Die dritte Etappe: Rom
In Rom arbeitete Leonardo für einen weiteren reichen Banditen, dessen Grausamkeit ihn zu einem Schrecken für ganz Italien machte – der berüchtigte Cesare Borgia. Durch eine Mischung von eiserner Entschlossenheit, Dreistigkeit, völliger Skrupellosigkeit und das typische unverschämte Glück, das Spielern und Abenteurern oft eigen ist, war Cesare zum Herrscher Roms geworden. Als Lieblingssohn Papst Alexanders hatte Cesare im Vatikan ein verschwenderisches Leben unter Huren, Säufern und Kurtisanen geführt.
Der Härten des religiösen Lebens müde geworden, bat Cesare die Kardinäle und den Papst um Erlaubnis, das Priesteramt aufzugeben. Dieser gestattete es „zum Wohle seiner Seele“. Unverzüglich ergriff er Schritte, die, wenn sie auch seiner Seele auch nicht sehr gutgetan haben, zu seinem weltlichen Fortkommen allerdings Beträchtliches beitrugen. Er begann seine politische Karriere, indem er seinen Bruder und seinen Schwager ermordete. Dann ergriff er die Macht in Rom. Auch als General war er erfolgreich; sein militärischer Stil war von extremer Schonungslosigkeit gekennzeichnet.
Im Ergebnis seiner Kriegserfolge bemächtigte er sich weitläufiger Gebiete und der Papst ernannte ihn zum Grafen der Romagna. Doch es bedrohten ihn eine Reihe Intrigen, die hauptsächlich von der mächtigen Familie Orsini organisiert wurden. Durch eine Mischung aus verschlagener Listigkeit und äußerster Unbarmherzigkeit hielt er sich an der Macht. Wie Machiavelli aber aufzeigte, stützte sich sein Erfolg letztlich auf das Wohlwollen des Papsttums. Das war seine tödliche Schwäche. Als sein Vater 1503 starb, war es mit seinem Glück zu Ende. Der neue Papst, Pius III., ließ ihn verhaften. Der Amtsantritt des Todfeindes der Borgias schließlich, Julius II., führte zu seinem Untergang.
Als Leonardo nach Rom kam, war all das noch nicht eingetreten. Cesare Borgia war noch einer der größten Herrscher Italiens. Es war nicht leicht, mit ihm zu arbeiten. Seine Gier war unersättlich, für Opposition hatte er keine Geduld. Als Persönlichkeit war er mürrisch, schweigsam und unsympathisch. Und doch erwarb Leonardo irgendwie seine Gunst. In Rom schwang sich seine Kunst auf neue Höhen. Er drang bis zu den äußersten Möglichkeiten der Kunstfertigkeit vor.
Sein Einsatz von Sonnenlicht und Schatten war äußerst originell. Die Effekte waren erstaunlich. In ihm sehen wir einen Meister der Dialektik der Einheit der Gegensätze, wie sie sich in Licht und Schatten ausdrückt. Er verlieh der Florentiner Malerei eine nie dagewesene atmosphärische Tiefe. In diesen bemerkenswerten Bildern scheinen die Gegenstände und Personen aus der Dunkelheit hervorzutreten. Sie scheinen nicht selbstständig zu existieren, sondern nur als Teil des sie umgebenden Ganzen. Diese Ganzheitlichkeit ist eine sehr dialektische Sicht auf die Welt und verleiht seinen Gemälden eine besondere Macht und Emotionalität.
Die Einführung der Perspektive bedeutete eine Revolution für die gegenständliche Malerei. Sie stützte sich auf den wissenschaftlichen Zeitgeist. Mit charakteristischer Gründlichkeit identifizierte Leonardo da Vinci nicht eine, sondern drei verschiedene Arten der Perspektive. Mit dieser Technik verwandelte er die europäische Kunst für immer. Er holte sich seine Modelle aus dem wirklichen Leben – von Marktplätzen und aus Bordellen. Während er an seinem gewaltigen Fresko, dem Abendmahl, arbeitete, streifte er durch die Stadt und skizzierte Menschen, um sie als Modell zu verwenden. Als das Werk 1498 vollendet wurde, erstaunte es den Grafen.
