Kategorie: Kultur

Dalai Lama auf Deutschland-Tour: Versuch einer marxistischen Annäherung an den Buddhismus

Jeder Sterbliche hat seine bevorzugten Reiseziele. Ich zum Beispiel fahre gerne nach Katalonien. Das geistliche und weltliche Oberhaupt einer größeren Gruppe alt-buddhistisch orientierter Exil-Tibeter, „Seine Heiligkeit der XIV. Dalai Lama“, kommt besonders gerne nach Deutschland. Ende Juli 2007 war er mal wieder hier. Die Gemeinde der Anhänger des tibetischen Buddhismus wächst und hat sich seit den 1990er-Jahren zur dominierenden buddhistischen Strömung in Deutschland entwickelt. Größte Autorität innerhalb der religiösen Organisation in Deutschland genießt der, gerade auch in politischer Hinsicht, unter vielen Buddhisten anderer Traditionslinien umstrittene Lama Ole Nydahl, der schon seit längerem für gutes Geld seine „Weisheiten“ vor beeindruckenden Menschenmengen verkündigt. (1)


Außerdem hat der oberste spirituelle Lehrer des tibetischen Buddhismus (Lama, dt.: Lehrer), Dalai Lama, besonders im konservativ-liberalen Lager, viele Unterstützer für sein Ziel der Loslösung Tibets von China. Anfang Mai 2007 war er bereits hier und bekam aus der Hand seines Duzfreundes, des rechten Scharfmachers Roland Koch (CDU), den Medienpreis „Osgar“ überreicht, welcher vom populistischen Springer-Verlag verliehen wird.

Großes Ansehen in Deutschland

Umfragen zeigen, dass der Weise aus dem Morgenland auch hierzulande äußerst beliebt ist. An Glaubwürdigkeit übertrifft er laut seriösen Umfragen sogar „unseren“ (BILD) Papst. Gemäß einer Umfrage nennen aktuell (Juli 2007) 44% der Befragten den Dalai Lama als ein persönliches Vorbild, nur 42% hingegen sagen das gleiche von „unserem“ Papst. Jugendliche UmfrageteilnehmerInnen geben zu rund 50% an, der buddhistische Oberlehrer könnte ihnen sinnvolle Ratschläge für das eigene Leben mit auf den Weg geben.

Auf dem letzten evangelischen Kirchentag bekam die zentrale Veranstaltung mit dem Dalai Lama den bei Weitem meisten Zuspruch von allen Veranstaltungen des religiösen Mega-Events überhaupt. Es gibt offensichtlich eine Attraktivität des Buddhismus bis tief in die so genannten christlichen Kirchen hinein. Und nicht nur dort verhält es sich so: Schaut man sich in so genannten „alternativen“ Szenen ein wenig um, dann kann man, z.B. auf dem alljährlichen, hessischen Burg-Herzberg-Festival, unweit des Standes der „Linksjugend. ´solid“ auch Buddha-Devotionalien erwerben. Oder man kann auf dem „alternativen“ Mainzer „Open-Ohr-Festival“ zuerst einen FUNKEN und dann, schräg gegenüber, ein paar mehr oder weniger genießbare „Energiebällchen“ kaufen oder auch eine Leine mit „tibetischen Gebetsfahnen“ zu seinem Eigentum machen (hoffentlich kauft sich mein Nachbar nicht so eine tibetische Wind-Gebetsglocke und hängt sich das ständig bimmelnde Un-Ding in seinen Spießer-Garten! Grausam!). Schon mancher Teilnehmer/manche Teilnehmerin an den „alternativen“ Jugend-Revolten der 1960’er und 1970’er Jahre hielt neben Marx und Engels auch die ein oder andere fern- bzw. mittelöstliche Lehre in Ehren.

Für viele Menschen ist „der Buddhismus“ in den letzten Jahren zu einer weltanschaulichen Alternative zum trostlosen Christentum der Kirchen geworden. Offensichtlich sogar für viele Besucher evangelischer Kirchentage und für ebenso viele Leute, die für sich in Anspruch nehmen irgendwie „alternativ“ zu leben und zu denken. Evangelische Kirchen bieten seit Jahren Meditationskurse etc. an (was durchaus im Widerspruch zur betonten Intellektualität insbesondere des Luthertums steht), und das katholische Konkurrenz-Unternehmen bemüht sich seit Jahren darum, insbesondere den Zen-Buddhismus in die eigene spirituelle Kultur zu integrieren. Mit solchen „Integrationen“ des „Feindlichen“ in das Eigene hat insbesondere der Katholizismus einschlägige Erfahrungen im Laufe der Geschichte gesammelt. Auch die Protestanten haben sich seit Jahren bemüht, dem wenigstens einmal in ihrer Geschichte gleich zu ziehen. Beides ohne Erfolg.

Die Menschen haben gute Gründe dafür, dem Buddhismus gegenüber dem formellen Christentum der Kirchen mehr Kredit (dt.: Glaub-Würdigkeit) zu geben. Eine Religion ohne unfassbaren, übermächtigen Gott, ohne Buße und Schuld, ohne Erbsünde, ohne Himmel und Hölle, dafür durchaus im Einklang mit der Natur und – jedenfalls sind solche Interpretationen der Lehre ohne Umstände machbar – mit den modernen Wissenschaften. Sogar Ted Grant und Alan Woods billigen der buddhistischen Religion ein vergleichsweise hohes Vernunftpotential zu (Aufstand der Vernunft. Marxistische Philosophie und moderne Wissenschaft, S. 81f.). Wir werden noch sehen, dass diese Randbemerkung inmitten eines langes, gehaltvollen Buches nichts anders ist als ein flüchtiger, doch aufrichtig gemeinter Gruß an einen auf der anderen Straßenseite vorbeieilenden Freund, den zu umarmen angesichts vieler anderer drängender Geschäfte (Themen) gerade keine Zeit bleibt.

Die selbsternannten „christlichen“ Kirchen in Deutschland dürften zu Recht mehr Angst vor dem Buddhismus, als vor dem Islam oder irgendeinem anderen religiösen Kult haben. Wobei keineswegs damit gerechnet werden muss, dass buddhistische Organisationen demnächst Massenzulauf erhalten würden (2), sondern dass die so genannten christlichen Kirchen eben nicht mehr automatisch damit rechnen können, im Zuge der wachsenden Enttäuschung und Verarmung vieler Deutscher als moralische und seelische Anlaufstelle für Menschen zu dienen, die sich innerlich abwenden von der Gesellschaft um sie herum. Denn „die Tendenz in Krisen- und Kriegszeiten (dem Buddhismus zuzuneigen), ist steigend“, wie die „Deutsche Buddhistische Union“ in einer Presseerklärung aus dem Jahr 2003 zu dem Thema „100 Jahre Buddhismus in Deutschland“ feststellte. Das Kerngeschäft der so genannten christlichen Kirchen läuft nicht mehr so gut wie es in früheren Krisenzeiten funktionierte, da die Menschen um andere spirituelle Angebote wissen.

