftlich entwickelten Grammatiken.
Jedoch muss man im Hinblick auf die Sprache als Dominante einer Kultur sagen, dass eine Überfremdung faktisch nicht stattfinden kann, außer die aktive Sprecherzahl wird so gering, dass die Sprache langfristig gesehen sogar ausstirbt. Das ist bei vielen slawischen Sprachen der Fall gewesen, die im elbischen Gebiet gesprochen wurden. Die Sprachen standen unter so großem Einfluss durch das Deutsche, außerdem wurden Teile der slawischen Bevölkerung regelrecht ausgerottet, sodass unter anderem das Polabische aussterben musste – und mit ihr die polabische Kultur.
Dass aber in diesem Falle nicht plötzlich jegliche slawische Kultur aus den ehemaligen slawischen Gebieten verschwand, zeigen heute noch Ortsnamen im Wendland oder anderen Teile im östlichen Deutschland. So kann man aber jedem aktiven Sprecher des Deutschen versichern, der Angst davor hat, dass die deutsche Sprache und Kultur irgendwann ausstirbt, dass das noch etliche Epochen dauern würde, wenn es überhaupt so weit käme, denn die aktuelle Zahl der Muttersprachler weltweit liegt zwischen 90 und über 100 Millionen, zusätzlich etwa 55 Millionen Fremdsprachler. Ein Argument, dass bindend ist, weil es auf langfristige Sicht nicht absehbar ist, dass diese Zahl rückläufig sein wird.
Eine andere Sache ist aber sicher, dass die deutsche Sprache und damit Kultur auf Grund ihrer Verteilung auf der Welt immer Schwankungen und Entwicklungen unterliegen wird. Aus der Burckhardt’schen Potenzenlehre zu sehen, dass Kultur eine dynamische Sache ist, unterliegt auch Deutschland als Kultur dieser Dynamik und verändert sich ständig. Gegen-Kulturen wirken auf die Kultur ein, sowie die Kultur aber auch auf die Gegen-Kultur einwirkt, das darf man nicht vergessen. Heute wirken sogar Kulturen auf Außenkulturen ein.
Niemand muss sich vor einer Überfremdung fürchten. Kulturelle Begegnungen sind schon immer vorhanden gewesen und haben ja auch unsere Kultur zu der gemacht, die sie jetzt ist, aber in 50 Jahren nicht mehr sein wird, weil sie sich weiterentwickelt hat. Das ein oder andere Wort der Hochsprache wird anders heißen, die Bedeutungen verschieben sich, einzelne Varianten des Deutschen werden verschwinden, Trachten womöglich anders aussehen und neue Traditionen hinzukommen.
Völlig normale Abläufe, die ja auch immer wieder innerhalb einer Kultur stattfinden. Wir müssen das Bild aus dem Kopf bekommen, dass eine Kultur eine einzelne homogene Masse darstellt – Kulturen sind immer heterogen und bestehen aus so vielen verschiedenen Teilen und Entwicklungen derselben Sache. Viele dieser Dinge sind nur im aktuellen Hinblick „normal“, andere wiederum „fremd“, wobei sich eine solche Sache innerhalb kürzester Zeit umkehren kann.
Kultureller Austausch als Bereicherung
Wenn die Menschen begreifen können und werden, dass eine Kultur so „tickt“, dann wird für kommende Generationen ein aktiver kultureller Austausch auch immer eine Bereicherung darstellen, denn faktisch ist ein solcher Austausch nichts Anderes als Neugier gegenüber der Gegen-Kultur. Und selbst wenn man sich gerade zentral-kulturell bewegt, steht in einer so digitalisierten und globalisierten Welt einer Übersetzung der eigenen Codes in andere nichts mehr im Wege, ist doch Englisch mittlerweile auf Grund der Verbreitung des englischen Sprachcodes zu einem annähernden Weltcode geworden.
Für Manchen vielleicht immer noch eine Barriere, wird es in absehbarer Zeit zu einem noch größeren Verständigungscode für alle WeltbürgerInnen werden. Die Kultur ist im Grunde eine sich ständig entwickelnde Potenz, die eine oder andere Kultur wird absterben, ganz ohne, dass ein Mensch etwas dagegen tun könnte. Überfremdung hingegen ist eine Erfindung solcher Truppen, die die Dynamik einer Kultur nicht anerkennen wollen oder gezielt Ängste entstehen lassen wollen.
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