Sein Genie brachte ihm viele Rivalen in der Kunstwelt ein, in der die wütende Konkurrenz um die Mäzene zu Kriegen ganz ähnlich denen führten, die auch das politische Leben der Epoche prägten. Er stieß mit aufstrebenden, jüngeren Künstlern wie Raffael und insbesondere Michelangelo zusammen. Letzterer hasste ihn mit Leidenschaft.
Auch an einer weiteren, viel gefährlicheren Front hatte Leonardo Probleme. Als Sitz des Papsttums war Rom voller Priester. Sein Freidenkertum brachte Leonardo laufend Schwierigkeiten mit seinen Mäzenen und dem Papst ein. In der Person Leonardos treffen Kunst und Wissenschaft aufeinander und verbinden sich, um geniale Werke hervorzubringen. Leonardo war ein zwanghafter Beobachter von Naturphänomenen. Diese Kombination von Kunst und Wissenschaft scheint unserer modernen Besessenheit mit der Arbeitsteilung zu widersprechen, war in der Welt der Renaissance aber ganz normal. Kunst und Wissenschaft gingen häufig Hand in Hand. Sie vereinten sich in der Ingenieurskunst. Leonardo ist das perfekte Beispiel dieser Einheit.
„Die Natur ist meine Geliebte“, soll er gesagt haben. Und das ist das Wesentliche an seiner Kunst – sie stützt sich auf eifrige Beobachtungen und unermüdliche Experimente. Sie ist völlig frei von leichenstarrer Routine und sklavenhaftem Traditionalismus. In den Gestalten Leonardos sehen wir das Ergebnis akribischer Studien der menschlichen Anatomie. Seine Schriften gehen schwanger mit dem Geist des philosophischen Materialismus. Für ihn waren nicht Aristoteles oder die Bibel die wichtigsten Schriften, sondern das große und wunderbare Natur, das für jeden offen steht, der Augen hat, zu sehen.
Einmal soll er sich in eine tiefe Höhle begeben haben, die man den Mund des Teufels nannte, und dort auf Meeresfossilien gestoßen sein, die, wie er erkannte, sich über lange Zeit gebildet haben mussten. So begann er, die biblische Schöpfungsgeschichte zu hinterfragen. Gewiss hatte er sehr fortgeschrittene und subversive Ansichten von der Religion im Allgemeinen und stand dem Materialismus nahe. Er zerlegte Leichen. Das tat er einerseits, um die menschliche Anatomie zu studieren, andererseits, um seine künstlerische Technik zu optimieren.
Die Aufgabe des Künstlers besteht nicht darin, die Realität gedankenlos abzubilden, sondern darin, das Abgebildete mit einer besonderen Bedeutung, mit einem besonderes Gefühl auszustatten: „Der Maler, der sich nur auf seine Übung und seine Augen stützt“, schrieb Leonardo, „ist wie ein Spiegel, der alles abbildet, was man vor ihn stellt, ohne sich dessen Existenz bewusst zu sein.“
Die Mona Lisa
Leonardo entwickelte eine Technik namens sfumato („rauchig“), die einen verschwommenen Effekt erzeugt. Er verstand, dass es im realen Leben keine festen Linien gibt – die Idee, die von Heraklit erstmals ausgesprochen wurde: Alles ist und ist nicht, weil alles fließt. Dahinter steckt die Idee der ständigen Veränderung, wo alles sich permanent verändert und verschiebt, so dass es gleichzeitig ist und nicht ist. Der sfumato-Effekt, der die Ränder verschwimmen lässt, macht das Gesicht paradoxerweise realistischer und stattet es mit einer mysteriösen Aura aus. Um die Wangen und das Kinn sehen wir Schatten (chiaroscuro) – der dramatische Effekt ergibt sich aus der Einheit entgegengesetzter Elemente, aus sanft leuchtendem Licht und pechschwarzer Dunkelheit.
Das beste Beispiel dafür ist sein berühmtestes Werk, die Mona Lisa. Die Mona Lisa hat einen so hohen Wiedererkennungswert, dass sie zur Ikone geworden ist. Für viele Menschen ist die Mona Lisa Leonardo da Vinci. Wir werden sehen, dass diese populäre Auffassung nicht ganz falsch ist. Das Bild, das wir heute sehen, ist aber nicht das Original. Die leuchtenden Farben sind zu einem matschigen Braun verwaschen. Im Original waren der Himmel, die Seen und Flüsse in einem lebhaften Ultramarinblau gehalten. Die Farbe war aus wertvollem afghanischem Lapislazuli hergestellt.