In einer Welt voll von schreiendem Leid, in einem Land mit Millionen arbeitlosen und Millionen arbeitender Menschen, verdammt zu einem Leben im Elend, in einer Welt der offen und öffentlich herrschenden Lüge, des Egoismus, des Massen-Betrugs und der drohenden Klimakatastrophe – da erscheint manchem die selbstlose Lehre des Buddha von der Achtung und der Würde eines jeden Wesens im Universum eine sympathische – um in buddhistischer Begrifflichkeit zu sprechen – „Zuflucht“ zu sein. (3) Zweifellos hat der „Leitende Priester der Soto-Zen-Schule“, Ohmichi Kosen Zenji, nicht nur Japan betreffend bis zu einem gewissen Grad (4) Recht, wenn er auf der deutschsprachigen Missionsseite seiner buddhistischen Schule feststellt: „Angesichts der weltweiten Konflikte scheint das Bewusstwein vom unersetzlichen Wert des Lebens mehr und mehr verloren zu gehen. Stattdessen haben Angst, Härte und Kälte von vielen Menschen Besitz genommen. Schaut man sich die Situation in Japan an, so sind dort sogar die traditionellen Horte des Friedens wie Familie und Schule in Gefahr, weil Geld und materieller Besitz inzwischen alleinigen Vorrang haben. Mitgefühl gegenüber anderen Menschen und Rücksichtnahme auf die Natur zählen immer weniger.“

Natürlich wird man hellhörig wenn jemand in diesen sittenwidrigen Zeiten so spricht. Mancher, auf der ernsthaften Suche nach einem Ausweg aus unserer so-dahin-degenerierenden Gesellschaft, fragt sich völlig zu Recht, ob von weit her aus dem „Osten“ nicht eine Lösung für unsere Probleme hier im „Westen“ kommen könnte. Dass Herr Ohmichi für eine Gesellschaft des fernen Ostens die gleichen Sitten- und Verfalls-Probleme anspricht, wird der Suchende dabei hoffentlich registriert haben. Erste Erkenntnis: Offensichtlich hilft auch eine zutiefst buddhistisch geprägte Kultur nicht automatisch dabei, den Kapitalismus unserer Tage humaner und lebenswerter zu gestalten. Dennoch bleibt die berechtigte Frage danach, was ´dran ist an der Lehre des historischen Buddha und was wir heutigen Menschen vom diesem gut 2500 Jahre alten Wissen (und, ich füge hinzu: vom Hintergrund der Entstehung, des „Erscheinens“/ des „Erwachens“/ des Aufscheinens dieses Wissens) eventuell tatsächlich lernen könnten und möglicherweise sogar lernen sollten. Im Folgenden soll versucht werden, aus marxistischer Sicht eine Antwort auf diese in jedem Fall interessanten, eventuell sogar „drängenden“ Fragen zu geben.

Schonungslose Kritiker ihrer Zeit: Jesus und Buddha

Wie die Erleichterung von einer eigenen Last klingt es einem im Ohr, wenn man das erste Mal die Geschichte von jenem hochwohlgeborenen Kriegersohn Siddatta Gautma (Gotama) hört, der vor rund 2500 Jahren allem Schmuck und der ihm so gut wie vorherbestimmten Präsidentenwürde als Haupt der Adelsrepublik Sakya entsagt hat, um sein Leben ganz der Suche nach einem „Weg“ zu widmen, der ALLEN Menschen einen Ausweg aus dem Alltag des Leidens eröffnet. Nach schwerem Ringen mit sich selbst und seiner Familie „war Siddhattha (so der Vorname des späteren Buddha, KF) nun auf dem Wege. Mit frisch geschorenem Kopf, die nach Art der Asketen aus Fetzen gestückelte, mit Kasaya-Rinde gelb-braun gefärbte Robe umgeschlagen und das lose Endteil über der linken Schulter gerafft, wanderte der junge Mann auf staubigen Straßen barfuss gen Südosten, um sich der religiösen Freiheitsbewegung anzuschließen, die einige Jahrzehente zuvor eingesetzt hatte und mächtig angeschwollen war.“ (Hans Wolfgang Schuhmann 1976: Buddhismus. Stifter, Schulen und Systeme, S. 17) Befreiung wovon und mit welchem Ziel/Zielen? Das wird noch zu klären sein.

Mit dem historischen Jesus verbindet den historischen Buddha vieles. So unter anderem die Tatsache, dass beide Kerle ein Denken und eine Lebenspraxis entwickelten, die dem schon seit der „jungsteinzeitlichen Revolution“ in Mode gekommenen Ansammeln von Besitz, Macht und Prestige einiger weniger Menschen auf Kosten der meisten anderen Menschen radikal entgegenstanden. (5) Für beide Religionsstifter war mindestens Bescheidenheit, wenn nicht sogar Armut der Schlüssel zu „rechten Erkenntnis“, ignorant gelebter Reichtum und Geltungsdrang hingegen waren für sie Tore ins private und auch ins gesellschaftliche Verderben. Beide Religionsstifter versammelten jeweils eine größere Menschenmenge aus dem einfachen Volk um sich, mit der sie durch das Land zogen, um die neue Sicht der Dinge zu verkünden und anderen Menschen einen Weg aus dem Unheil ihrer Zeit zu zeigen. In beiden, patriarchial geordneten Gesellschaftswesen war es an sich bemerkenswert, dass Frauen zu Anhängern der jeweiligen Lehre wurden. Obwohl Jesus nicht ausdrücklich vorhatte, die Gesellschaft seiner Zeit aus den Angeln zu heben, erkannten die Herrschenden durchaus das faktisch revolutionäre Potenzial seiner Lehre und Massenbewegung und ließen ihn folgerichtig durch die Hand der römischen Besatzungsmacht hinrichten.

So wie der historische Jesus die Pseudoreligiosität der jüdischen Eliten seiner Zeit praktisch und in Worten zu beweisen angetreten war, so trat der historische Buddha praktisch und in seiner Lehre den altindischen, vedisch legitimierten (s.u.) Autoritäten entgegen. Während Jesus in bester jüdisch-prophetischer Tradition zu einem Kämpfer gegen das Unrecht einer immer intoleranteren Machtelite wurde, bereit sein Leben für die Wahrheit und Gerechtigkeit zu opfern, war es Buddha möglich, seine Kritik (die ihm selber als Kritik allerdings nur in intellektueller, nicht in gesellschaftlich-politischer Hinsicht bewusst war) im vielgestaltigen Kreis der vedischen Kulte relativ repressionsfrei und von daher vergleichsweise „undramatisch“ zu entfalten. Die räumliche und philosophische Ausgedehntheit der altindischen Welt eröffnete weitaus größere Räume selbst für radikale Neuinterpretationen der eigenen kulturellen Überlieferung, als das von einer monopolistischen Elite theokratisch regierte und räumlich eng begrenzte Israel zur Zeit des Königs Herodes. Allerdings wurden der Überlieferung nach auch gegen den historischen Buddha Attentate verübt, die jedoch fehlschlugen.

