Ein Pfiff erklingt, der Ball rollt, ein Raunen geht durchs Stadion. Am 14. Juni heißt es wieder Atem anhalten und Daumen drücken – die Fussball-WM 2018 beginnt. Kaum ein anderer Anlass packt derart viele Leute, so auch hierzulande. Wobei das «Anschauen» nur den passiven Part ausmacht. Es geht um viel mehr: Schreien, fluchen, ausflippen. Die Welt befindet sich im scheinbaren Ausnahmezustand. Was der biedere, monotone und einsame Alltag im Kapitalismus verwehrt, sprudelt im WM-Rausch förmlich heraus: Emotionen, Leidenschaft und Zugehörigkeit. Während vier Wochen fühlt sich ein Großteil der Gesellschaft durchs Nationalteam verbunden. Mit den sonst so lästigen, weil Platz beanspruchenden Mitmenschen machen wir plötzlich Luftsprünge im prall gefüllten Public- Viewing-Bereich; anstatt böse Blicke und künstliche Lächeln gibt es tröstende Umarmungen und geteilte Freude. Mit den sonst nur am Wetter interessierten Nachbarn debattieren wir plötzlich übers Weiterkommen vor dem letzten Gruppenspiel; anstatt komplettem Desinteresse fürs öffentliche Leben gibt es haufenweise Fußball-Kenner. Und mit unseren sonst so kontrollierten Gefühlen geht plötzlich die Post ab; anstatt beschämte Gesichter bei auffälligem Verhalten gibt es überall wild hupende Autos und singende Fans in den Straßen.
Fußball als kanalisierte Leidenschaft
Eine WM durchbricht also die eintönige Tagesroutine und dient zugleich als Ventil für vorhandene, im Kapitalismus aber strikte vom Arbeitsplatz verbannte Emotionen und Gefühle. Denn Disziplin der Produktivität wegen verkommt in der Konkurrenz gezwungenermaßen zum obersten Gebot in den Betrieben. Leidenschaft wird «in künstliche Kanäle … durch Fußballspiele geleitet», schreibt der russische Marxist Trotzki. Diese Kanalisierung bedarf geregelter – weil nur so kontrollierbarer – Abläufe; auf Länderebene durch die FIFA. In dieser Form ist eine WM für die Bourgeoisie und ihre Staaten von doppeltem Interesse: Einerseits lässt sich das rechtlich geordnete Spektakel seit seiner Erstaustragung 1930 immer vielfältiger warenförmig verkaufen – andererseits zementiert sich das für den Kapitalismus fundamentale Wettkampfdenken (gerade zwischen Nationalitäten) dadurch zusätzlich in die Köpfe der Fußball konsumierenden ArbeiterInnen.
So gesehen bricht eine WM also nur insofern mit dem öden Arbeitsalltag, als dass sie das ihn so öde machende System ausweitet und untermauert. Und zwar immer stärker, wie das Wachstum der FIFA zeigt: In den letzten zehn Jahren verdoppelt der «nicht gewinnorientierte Verein» sein milliardenschweres Vermögen – hauptsächlich dank rasant steigenden Einnahmen durch verkaufte TV-Übertragungsrechte (WM 1998 noch knapp 18 Millionen DM, WM 2018 bereits 218 Millionen Euro).
Entfremdete Identität des Fans
Auf der einen Seite globalisiert, professionalisiert und perfektioniert das sich ausdehnende Kapital so die Weltmeisterschaften. Auf der anderen schlägt es mehr und mehr einen Keil zwischen das bewunderte Spiel und seine Bewunderer. Die WM wird nicht der Fans wegen ausgetragen, sondern deshalb, weil durch die konsumierenden ZuschauerInnen Geld gemacht werden kann. Begeisterung, Nervenkitzel, Emotionen: Alles, was das Spiel ausmacht, ist nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck – nämlich Gewinn für TV-Rechte-Inhaber, Ausrüster, Wettbüros, Sponsoren, Funktionäre, Verbände usw. WM-Fans aus der Arbeiterklasse identifizieren sich massenhaft mit etwas, das weder ihnen gehört, noch zugunsten ihres objektiven Interesses funktioniert; sie werden abgezockt und gespalten. Dennoch gehört das alle vier Jahre stattfindende Turnier für viele von ihnen zum Erfüllendsten in einem unerfüllten Leben. Unerfüllt deshalb, weil auf dem Kopf stehend: Wir verwirklichen uns nicht, indem wir arbeiten, sondern wir arbeiten, um uns zu verwirklichen. Die ganze Woche schuften, nur damit der Firmenbesitzer Kapital anhäufen und investieren kann, sodass zu dessen Vermehrung wieder geschuftet werden muss. Dabei kommt man mehr oder weniger knapp über die Runden, lebt in ständiger Angst, ersetzt zu werden und hat das Gefühl, an all dem nichts ändern zu können. Das Fußballspiel am sommerlichen Feierabend bietet den idealen Kontrast zum einsamen, passiven, aussichts- und herzlosen Alltag: zusammen mit Gleichgesinnten dem möglichen Sieg seiner Mannschaft entgegenfiebern; gemeinsam jubeln, weinen oder fluchen.