Die dialektische Auffassung von der Einheit von Sein und Nichtsein durchdringt das ganze Bild und lässt sich vor allem am berühmten Lächeln betrachten. Der Widerspruch ist hier offenbar. Der sfumato-Effekt bedeutet, dass es keine klaren Konturen rund um die Lippen oder sonstwo im Gesicht gibt. Das Lächeln wird nicht als etwas Festes, sondern als Bewegtes festgehalten. Das Lächeln entsteht oder vergeht. Hier ist der Übergang zwischen zwei Zuständen abgebildet – vom Kummer zur Freude oder andersherum. Alles menschliche Leben bewegt sich zwischen diesen zwei Polen.
Dieses Bild war für Leonardo so wichtig, dass er sich letztlich weigerte, es dem Auftraggeber zu überreichen. Er behielt es bei sich, bis er starb. Die Mona Lisa, die eigentlich La Gioconda heißt, hat Generationen von Kunstliebhabern mit ihrem Mysterium fasziniert, das sich letztlich ebenfalls auf die meisterhafte Anwendung von Licht und Schatten zurückführen lässt.
Das Bild stand von jeher im Zentrum von Spekulation und Verwunderung. Was ist die Bedeutung der rätselhaften Frau und ihres sonderbaren Lächelns? Auf diesem Bild sind die Dinge nicht, was sie zu sein scheinen. Auf den ersten Blick scheint es Ruhe und Entspannung zu atmen. Es zeigt eine junge Frau in einem Zustand völliger Ruhe vor einer friedlichen Natur. Doch dieser statische Eindruck ist völlig irreführend.
Leonardo hielt die Augen für den „Spiegel der Seele“. Der Blick der Mona Lisa ist eines der auffallendsten Elemente des Bildes. Wie auch das übrige Bild ist er vieldeutig und widersprüchlich. Er ist in höchstem Maße ambivalent. Sieht sie uns an? Oder an uns vorbei, auf etwas, das wir nicht sehen können? Freud sah in diesem Blick einen sexuellen Unterton. Mag sein. Vielleicht enthält der Blick aber auch eine andere Botschaft: Ich weiß, was du nicht weißt und niemals wissen wirst. Es ist ein wissender Blick.
Zunächst scheint das Bild einen Zustand der Ruhe abzubilden, doch bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass es alles andere zeigt als das. Es ist auf allen Ebenen vom Geist des dialektischen Widerspruchs durchtränkt. Das Bild bewegt sich am Rande des Chaos und bezieht daher seine außerordentliche Kraft. Der erste Widerspruch ist das Lächeln selbst. Wenn man das Gesicht in zwei Hälften teilt, wird der Widerspruch im Lächeln sichtbar: Eine Hälfte lächelt, die andere ist ernst.
Dieser Widerspruch drückt die Komplexität der menschlichen Gefühle aus. Widersprüchliche Emotionen bestehen oftmals nebeneinander. Machiavelli drückte die Tragödie seiner Zeit in den folgenden Zeilen aus. Leonardo war mit ihr nur allzu vertraut:
io rido, e rider non passa drento; Io ardo, e l’arsion mia non par di fore.
Ich lache und das Lachen dringt nicht nach außen; Ich brenne und mein Brennen sieht man von außen nicht.
Die Gefühle der Menschen sind selten einfach. Wir können gleichzeitig weinen und lachen. Darin wird die conditio humana in all ihrer Komplexität ausgedrückt. Diese bittersüße Kombination von Gefühlen gibt dem Leben seine besondere Schönheit und erregt in uns eine tiefe emotionale Reaktion.
In diesem Bild sind menschliche Gefühle eng verbunden mit Spannungen und widersprüchlichen Tendenzen in der Welt, die uns umgibt. In uns gibt es Licht und Dunkelheit, Lachen und Tränen, Freude und Traurigkeit. Diese widersprüchlichen Elemente und Emotionen koexistieren und kämpfen in uns, wie es Licht und Schatten in der Welt der Natur tun.