Das historische Umfeld der Entfaltung von Erlösungslehren: Sesshafte Gesellschaften

Die altindische Gesellschaft (6) war eine Klassengesellschaft und entwickelte eine schriftlich fixierte Hochkultur. Wer am Klassencharakter dieser Kultur zweifelt, lese es beim Buddha selber nach. Dieser sprach zu seinen Anhängern immer auch über sehr konkrete Angelegenheiten des alltäglichen Lebens, u.a. über seine Jugend: „Ich lebte verwöhnt, äußerst verwöhnt, sehr verwöhnt. Beim Haus meines Vaters ließ man mir Lotosteiche anlegen: An einem Ort blühten blaue, an einem Ort weiße, an einem rote Lotusblumen; und dies allein für mich. Ich gebrauchte keine anderen Sachen als solche aus (der altindischen „Luxusmeile“, KF) Benares. Aus Benares kam das Tuch meiner Kopfbedeckung, meiner Jacke, meiner Unterwäsche, meines Überwurfs. Bei Tag und Nacht hielt ein Diener einen weißen Schirm über mich, damit mich nicht Kälte, Hitze, Staub, Grashalme oder Tau belästigten.“ (Devadutavagga, A III, 39). Paris Hilton grüßt von ferne. Als mächtigste Familie der alten, sich jedoch bereits im Niedergang befindlichen Kriegerrepublik Sakya, musste es sich das Oberhaupt des Sakya-Klans, Siddattas Vater, der vom Kriegeradel gewählte Staatspräsident Suddhodana, schon aus Prestigegründen leisten, die Dienerinnen und Diener seines Hauses besser zu behandeln als es in den seiner Familie nach geordneten Adelshäuser üblich war. So sah sie aus, die altindische Klassengesellschaft: „Während man in den Häusern anderer den Dienern und Knechten ein Essen aus Reisbruch und dann saure Reissuppe reicht, wurde im Haus meines Vaters den Knechten und Dienern ein Essen aus gutem Kochreis und Fleisch gereicht.“ (ebenda)

Wie sahen die konkreten Klassenverhältnisse aus? Typisch für frühe Hochkulturen war unter anderem das Bestreben, erste rationale Erklärungen für die Naturprozesse zu finden, denen die menschliche Gesellschaft ausgesetzt war (und bleibt) und welche diese um ihres Überlebens und Fortschritts Willens „in den Griff“ bekommen musste. Schließlich bestand die größte Kulturleistung dieser Zivilisationen darin, die Natur dem Menschen Untertan (wie es die Bibel ausdrückt, Genesis 1, 28-29), bzw., um den gleichen Sachverhalt positiv auszudrucken, die Menschen unabhängiger von den unmittelbaren Einflüssen der natürlichen Umwelt zu machen. Beginnende Naturbeherrschung war die Vorraussetzung für die Überwindung der altsteinzeitlichen (urkommunistischen) Nomadenkulturen, die eben deshalb nicht sesshaft werden konnten, weil sie nicht danach strebten die Natur zu beherrschen. Daher wurden die Menschen bis vor etwa 11.000 Jahren durch die Natur beherrscht und mussten dieser buchstäblich (Jahreszeiten, begrenzte Ressourcen, Nahrungsbeschaffungs-Konkurrenz durch Tiere) als Nomaden hinterherlaufen. Dieses änderte sich in der Zeit nach dem Ende der letzten Eiszeit gegen 10.000 vor Beginn unserer Zeitrechnung. Das wärmere Weltklima erlaubte nun systematischen Ackerbau und Viehzucht. Es entstanden zuerst im vorderen Orient („fruchtbarer Halbmond“), dann in Ägypten, entlang des Oberlaufs des Indusflusses, sowie am indischen Südhang des Himalaya-Gebirges und wahrscheinlich auch in Südostchina die ersten, auf (mal mehr, mal weniger relativer) Sesshaftigkeit basierenden Hochkulturen.

Um die Produktionsmethoden und das Zusammenleben auf enger werdendem Raum zu rationalisieren, wurden im Laufe einiger Jahrtausende Natur- und Gesellschaftsbeob-achtungen, sowie theoretische Deutungen dieser Beobachtungen entwickelt. Diese Erkenntnisse und Schlussfolgerungen wurden teilweise schriftlich niedergelegt. Aus den Kreisen der Schreibkundigen und Gelehrten jener Zeit entstand eine Schicht elitärer „Weiser“, die darum bemüht war, durch Kulte und Anwendung exklusiven Wissens die „Schicksalsmächte“ den gefährdeten menschlichen Gesellschaften gegenüber gnädig zu stimmen. Aus der Erkenntnisgewinnung heraus entwickelten sich religiöse Ideologien. Durch sie schlossen sich die Priester als eigenständige, (co-)herrschende Gruppe vom Rest des (nicht eingeweihten) Volkes ab.

Parallel hierzu kam es im Zuge von (relativer) Sesshaftigkeit, Steigerung der Produktivität und den Problemen der Verwaltung der erwirtschafteten Vorräte zur Herausbildung einer in materieller Hinsicht herrschenden Klasse. Diese war in allen frühen Hochkulturen eng mit der Priesterkaste (s.o.) verwoben, aber eben doch nicht immer deckungsgleich. Oft wurde der jeweilige König (Pharao, mesopotamische Stadtgottheiten…) als Gottheit verehrt. Die theoretisch-religiösen Naturdeutungen wurden nach und nach auf das gesellschaftliche Leben übertragen. Der sich entwickelnde Klassenwiderspruch zwischen jenen, die über die Verwendung, Aufbewahrung, Planung, Verteidigung und vor allem die Zuteilung der überwiegenden Mehrheit der produzierten Nahrungsmittel verfügten einerseits und den einfachen Produzenten und Händlern andererseits, verlangte nach einem „ideologischen Kitt“, der die auseinanderdriftende Klassengesellschaft nach innen (und außen) als Gemeinschaft zusammenhielt.