Nationalflaggen verwerfen?
Eine absurde Flucht aus den tagtäglichen Bedingungen, weil sie die Fluchtursachen verwischt und somit stützt: Anstatt dass sich sämtliche ArbeiterInnen gegen ihre AusbeuterInnen zusammentun, geben sie sich in Fanlager gespalten aufs Dach. Dem Erfolg der Nationalmannschaft sind Klasseninteressen scheinbar untergeordnet: So jubeln die Fans zuhause vor dem Fernseher gemeinsam mit den Bonzen-Sponsoren auf der Tribüne und jene in der Kneipe singen die Nationalhymne mit dem Staatsoberhaupt in der VIP-Loge mit. Sich in seiner Flucht mit jenen verbunden fühlen, welche die Bedingungen mit schaffen, unter denen die Flucht als einzige Lösung erscheint, macht klar: Die Identität als Fußballfan ist klar eine entfremdete.
Es stellt sich die Frage, wie wir als revolutionäre MarxistInnen damit umgehen. Sollten wir etwa alle Deutschland-Fans an der WM als reaktionär abstempeln und unsere Ablehnung gegenüber schwarz-rot-goldenen Fahnen kundtun? Eine WM – und der moderne Fußball insgesamt – können nicht getrennt von der herrschenden Gesellschaftsordnung betrachtet werden: Die Identifikation mit einem – und der Glaube an ein – Nationalteam sind nicht einfach falsche Illusionen, sondern «Ausdruck des wirklichen Elends», um Marx zum Thema der Religion zu zitieren. Wir leben in einem globalen, auf Ausbeutung und Spaltung basierenden System, in dem z.B. via Medien und Werbung mit Patriotismus Geld gemacht und durchs Geldmachen Patriotismus geschürt wird. Es geht folglich nicht darum, die entfremdende WM zu verwerfen, sondern die gesellschaftlichen Widersprüche aufzuheben, die eine solche Entfremdung überhaupt hervorbringen.
«Ein Geldsack schießt keine Tore»
Auch der moderne Fußball selbst entwickelt sich als wachsender Markt widersprüchlich: Aus der gesellschaftlich massiv vorhandenen Leidenschaft für den Sport muss in der Konkurrenz Geld gemacht werden, doch genau dadurch wird wiederum das Ausleben der Leidenschaft ein Stück mehr verunmöglicht. Bezüglich der WM zeigt sich dies z.B. dadurch, dass beim Turnier 2026 – um mehr Spiele verkaufen zu können – von 32 auf 48 Teams aufgestockt wird, was die Qualität und damit den Reiz zwangsläufig mindert. Oder durch die offensichtlich gekaufte Vergabe der nächsten zwei WMs an Russland und Katar, was den korrupten, auf Fußballkultur pfeifenden und Sklavenarbeit fördernden Charakter der FIFA aufzeigt. Aber auch durch die steigenden Stadion-Ticketpreise und das sich anbahnende Ende der WM-Übertragungen im öffentlichen TV, was ärmere Schichten mehr und mehr vom Spektakel verbannt. Die holländische Fußball-Legende Johan Cruyff meinte einst, er habe noch nie einen Geldsack ein Tor schießen sehen. Das stimmt zwar, gleichzeitig aber auch nicht und immer weniger…
|