Die Verbindung zwischen Mensch und Natur, zwischen organischem und anorganischem Leben wird von ihrem Haar symbolisiert, dessen Locken an Wirbel im Wasser erinnern. Ihr Kleid ist in keinem spezifischen Renaissance-Stil, sondern zeitlos klassisch gehalten. Seine wogengleichen Bewegungen fügen sich in die Naturszenerie im Hintergrund ein. Damit wird die gleiche Idee von ständiger Veränderung unterstrichen. Selbst ihre Pose suggeriert Veränderung und Bewegung: Sie sitzt auf einem Stuhl, wobei ihr Körper sich in eine andere Richtung dreht als ihr Gesicht.
Die Gelassenheit des Gesichts verbirgt die Existenz unsichtbarer, unterirdischer Kräfte – Leidenshaften, die unter der Oberfläche lauern und die so gefährlich und unkontrollierbar sind wie die Kräfte der ungezähmten Natur. Die Frau auf dem Gemälde zeigt sich vor einer ebenso merkwürdigen und unklaren Landschaft. Ebenso wie ihr Lächeln „schief“ ist, so ist auch die Landschaft „schief“, ja, irgendwie gefährlich. Die Natur reflektiert die Vieldeutigkeit ihres Lächelns.
In alldem steckt eine sehr subversive Aussage. In einem sehr scharfsinnigen Artikel namens „Die Geschichte hinter dem Lächeln“ (Radio Times, 3-9. Mai 2003) schreibt Nicholas Rossiter: „Leonardo zeigt den ständigen Prozess auf, durch den sich die natürliche Welt im Laufe von Jahrtausenden entwickelt, und fordert dabei die biblische Theorie heraus, derzufolge sie von Gott in nur sechs Tagen erschaffen wurde.“
Das Einzelne und das Allgemeine
Das Bild verweist noch auf einen weiteren Widerspruch – zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen. Im Hintergrund steht die Natur, das zeitlose Allgemeine, doch die Gestalt im Vordergrund ist zutiefst persönlich und gehört ins Hier und Jetzt. Vor uns steht ein einfacher, vorübergehender Zeitpunkt, dieser ungreifbare Moment, in dem ein Lächeln beginnt, sich auf den Lippen auszubreiten oder zu verschwinden, ein Moment des Werdens, der der Zeitlosigkeit und Ewigkeit der Natur direkt entgegensteht. Die zwei entgegengesetzten Elemente sind hier in ihrer Einheit sichtbar.
Dier Hintergrund scheint eine untergeordnete Stellung einzunehmen, spielt aber tatsächlich eine sehr wichtige Rolle für das Bild. Im Hintergrund sehen wir sonderbare Felsformationen, wie sie auch einem Ort im Arnotal vorkommen, den man als Höllental bezeichnet. Diese angeschwemmten Sedimente entstanden durch die Erosion der Apenninen. Leonardo war fasziniert von der Geologie und füllte viele Seiten seiner Notizbücher mit Beobachtungen aus dieser Gegend.
Wir sehen auch etwas, das der Burianobrücke ähnelt, die den Arno etwa 40 Kilometer von Florenz entfernt quert. Leonardo kannte diese Brücke gut, denn sie war von wirtschaftlicher und militärischer Bedeutung für die Stadt Arezzo, wo er von Cesare Borgia beschäftigt wurde. In seiner Jugend hatte Leonardo die katastrophalen Effekte einer Arnoflut erlebt. Hier sehen wir den Fluss aus dem Gebirge herab in das Meer strömen.
Unter der oberflächlichen Ruhe der Natur verbergen sich schreckliche und unbeherrschbare Kräfte. Sie sind unsichtbar, aber sie lassen sich intuitiv erspüren. Die Natur ist niemals ruhig, sie verändert sich ständig – und verwandelt sich in ihr Gegenteil. Der Berg im Hintergrund ist zu hoch – er droht, zusammenzubrechen. Der Fluss ist zu voll – er droht, überzufließen. Die zwei Seen auf beiden Seiten des Gesichts sind mit Absicht auf unmögliche Höhen gestellt; der eine scheint in den anderen hineinzufließen.