Die Verehrung des Herrschers als Gottheit oder als Auserwählter aus einer zur Herrschaft bestimmten, metaphysisch hergeleiteten Menschen-Gruppe bzw. „Kaste“ war angesichts dieser Sachlage schon von frühester Zeit an eine nahe liegende Möglichkeit der Verbindung von „religiöser Weisheit“ einerseits und der Absicherung „weltlicher Herrschaft“ andererseits. Genau genommen wird eine Weltanschauung erst dadurch zu einem beständigen Mythos, indem sie weltlichen Zwecken dienlich und damit zu einer „materiellen Gewalt“ (Karl Marx) sowohl in geistig-psychischer, als auch in physischer Hinsicht wird. Auf Grundlage althergebrachter und geheiligter Sitte kann Gefolgschaft gegen widerständige Gruppen (und äußere Feinde) solange erzwungen werden, wie genügend Menschen diesem Mythos freiwillig zu folgen bereit sind. Ein Mythos ist eben dadurch Mythos, dass seine wissensmäßigen Grundlagen von genügend Menschen nicht mehr rational hinterfragt, sondern schlichtweg hingenommen und von ausreichend vielen Gesellschaftsmitgliedern sogar offensiv geglaubt bzw. bekannt werden. Da der Mensch danach strebt, ein Leben in ruhigen, unaufgeregten Bahnen zu führen und der Verstand in ruhigen Zeiten daher eher konservativ arbeitet, ist man geneigt dem zu seinen Lebzeiten etablierten Mythos erst einmal Glaub-Würdigkeit entgegenzubringen. Jedenfalls rechnen die Herrschenden aller Zeiten und Weltprovinzen mit dieser zutiefst menschlichen Bewusstseinslage.

„Ewige Wiederkehr“: leitender Gedanke des vedischen Mythos

Die jeweilige religiöse Idee wurde also von einem die Naturphänomene erfassenden zu einem auch die zwischenzeitlich entstandenen sozialen Widersprüche beschreibenden und sanktionierenden, „heiligen“ Dogma weiter entwickelt. Der herrschende Mythos Altindiens entwickelte sich aus einer sich relativ stabil entfaltenden, relativ (!) sesshaften Kultur heraus. Unterdrückungs- und Exilerfahrungen des Menschen durch den Menschen als kollektiv gespeicherte Erfahrungen, wie sie das jüdische Volk mehrfach und frühzeitig erlebt hatte, und die zum Kristallisationskern einer monotheistischen Religion der Hoffnung und Errettung „des Menschen vor dem Menschen“ hätten werden können, gab es hier nicht. Entsprechend undramatisch und unpersonal blieben die religiösen Vorstellungen, die sich entfalteten. Der religiöse Mythos der heiligen vedischen Sanskrit-Texte kondensierte sich vorrangig an der Reflexion existenzieller Naturerfahrungen.

Zentraler Gesichtspunkt der durchaus vielgestaltigen Praxis dieses Mythos war der Gedanke einer „Ewigen Wiederkehr“. Die materielle Basis dieser Vorstellung liegt auf der Hand: Auf Tag folgt immer Nacht und umgekehrt, die Jahreszeiten kehren erwartbar wieder, auf Ebbe folgt verlässlich die Flut, auf Flut die Ebbe, die Vögel verschwinden wenn es kälter wird in unsichtbare Weiten und kehren zurück sobald der Frühling naht, alles Werden vergeht und wer genau hinsieht kann erkennen, dass Sterben die Voraussetzung für neues Leben ist. Für die bäuerlich geprägten Ökonomien der frühen Hochkulturen waren solche Beobachtungen überlebenswichtig, denn der Rhythmus der Natur beherrschte das gesellschaftliche Leben. Stabile, große Menschengemeinschaften ließen sich nur aufrechterhalten, wenn man auf der Grundlage grundlegender Naturbeobachtung Saat, Ernte, Aufteilung und Vorratshaltung der erwirtschafteten Güter planbar vornehmen konnte.

Simple Naturbeobachtung förderte jedoch auch die Tatsache zu Tage, dass diese Rhythmen durchaus durch klimatische Schwankungen und andere einschneidende Naturereignisse Jahr für Jahr eben auch überaus gefährdet waren. Zur Idee der „Ewigen Wiederkehr (des Immergleichen)“ gehörte also notwendig auch das Bewusstsein von gewesenen und weiter zu erwartenden Katastrophen dazu. Diesen war man hilflos ausgeliefert, gerade deshalb, weil das Rechnen der Menschen auf die wiederkehrende Fruchtbarkeit des Bodens notwendig zu dramatischen Situationen führen musste, wenn jene einmal ausblieb. Die Fähigkeit sich flexibel den natürlichen Veränderungen anpassen zu können, war mit dem Übergang zur (relativen) Sesshaftigkeit (tendenziell) verloren gegangen. Ein existenzielles Schwanken zwischen Planbarkeit der Produktion einerseits und Unvorhersehbarkeit der Naturphänomene andererseits versetzte diese, bereits relativ vernetzt organisierten Menschengemeinschaften in Furcht und unglaubliches Staunen zugleich.

Theoretische Rationalisierungen dieser Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen führten zu jenen ersten heiligen Erzählungen und Texten („Sanskrit“), aus denen sich wiederum die ersten religiösen Kulte Altindiens entwickelten. Aus der Perspektive damaliger Menschen war es durchaus rational, die sie umgebenden Schicksalsmächte um Gnade „für ein gutes neues Jahr“ zu bitten, ihnen Opfer darzubringen, entsprechende Kulte zu begehen, eine Priesterkaste mit der permanenten Kontaktpflege diesen Mächten gegenüber zu beauftragen und diese Menschen dafür vom materiellen Produktionsprozess der Gesellschaft freizustellen. Der - trotz des enormen, durch systematische Landwirtschaft und beginnende Sesshaftigkeit erzielten relativen Fortschritts – geringe Entwicklungsstand solcher durch die Gesellschaft als Gesellschaft erzeugten, sich selbst vorantreibender Produktivkräfte band die Menschen weiterhin zutiefst an die wissenschaftlich unverstandenen und deshalb in doppelter Hinsicht als übermächtig, ja übernatürlich erscheinenden Naturprozesse. Was blieb diesen Menschen und ihren frühen Gesellschaften, in Ermangelung naturwissenschaftlicher Erkenntnis- und moderner Produktionsmethoden, anderes übrig als die Ewige Wiederkehr an sich zu preisen, zu erhoffen und zu fürchten?

Schumann (a.o.a.O., S. 17f.) schreibt: „Das Gangesland war (er fügt hinzu „lange genug“) in geistigen Dingen von den Brahmanen bevormundet worden. Als die Schöpfer und seit Jahrhunderten von Jahren Hüter des Veda (bzw. Sanskrit, KF), zudem überzeugt, dass die Götter und die Geschichte vom Opferkult abhängen, hatten sie unerhöhten Hochmut entwickelt; als Techniker des immer komplizierter werdenden Opferrituals fühlten sie sich sogar den Königen überlegen. Zwar hatten einige Brahmanen und Krieger sich über das Opfer und die Rolle des Menschen im Dasein Gedanken gemacht und ihre Erkenntnisse in Aranyakas und Upanisaden formuliert, aber für die alltägliche Opferpraxis waren diese Texte irrelevant. Es war dabei geblieben: Die Bramahnen besaßen das Opfermonopol, und die anderen Kasten hatten in der Religion nichts zu sagen.“

In diesem Zitat wird unter anderem auch deutlich, dass die religiöse Idee der „Ewigen Wiederkehr“ längst auch auf die sozialen Verhältnisse übertragen worden und folglich zum Mythos geworden war. Was lag näher für die herrschende Klasse, die Adligen und Priester jener Zeit, als ihre Vorherrschaft dadurch zu rechtfertigten, dass sie die Naturbeobachtungen und –beschreibungen jener Zeit auch auf das gesellschaftliche Leben übertrugen: Die armen bleiben immer arm, arme Eltern bringen arme Kinder hervor, zu Reichtum kommt immer nur noch mehr Reichtum, männliche Kinder von Brahmanen treten ein ums andere Mal in Vater Fußstapfen, jede neue Generation Frauen bleibt den Männern in allen Kasten unterworfen etc. So entstand der vedisch legitimierte Mythos der Kasten-Gesellschaft, dessen unglaubliche Wirkmächtigkeit noch heute viele Millionen Inder zu einem barbarischen Leben verdammt. Der zentrale ideologische Begriff, mit dem die Vererbbarkeit sozialer Verhältnisse begründet wurde, war der des Kamma. Die vedische Kamma-Vorstellung bestand (und besteht!) darin, dass die Unsterblichkeit und ewige Unteilbarkeit einer jeden Seele (atman) behauptet wird. Eine Krämerseele bleibt eine Krämerseele, eine Bauernseele bleibt eine Bauernseele, eine Herrscherseele eine Herrscherseele, eine Hurenseele bleibt eine Hurenseele. Während die materielle Reproduktion einer jeden Klassengesellschaft in Wahrheit auf der Fortschreibung des Erbrechts beruht, behauptet(te) und legitimiert(e) der vedische Mythos die sozialen Verhältnisse durch die Lehre von der unendlichen Vererbung seelischer Identitäten. Auf dieser Basis kannte die altindische Klassengesellschaft vier ständisch aufzufassende, strikt sich gegeneinander sich abschließende Kasten: Krieger, Brahmanen, Händler und Landarbeiter. Schließlich gab (und gibt) es noch diejenigen MenschenMASSEN, die aufgrund ihrer „unwürdigen Lebensführung“ als „kastenlose Wesen“ zu einem Leben in der irdischen Hölle verdammt waren (und sind). Die Veda und ihre Priester waren schon lange vor Beginn unserer Zeitrechnung zu offenen Ausbeuter-Institutionen verkommen.

Massenhafte Abkehr von der Klassengesellschaft

Millionen Menschen, Generation auf Generation, waren so verdammt zu einem Leben ohne Aufstiegs- und Wohlstandschancen. Viele Jahrtausende scheint das relativ kritiklos gelaufen zu sein. Jedenfalls liegen keine gesicherten Hinweise vor, dass es sich anders verhielt. Am ehesten könnte des historischen Buddhas Feststellung von den vielen bereits in der Vergangenheit „erschienenden“ Buddhas (dt.: „Erwachte“) als, gleichwohl sehr unzuverlässiger, Hinweis auf vormalige Revolten gesehen werden. Aber dann, gegen 600 vor Beginn unserer Zeitrechnung, brach ein gesellschaftlicher Sturm los, der die ideologischen Grundlagen einerseits und die lebenspraktischen Grundlagen der Kasten-Klassen-Gesellschaft andererseits einer tiefgehenden, praktischen Kritik unterwarf. Schumann (a.o.a.O., S. 18) schreibt: „Diesem mechanischen `Brahmanismus` gegenüber war eine Unabhängigkeitsbewegung losgebrochen. Sie war keine Revolution (7), denn sie war friedlich und stieß nichts um. Sie war ein spiritueller Aufbruch, der die vedische Opfertheologie links liegen ließ und die Wahrheit auf neuen Wegen suchte. Tausende von Menschen aller Kasten, vorwiegend Nichtbramahnen, brachen mit dem bürgerlichen Leben, verließen ihre Bambushütten und wurden Samanas: besitzlose, zölibatäre (also das Klassengesellschaften zugrunde liegende Erbrecht verwerfende, KF), sich allein durch ihre Ernsthaftigkeit legitimierende Bettelmönche, die in Spekulationen und Übungen außerhalb des orthodoxen Rahmens ihr Heil suchten. Der Samana-Bewegung schloss sich Siddhatta an.“ Auch hier übrigens besteht eine interessante Parallele zum historischen Jesus, der ebenfalls inmitten eines allgemeinen religiösen Aufbegehrens zum Stifter einer neuen Weltanschauung (inmitten eines kleinen Kosmos sich entfaltender neuer Ideen und Bewegungen) wurde. (8)

Dieser geistige und soziale Aufbruch/Ausbruch wurzelte in tiefer liegenden Veränderungen der polit-ökonomischen Gegebenheiten. So wurden die für die ursprüngliche altindische Gesellschaft typischen oligarchischen Adelsrepubliken zunehmend von monarchisch regierten Staatsformen verdrängt. Die Republik der Sakya, der Siddhatta so gut wie vorbestimmt war als erwachsener Mann einmal vorzustehen, wurde von Südwesten (Reich Kosala), vom Süden (Reiche Kasi und Magadha) und vom Südwesten (Reich Licchavi) her durch machthungrige Monarchen bedrängt. Man frönte im Hause des Patriarchen S. Sakya wohl nicht zuletzt deshalb einem überbordenden Luxusleben und leistete es sich, die Haus-Angestellten so zuvorkommend zu behandeln (s.o), weil die politische Macht des Hauses dahin schwand und Siddhattas Vater diese Tendenz durch eine protzige Lebensführung zu kompensieren versuchte – was wiederum den pubertierenden Siddhatta dazu veranlasst haben dürfte, kritische Fragen nach dem menschlichen Unsinn einerseits und dem „sozialen Sinn“ (Pierre Bourdieu) solchen Tuns andererseits zu stellen. Die herrschenden Klassen schwelgen gerne im Luxus, kurz bevor ihrer bevorrechtigten Lebensführung das Ende gesetzt wird.