Das ist der endlose, ruhelose Kreislauf von Geburt und Tod – der Aufstieg und Fall der Berge, die Geburt und der Tod der Flüsse. Die Veränderung der Natur war tief in Leonardos Denken eingeprägt.
Die Gestalt im Vordergrund geht aus dem Hintergrund der Natur hervor und ist mit ihr eng verbunden. Das vorherrschende Element im Bild ist das Wasser, sowohl in den zwei Seen als auch dem Fluss (wohl der Arno). Das ist von philosophischer Bedeutung. Welches Element ist veränderlicher und damit weniger greifbar als das bewegte Wasser? Heraklit sagte: Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht. Diese philosophische Idee durchdringt das Gemälde.
Leben und Tod
In diesem Bild ist das Allgemeine mit dem Einzelnen verbunden und von ihm ununterscheidbar. Obwohl die Mona Lisa in höchstem Ausmaß individuell ist, ist sie auch eine Verallgemeinerung – die ewige Weiblichkeit, über Raum und Zeit stehend, die aus der Natur hervorgeht und deren ewiges Prinzip der Fruchtbarkeit symbolisiert. Hier wird ein anderes Geheimnis der Mona Lisa deutlich: Offensichtlich ist sie schwanger. Das ergibt sich offensichtlich aus der Position ihrer Hand, die sanft auf ihrem Bauch ruht.
Die Dame auf dem Portrait war wohl Lisa del Giocondo, deren Tochter 1499 starb, vier Jahre, bevor Leonardo begann, an dem Bild zu arbeiten. Daher trägt sie einen schwarzen Schleier. Es geht also nicht nur um neues Leben, sondern auch um den Tod. Es gibt kein Leben ohne Tod.
Als er an der Mona Lisa arbeitete, zerlegte Leonardo nebenher die Leichen toter Frauen und untersuchte Föten – eine absolut illegale Tätigkeit – um den weiblichen Körper und das Mysterium der Geburt besser zu verstehen. Seine Zeichnungen waren so akkurat, dass sie später von Anatomiestudenten genutzt wurden.
Das Bild vermittelt uns ein Gefühl von verdeckter (oder unterdrückter) Leidenschaft – Leidenschaft von der Art, die man gemeinhin für gefährlich hält, weil sie droht die bestehende Ordnung zu zerstören, und weil sie unkontrollierbar ist. Es erinnert uns daran, dass unter der Oberflächenerscheinung der Ruhe schreckliche Kräfte lauern, die drohen, uns zu vernichten. Das gilt für die unbelebte Natur mit ihren Überflutungen, Lawinen, Vulkanausbrüchen, Erdbeben und Stürmen ebenso wie für den Menschen mit seinen unbeherrschbaren Leidenschaften wie Zorn, Angst, Wut, Eifersucht und allem, was mit dem Sexualtrieb zu tun hat. All das lauert unablässig unter der Oberfläche.
In seiner Studie über Leonardo spekuliert Freud, dass Bilder wie die Mona Lisa ein unbewusstes sexuelles Begehren ausdrücken, die mit Leonardos Kindheitserinnerungen zu tun haben. Er verlor seine Mutter, obwohl sie ihn während seiner ersten drei Jahre noch säugte. Er hatte also wohl einige Erinnerungen von Mutterliebe. Später hatte er eine Stiefmutter, die ihn ebenfalls mit großer Sanftmut behandelte.
Steht diese mütterliche Sanftmut in einer Beziehung zu unbewussten Sexualtrieben? Möglich. Es muss allerdings gesagt werden, dass Freuds Annahmen in diesem Aufsatz oftmals erzwungen und willkürlich erscheinen. Das ist jedenfalls nicht alles, was hier gesagt werden muss. Wenn in Leonardos Werk nur eine persönliche Mitteilung, seinen eigenen psychologischen Zustand betreffend, enthalten wäre, hätte es niemals eine so weitreichende Wirkung gehabt.