Und worauf läuft alles hinaus? Als MarxistIn ahnt man es schon, man ist als solche/-r allerdings hocherfreut darüber, von anderer Seite zu hören was in der letzten Konsequenz der Analyse der Sache gesagt werden muss. MarxistInnen würden nun von Produktionsverhältnissen, Produktivkräften, Basis und Überbau anfangen zu schreiben. Aber man kann solche Worte auch weglassen und trifft dennoch den Punkt: „Die Entwicklung zur Machtkonzentration in einer Hand spiegelte den wirtschaftlichen Umbruch wieder: Bedurfte eine Gesellschaft von Viehzüchtern, die ihre Tiere über freies Weideland trieben, keiner starken Zentralgewalt, so begünstigte der Landbau die Stellung eines Herrschers, der über die Felder wachte. Zur Zeit des Gautama waren die letzten Republiken nur noch beschränkt autonom. Sie standen unter der Hegemonie der Monarchien, denen sie zunehmend Souveränitätsrechte abzutreten hatten.“ (Volker Zotz: Buddha, Hamburg 1995, S. 16) Kurz und gut: Auch der historische „Buddha“ fiel nicht vom Himmel, seine Lebensführung und Lehre wurden durch die politische Entwicklung als Ausdruck eines tiefer liegenden sozialen Wandels, sowie durch den wachsenden Zweifel an der gesellschaftlichen Ordnung vorbereitet. Diese Tendenzen wiederum kamen in Bewegung durch die effizienter werdende Entfaltung der agrarisch basierten Produktivkräfte jener Zeit.

Der Mythos des Veda war zweifelhaft geworden. Die Ideen der „Ewigen Wiederkehr“ und der „Unsterblichen Seele“ bekamen in den Köpfen vieler kritischer Zeitgenossen bleibende Risse. Sie passten nicht mehr zur neu sich entfaltenden materiellen Basis, d.h. zur zunehmenden Verstädterung des individuellen und sozialen Lebens, zur Dynamik jenes städtischen Lebens, zur Ausdifferenzierung der Arbeitsteilung und zum neuen staatlichen Überbau der altindischen Gesellschaft als Folgen der Intensivierung des Ackerbaus gegenüber dem Hirtendasein (s.o.). Wozu noch weiter den alten Schicksalsmächten opfern und die Brahmanen verehren, wenn all das durch den Fortschritt des gesellschaftlichen und auch des persönlichen Lebens bereits in Frage gestellt worden war? Es begab sich also zu der Zeit der ersten Könige von Kosala, dass ein junger Mann dem Leben seiner hochwohlgeborenen Vorfahren abschwor, um sich in der „Hauslosigkeit“, d.h. maximal abseits des sozialen Zerfalls seiner eigenen Klasse, dem Nachdenken über den Wert des Lebens an sich und der Frage nach der Überwindung negativer, zynischer, egoistischer und angstvoller Lebenszustände hinzugeben. Siddhatta hatte die Schnauze voll und machte sich „auf den Weg“. Was ist ihm eingefallen?

Der Buddha als materialistischer Denker:
Konzentration auf das Konkrete (9)

Mit den Spekulationen über die Existenz einer Ewigen Seele und der Abwicklung des Opferkultes um seiner selbst bzw. um der Herrschenden Willen räumte Buddha gründlich auf. Opfer darzubringen bedeutete ihm nichts und gegen die Idee der Existenz einer ewigen Seele stritt er leidenschaftlich. Der herrschenden Klasse, der er entstammte, und ihrem obszönen Lotterleben kehrte er den Rücken. Übrigens hat Buddha zu seinen Lebzeiten, ebenso wenig wie Jesus, irgendwelche Bemühungen dahingehend angestellt, eine neue Priesterkaste rund um seine Idee zu schaffen. Alles was über das hinausging, was der einzelne Mensch im Zuge angemessener Orientierung seines Lebens und persönlicher Anstrengung in Erfahrung bringen konnte über sein eigenes Leben und das Leben im Allgemeinen, bedeutete dem Buddha nichts. Teilt man den Strom des menschlichen Denkens in idealistische und materialistische Philosophien ein, so muss das Denken des Buddha eindeutig der materialistischen Seite zugeordnet werden. Zotz, eine Lehrrede des Meisters zitierend, charakterisiert die vom Buddha gelehrte und gelebte Praxis des Erkennens so: „Nicht Glaube oder Hoffnung entscheiden auf dem Weg zu Erlösung, sondern allein das richtige Vorgehen. Wer an die Möglichkeit der Erlösung glaubt, aber zu falschen Praxis greift, dem geht es wie jemandem, `der Milch möchte und eine Kuh am Horn melkt. Ob er dies mit oder ohne Zuversicht tut, Milch erhält er nicht, weil das nicht der richtige Weg zur Milchgewinnung ist’ (Buddha). Wer dagegen am Euter melkt, wird auch ohne Hoffnung zu Milch kommen. Ebenso führen geeignete Methoden zur Erlösung, wobei der Glaube daran untergeordnete Bedeutung hat.“ (Zotz, a.o.a.O, S. 81f.) Und Schumann schreibt: „Die Frage nach der Seele ist für den Buddha sekundär.

Sein Denken verwendet nicht Begriffe der Substanz und des Seins, sondern ist dynamisch und erkennt in allem ein Werden, einen Prozess konditionalen Entstehens (Begriffsklärung, s.u., KF). Auch die Wiedergeburtslehre und die Lehre von der Kausalität des Tuns (kamma) setzen keine den Tod überdauernde Seele voraus (hierzu, siehe nächster Abschnitt, KF). Der frühe (man bemerke bitte diese bemerkenswerte Einschränkung, KF) Buddhismus sieht die Welt als real an und versteht sie als mit ihren Phänomenen identisch. Sind diese aufgehoben, ist auch die Welt nicht mehr vorhanden. Ein Ding an sich hinter den Erscheinungen, ein Absolutes, bestreitet er.“ (Schumann, a.o.a.O., S. 73)

Der Buddha selbst ging immer wieder gegen esoterisch-idealistische Anwandlungen seiner, bikkus genannten Anhänger an: „Was, ihr Mönche, ist das All? - - (Pause) - - Das Auge und die Formen, das Ohr und die Töne, die Nase und die Gerüche, die Zunge und die Geschmäcke, der Körper und die Tastobjekte, das Denkorgan und die Denkobjekte.“ (aus einer Lehrrede des historischen Buddha). Ende der Durchsage. Bei aller bewusst materialistischen Schlichtheit der Wortwahl gilt: Dieser Satz ist erheblich tiefsinniger, als man auf den ersten Blick meinen möchte. Er thematisiert die Frage, wie die bewusstlos dahin-evolierende Welt an sich zur sich bewusst-seienden Welt wird. Wir werden noch sehen, welch verblüffend moderne Antwort – die Hypothese von den „Fünf Gruppen (der empirischen Person)“ – der Buddha uns unterbreitet. Die Art und Weise der Beantwortung der Fragestellung liegt jedenfalls ganz auf der Linie dessen, was uns Ted Grant einmal mit seiner Bemerkung sagen wollte, dass die Materie im menschlichen Geist zum Bewusstsein ihrer selbst gekommen sei. (10) Die Größe unseres Menschen-Verstandes liegt eben nicht in einer Sphäre jenseits der konkreten, empirisch erfassbaren Welt, sondern sie ist darin zu sehen, dass „das menschliche Gehirn der Höhepunkt (in) der Entwicklung der Materie (ist)“ (Grant, Woods, a.o.a.O., S. 348).