Diese Bilder vermitteln uns ein wunderbares Gefühl für den Lauf der Zeit und gleichzeitig ein Gefühl für das Ewige. Es gibt hier auch die Idee der sexuellen Fortpflanzung als des regenerativen Prinzips der Natur. Es könnte jedoch noch eine weitere Botschaft in der Art und Weise geben, wie Leonardo Giocondas Haare darstellt. Im Italien des 16. Jahrhunderts galt es für eine Frau als unbescheiden, ihr Haar so über die Schultern drapiert zu tragen, wie wir es hier sehen: lose wallendes Haar galt als Synonym für lockere Sitten. Es scheint, dass Lisa del Giocondo und ihr Ehemann das Gemälde nicht akzeptierten, und dies könnte ein Grund für ihre Unzufriedenheit sein.
Hier ist nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint. Auch das, was als Inbegriff der Weiblichkeit erscheint, entpuppt sich als etwas anderes. Die Einheit der Gegensätze wird gleichermaßen durch die Tatsache vermittelt, dass die Mona Lisa - wie viele der anderen Frauen von Leonardo - wirklich androgyn ist. Das heißt, sie enthält Elemente von Männern und Frauen. Dies ist an der ausgeprägten Kieferlinie zu erkennen - ein männliches Merkmal. Das Ideal der Schönheit ist halb männlich, halb weiblich - eine Vorstellung, die auch in der klassischen griechischen Kunst bekannt ist.
Es wurde oft bemerkt, dass die Gesichter von Leonardos Frauen einen seltsam androgynen Charakter haben. Dafür gibt es eine Erklärung. Es wurde festgestellt, dass die Proportionen dieser Gesichter genau denen von Leonardo entsprechen, die er in seinem Selbstporträt gesehen hat. Hier haben wir die Einheit der Gegensätze bis zum Äußersten getragen: Hier haben wir die Einheit von Mann und Frau, völlig vermischt und undifferenziert. Mann und Frau sind eins.
Das Gesicht der Mona Lisa, anscheinend ein einzigartiges und unwiederholbares Porträt eines Individuums, ist in der Tat nicht einzigartig. Das gleiche Gesicht und der gleiche mysteriöse Ausdruck sind auf dem wundervollen Gemälde der Jungfrau mit der heiligen Anna zu sehen. Es ist nicht einmal das Gesicht einer Frau, obwohl es das zu sein scheint. Misst und vergleicht man die Gesichter, kann man schließen, dass sie alle im Grunde dasselbe Gesicht haben: Es ist das Gesicht von Leonardo selbst.
Die letzten Jahre: in Frankreich
Man sagt, dass ein Prophet in seiner Heimat keine Ehre hat. Nun, gealtert und unter der ständigen Bedrohung durch den Zorn des Papstes, beschloss er schließlich, das priesterverseuchte Italien ganz zu verlassen. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in Frankreich, wo er mit vollen Ehren am Hof des Königs empfangen wurde. Wir haben ein wunderbares Selbstporträt von Leonardo als altem Mann, der zu dieser Zeit gemalt wurde. Er hat Italien nie wieder gesehen.
Das Scheitern Italiens, die nationale Einheit zu erreichen, bedeutete, dass das Potenzial des Landes nicht realisiert werden konnte. Italien wurde zu einer wirtschaftlichen und kulturellen Pampa. Der Schwerpunkt der Weltgeschichte verlagerte sich von Italien weg in Richtung der neuen Nationalstaaten Frankreich und England. Ihr Stern stieg auf, während Italien eine grausame Sonnenfinsternis erlebte, die Jahrhunderte andauern sollte, bis das Land schließlich mit revolutionären Mitteln vereint wurde.
Vielleicht sehen wir sogar die Tatsache, dass Leonardo seine letzten Jahre in Frankreich verbracht hat, als Ausdruck dieser Tatsache oder zumindest als Vorwegnahme davon. In seiner Heimat Italien vernachlässigt, wo sein Stern durch den Aufstieg von Michelangelo und Rafael in den Schatten gestellt wurde, wurde der alte Mann in Frankreich, wo er als der größte Künstler seiner Zeit verehrt wurde, wie ein Held begrüßt. Der französische König war einer jener Renaissance-Monarchen, die sich, wenn sie nicht in Kriege und Jagd verwickelt waren, lebhaft für Ideen und Kunst interessierten. Franz I. strebte danach, seinem Hof die Atmosphäre eines italienischen Renaissance-Hofes zu verleihen, indem er Künstler und Schriftsteller ins Land holte - darunter nicht nur Leonardo, sondern auch Cellini.
Er ließ Leonardo in einer Palastresidenz in der Nähe der königlichen Gemächer einquartieren, von wo aus er leicht zu erreichen war. Es scheint, dass Franz den alten Mann verehrte und ihn in lange Gespräche verwickelte, in denen Leonardo ihn mit der Breite seines Wissens in Erstaunen versetzte. Es ist jedoch klar, dass Franz Leonardo mehr als großen Philosophen denn als großen Künstler ansah (man muss bedenken, dass Philosophie zu dieser Zeit ein Synonym für Wissenschaft war). Das Gemälde von Lisa del Giocondo hatte eindeutig eine tiefgreifende Bedeutung für Leonardo, so dass es nie an diejenigen ausgeliefert wurde, die es in Auftrag gegeben hatten. Er trug es die letzten 16 Jahre seines Lebens mit sich und nahm es mit in sein letztes französisches Exil. Offensichtlich war seine Bedeutung für ihn viel größer als sein künstlerischer Wert. Die Mona Lisa landete daher in Frankreich, wo Leonardo sie an König Franz I. verkaufte, der sie in ein Badezimmer hängte! Dies war wahrscheinlich die Ursache für die unzähligen kleinen Risse im Gemälde. Andere Werke von Leonardo litten ebenfalls unter Vernachlässigung oder Misshandlung: Die ignoranten Mailänder Mönche schnitten eine Tür durch seinen Fries des Letzten Abendmahls.
Leonardo hatte wie Aristoteles und Hegel einen wirklich enzyklopädischen Verstand. Leonardo - der Mann der Renaissance - war Wissenschaftler und Philosoph. Es scheint, dass er am Ende seines Lebens versucht hat, seine zahlreichen Notizbücher zu verschiedenen Fragen zusammenzustellen. Wäre es ihm gelungen, hätte er lange vor Diderot und D'Alembert im Frankreich des 18. Jahrhunderts eine philosophische Enzyklopädie verfasst. Dies war die Seite von Leonardo, die den Wohltäter seines Alters am meisten beeindruckte. Nach seinem Tod im Alter von 67 Jahren sagte der französische König, er sei „ein sehr großer Philosoph“. Am Ende sah er ihn eher als Philosophen als als Künstler. In Wirklichkeit war er beides. Dieser typischste Renaissance-Mann verband in seiner Person die Rollen eines Künstlers, Bildhauers, Wissenschaftlers, Philologen, Diplomaten und Erfinders.
Der Ruf von Leonardo als Künstler beruht auf nur wenigen Gemälden. Die Anzahl der künstlerischen Arbeiten von Leonardo war begrenzt, da er ein Perfektionist war. Er sagte: „Ich habe Gott und die Menschheit beleidigt, weil meine Arbeit nicht die Qualität erreicht hat, die sie haben sollte.“ Deshalb begann er oft eine Arbeit und beendete sie nie. Alle Bitten und Drohungen seiner verärgerten Auftraggeber ließen ihn gleichgültig. Der einzige Meister, den er erkannte, war die Kunst selbst. Es ist, als ob für ihn der Schöpfungsakt selbst der Zweck war. Das Endergebnis war relativ unwichtig. Das hat er ganz klar gemeint, als er schrieb: „Kunst ist nie zu Ende, nur aufgegeben.“
Mit Michelangelo erreicht die Kunst der italienischen Renaissance eine neue Ebene höchster Perfektion. Michelangelo war jedoch von religiöser Inspiration angetrieben, während Leonardo, der wahre Mann der Renaissance, überhaupt nicht religiös war. Letztendlich tat Michelangelo, was seine Meister in der Kirche wollten, während Leonardo ein freier und unabhängiger Geist war - ein natürlicher Rebell.
Bei Leonardo sehen wir jedoch die perfekte Verbindung von Wissenschaft, Technik, Philosophie und Kunst. Um die Natur von Licht und Schatten zu verstehen, studierte er gründlich die Optik und übertrug diese wissenschaftlichen Erkenntnisse auf seine Malerei. Er tat dasselbe mit der Anatomie und studierte sogar menschliche Embryonen, um einen besseren Einblick in den weiblichen Körper zu erhalten, bevor er die schwangere Frau in der Mona Lisa darstellte.