Der Überlieferung nach hat der historische Buddha diese Methode des Erkennens und der subjektiven „Erlösung“ dem Rechenmeister Maudgalyayana gegenüber wie folgt dargelegt: Beginne mit der praktischen Einübung grundlegender ethischer Regeln im Umgang mit anderen Menschen, lerne dann alle physischen, psychischen und geistigen Ereignisse deines Lebens mit allen Sinnen und intensiv wahrzunehmen (Beiläufigkeiten gibt es dann nicht mehr, auch das Unbewusste wird mit der Zeit bewusster; S. Freud würde sagen, das Es wird tendenziell zu Ich werden), lerne angemessen zu essen (weder hungern noch prassen), sorge dich um eine bewusste Gedankenführung, d.h. finde heraus, welche deiner Gedanken zu einer ethisch und physisch guten Lebensführung beitragen können und welche nicht und verstärke bewusst die zuerst genannten Gedanken bzw. Tat-Absichten (in der buddhistischen Begrifflichkeit als „dhammas“ bezeichnet). Wenn du dieses alles getan und dein Leben entsprechend geordnet hast, dann bemühe dich nach ganzen Kräften um die systematische Vertiefung deines Wissens um die rechte Lebens- und Gedankenführung. Widme dich hierzu der „Meditation“ im Sinne des „Eintauchens“ in und der vollständigen Konzentration auf alle Vorgänge des konkreten Lebens und Denkens. Spekulationen um ihrer selbst bzw. um deiner Selbstverliebtheit oder um einer anderen Sache Willen lass konsequent sein.

Der Meister fasste die Methodik, wie man seiner Auffassung nach zur „rechten Erkenntnis“ gelangen könne, in der Formel der „Edlen Wahrheit vom Achtfachen Pfad zur Leidensaufhebung“ zusammen: Rechte Ansicht, Rechter Entschluss, Rechte Rede, Rechtes Verhalten, Rechte Lebensführung, Rechte Anstrengung, Rechte Aufmerksamkeit und Rechte Meditation. Was sollte aus marxistischer Perspektive verwerflich an diesen Verhaltensnormen sein? Irgendetwas – einmal abgesehen, aber das muss der/die einzelne für sich entscheiden, von der Achten Regel - außer nichts? Sollten nicht gerade wir diese Regeln uns zu Herzen nehmen und sie bei unserer praktisch-politischen Arbeit nach ganzen Kräften versuchen „anzuwenden“?

Solche Verhaltensregeln im Alltag zu praktizieren ist gewiss aller Ehren wert und solches Handeln wird sicherlich positive Früchte tragen. Sobald man jedoch das weite Feld des Begriffs der „Erlösung“ beschreitet, muss man zunächst einmal feststellen, dass es sich hierbei um die Beschreibung eines Weges hin zu einem subjektiven Erlösungs-Empfinden handelt – und das kann uns MarxistInnen als politisch-historisch denkende Menschen natürlich nicht zufrieden stellen. Wenn man mit dem liberalen Sozialphilosophen Jürgen Habermas zwischen „ethischen“ (bewusst privat vollzogenen, von der Person als Person abgeleiteten) und „moralischen“ (bewusst politisch vollzogenen, vom Gemeinwesen her gedachten) Dimensionen des sittlichen Handelns unterscheidet, so ist die Lehre des historischen Buddha, trotz ihres Universalitätsanspruchs (s.u.), zweifelsfrei den ethisch geprägten philosophischen bzw. religiösen Systemen zuzuordnen.

Doch es ist lachhaft und im Zusammenhang mit unserer historischen und dialektischen Denktradition sogar widersinnig, die Kriterien der europäischen Aufklärung und, in ihrem Gefolge, des historisch-dialektischen Materialismus zu Maßstäben für die Bewertung länger zurückliegender Denkbewegungen erklären zu wollen. Wer dennoch so tut als sei das möglich, der oder die ist ein heimlicher Idealist, weil er oder sie vorgibt, als sei „Marxismus“ eine Ewige Idee und der Buddha sei nur zu dämlich dazu gewesen, diese „geschaut“ zu haben. Nein, der Marxismus ist ein Resultat des bürgerlichen Zeitalters, keine Ewige Idee. Um es ironisch auszudrücken: Der Buddha war halt noch nicht so weit – er konnte es einfach noch nicht sein. Verglichen mit den stupiden brahmanischen Ritualen und der dekadenten, zerfallenden Klassengesellschaft seiner Zeit, gegen welche sich die neue Lehre und Lebenspraxis entwickelte, war er allerdings ein sehr fortschrittlicher, konsequent materialistischer Philosoph. Die Schwächen seines letztlich im Subjektiven verharrenden Denkens sind Ausdruck des immer noch niedrigen Entwicklungsstandes des seinerzeit erreichten historischen Fortschritts. Konkret gesprochen:

Wer noch keine Hebel und Tasten kennt mit denen man Massenproduktion zum Wohle aller Menschen in Bewegung setzen oder aber - durch die gesellschaftlich unsinnige Handhabung dieser Hebel und Tasten (in diesem Fall kann man noch so aufrichtig etwa dem Glauben anhängen, den Sozialismus aufbauen zu wollen, es wird das Gegenteil eintreten) - die Menschheit ins Verderben stürzen kann, der kann natürlich vorerst nur von einer subjektiv geprägten Lebensführung sprechen, welche der einzelne Mensch und Produzent richtig zu handhaben lernen muss, um (im ökonomischen wie im übertragenen Sinne des Wortes) „Milch“ und nicht nichts oder sogar das Gegenteil des im besten Glauben Erhofften zu erhalten. Der einzelne Mensch war noch zu sehr identisch mit dem Produzenten der für die Reproduktion seines Lebens notwendigen Güter, als dass der Buddha oder irgend jemand sonst schon vom Standpunkt der vollständig vergesellschafteten Produktion unserer Tage aus betrachtet zum Thema „Erlösung“ hätte Stellung nehmen können. Nicht zuletzt auch der Subjektivismus der Buddhalehre wurzelt also in der insgesamt noch sehr geringen Produktivkraft-Entfaltung jener Gesellschaft, auf deren Krise sie zunächst einmal ein den einzelnen Menschen in die sozialmoralische Pflicht nehmendes Lösungsangebot unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen (ceteris paribus) darstellt.