Es hat wahrscheinlich nie einen größeren Künstler als Leonardo in der Geschichte der Welt gegeben. Es ist nicht nur eine Frage seiner Technik, die so weit fortgeschritten ist, dass die Experten bis heute nicht wissen, wie er bestimmte Effekte erzielt oder wie er seine Farben hergestellt hat. Diese Kunst ist nicht nur ästhetisch schön oder technisch perfekt. Sie enthält auch eine tiefgreifende philosophische Idee.
Sein ganzes Leben lang war Leonardo von einer unersättlichen Neugier auf die Welt getrieben. Er war neugierig auf alle Dinge unter der Sonne und diese Neugier führte ihn in viele verschiedene Richtungen. Aus diesem Grund blieben so viele seiner Projekte unvollendet. Sein ruheloser, forschender Geist - der Geist seiner Zeit - erlaubte ihm nicht, einen Moment still zu bleiben, und mehrere Leben wären nicht ausreichend gewesen, um alle Aufgaben zu erfüllen, die er sich selbst gestellt hatte.
Leonardo war vor allem ein begeisterter Beobachter der Natur. Die tote Hand der Religion hatte die materielle Realität als das Werk des Teufels verurteilt und Männer und Frauen gelehrt, sich ihres Körpers zu schämen und ihren Blick in den Himmel oder nach innen zum Heil ihrer ewigen Seele zu richten. Dies war der Gegensatz zur neuen wissenschaftlichen Sichtweise. Die Weltanschauung von Leonardo war im Wesentlichen materialistisch und wissenschaftlich. Er sagte: „Nur die Beobachtung ist der Schlüssel zum Verständnis“ und „All unser Wissen hat seinen Ursprung in unseren Wahrnehmungen.“
Er schrieb auch: „Obwohl die Natur mit der Vernunft beginnt und in der Erfahrung endet, ist es notwendig, das Gegenteil zu tun, das heißt, mit der Erfahrung zu beginnen und daraus den Grund zu erforschen.“ Diese Sätze enthalten das Wesen aller modernen Wissenschaft. Dieser unermüdliche Forscher hatte keine Angst, die akzeptierten Ansichten der Kirche in Frage zu stellen und gefährliche Wege zu beschreiten.
Trotz seines Beharrens auf der Beobachtung war Leonardo kein vulgärer Empiriker. Er schrieb auch: „Wer sich ohne Wissen in die Praxis verliebt, ist wie der Seemann, der ohne Ruder oder Kompass in ein Schiff steigt und nie sicher sein kann, ob er fährt. Die Praxis muss immer auf einer soliden Theorie beruhen, und dafür ist die Perspektive der Leitfaden und das Tor; und ohne sie kann man beim Zeichnen nichts gut machen.“
Er sah, dass Ordnung aus dem Chaos entsteht und es ist diese tiefe und dialektische Idee, die das Herzstück der Mona Lisa bildet. Das Gegenteil ist der Fall: Unter der scheinbar ruhigen und festgefahrenen Realität gibt es Kräfte, die jederzeit durchbrechen können. Diese Idee drückt perfekt die turbulenten Zeiten des Italiens aus, in das er hineingeboren worden war, und die Prüfungen und Schwierigkeiten, die er erduldete. Die tiefen Linien auf seinem Selbstporträt als alter Mann erzählen die ganze Geschichte. Das ist ein Bild des Leidens, das durch die stille Resignation des hohen Alters überwunden wurde. Die Widersprüche haben endlich eine Lösung gefunden.
Am Ende sagte er, dass genau wie ein Tag, den man gut verbringt, zu einer zufriedenen Ruhe führt, ein gutes Leben auch einen zufriedenen Tod bringt. Wir werden Leonardo das letzte Wort überlassen: „Ich liebe diejenigen, die in Schwierigkeiten lächeln können, die aus Not Kraft schöpfen und durch Nachdenken mutig werden können. Es ist das Geschäft der kleinen Köpfe, zu schrumpfen, aber diejenigen, deren Herz fest ist und deren Gewissen ihr Verhalten gutheißt, werden ihre Prinzipien bis zum Tod verfolgen.“
(erstmals erschienen in London, 2012)
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