Buddhas revolutionäre Interpretation der traditionellen Kamma-Lehre

„Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst, um so mehr hast du,
um so größer ist dein entäußertes Leben.“ / Karl Marx (11)

Es war das ernsthafte Nachdenken über seine eigenen Lebenserfahrungen, das Siddhatta von den alten Vorstellungen abbrachte. Wenn die Seelen der höher gestellten Leute Grundlage eines besonders edlen Charakters sind – warum führen diese Menschen dann Kriege? Wenn die Seele eines Bettlers einen notwendig negativen Charakter aufweist – warum gibt es auch (gerade?) unter diesen Menschen eine Menge freundlicher und einsichtiger Leute? Die alten kamma-Vorstellungen konnten einen empirischen („konkreten“) Denker wie Siddhatta nicht mehr überzeugen; zu offensichtlich waren ihre Selbstwidersprüche. Offensichtlich waren es nicht „ewige seelische Notwendigkeiten“, sondern praktische Handlungen und Handlungsabsichten, die erkennen ließen, was in ethischer (Habermas würde hinzufügen: und moralischer) Hinsicht von einem bestimmten Menschen gesagt werden kann. Auf der anderen Seite besaß die kamma-Lehre allerdings auch ein Wahrheitsmoment, war es doch leicht ersichtlich, dass sich konkrete Verhaltensnormen in Familien und größeren sozialen Zusammenhängen, z.B. Klassen und Kasten, von einer Generation auf die nächste übertragen. Natürlich verhält sich ein Bauernkind, umgeben von Armut anders, als etwa der junge Siddhatta, umgeben auch des Nachts von Dienern. Es wird sehr wohl etwas weitergegeben von Generation zu Generation. Der große Klassen-Analytiker Pierre Bourdieu hat in einem Aufsatz mit dem sehr buddhistisch anmutenden Titel „Der Tote packt den Lebenden“ einmal den schönen Satz formuliert: „Wesen ist was gewesen ist.“ (12) Und ich bin mir sehr sicher, hätte Siddatta Kenntnis gehabt von Begriffen wie „Sozialisation“ oder „Habitus“, so hätte er davon gesprochen. Aber wie hätte er sie kennen sollen?

Buddha formulierte sein Denken selbstverständlich innerhalb des seinerzeit in seiner Weltprovinz etablierten Sprachgebrauchs. Es ließ sich für ihn nur der vedische Begriff der „Wiedergeburt“ verwenden. Doch diese „Widergeburt“ war für ihn eben keine solche einer „Seele“ mehr, sondern sie war für ihn ausschließlich eine Angelegenheit der Weitergabe praktischer Lebensorientierungen und Handlungsweisen von einer Generation an die nächste, von einem konkreten Menschen an einen anderen konkreten Menschen, von einer Lebensphase eines Individuums an seine nächste(n). „Kamma“ wurzelt nicht in irgendeiner Vorsehung durch ein höheres Schicksal bzw. eine höhere Macht, sondern ausschließlich im Tun und in den Tat-Absichten von individuellen Menschen und Gruppen von Menschen (Familien, Klassen etc.).

Schumann (a.o.a.O., S.86) fasst Buddhas durchaus dialektisches Verhältnis zu den philosophischen Traditionen seiner Kultur so zusammen: „Mit der Übernahme der (brahmanischen, KF) Idee der Widergeburt (in seine Lehre) hätte es für den Buddha nahegelegen, auch die Seelentheorie (der alten Texte, KF) anzuerkennen, derzufolge die Seele (atman) den Tod überdauert und, von Körper zu Körper wandernd, sich immer wieder inkarniert (verkörpert, KF). Stattdessen aber lehrte er genau das Gegenteil. Ein paar Tage, nachdem er in (ausgerechnet der Luxusmeile!, KF) Benares vor den einstigen Askesegefährten `das Rad der Lehre in Bewegung gesetzt’ (…) hatte, hielt er ihnen die „Lehrrede von den Kennzeichen der Nicht-Seelenhaftigkeit“. Er führte aus, dass die Fünf Gruppen, die die empirische Person bilden (Körper [rupa], Empfindung [vedana], Wahrnehmung [sanna], Geistesregungen [sankhara] und Bewusstsein [vinnana], KF), der Vergänglichkeit unterliegen und folglich keine von ihnen eine Seele (atman) sein kann. Eine Seele (im brahmanischen Sinn, KF), sei nicht aufzufinden, erklärte er. Die Wesen seien seelen-los (anatta) oder, wie er es in späteren Jahren formulierte, leer (sunna). Die Lehre von der Nicht-Seelenhaftigkeit der empirischen Person setzte Buddha zur (brahmanischen, KF) Philosophie in Opposition.“ Wenn nun wiederum die alten, brahmanischen Schriften die ideologische Legitimation der altindischen Klassengesellschaft darstellten, so befand sich Buddha mit seiner Lehre faktisch auch in Opposition zu den herrschenden Klassen seiner Zeit – auch wenn er das nicht bewusst so formuliert hat und er definitiv kein politischer Revolutionär war.

Kammisch unheilvolle Taten und Tatabsichten sind solche, die anderen Menschen (und sonstigen Wesen) in irgendeiner Weise Leid bzw. Unrecht zufügen. Un(ge)rechtes Denken zieht schnell un(ge)rechtes Handelen nach sich und umgekehrt – und eh man sich versieht, dreht man sich in einer negativen Lebens-Spirale. Die Ansammlung negativen Kamma wird ausschließlich bedingt durch eine dauerhaft unsittliche/unmoralische Lebensführung und eine entsprechende innere Haltung dem Leben in Denken, Worten und Taten gegenüber (Schumann nennt das: konditionales Entstehen von kamma). Ein solchermaßen handelnder Mensch bzw. eine solchermaßen handelnde soziale Gruppe sammelt „negatives kamma“ – er oder sie oder jene verstrickt oder verstricken sich und andere Menschen ins Unheil. Diesen Kreislauf des Unheils (samsara) können Menschen und Gruppen von Menschen nur durchbrechen, indem sie ihr Tun und ihre Tat-Absichten beginnen zu ändern, d.h. wenn sie zu ihrem „menschlichen Menschsein“ „erwachen“. Buddhas große Botschaft an den einzelnen Menschen ist diese: Wenn Du es schaffst, dich selbst vollkommen aus dieser unsittlichen Welt zu lösen und den „Edlen Pfad“ hin zu einem grundsätzlich ethischen/moralischen Verhalten aus innerer Notwendigkeit (nicht aus Opportunismus!) zu verwirklichen, dann bist du „erlöst“, denn dann verlischt dein kamma (akkumulierte, d.h. angesammelte und sich selbst verstärkende schlechte Lebensführung). Der kammischen Welt wirst du dann enthoben sein. Diese verdorbene, sittenwidrige Welt wird dir dann NICHTS mehr sagen. Es handelt sich dabei keineswegs um eine nihilistische Haltung, sondern ganz im Gegenteil um einen Zustand des Verlöschens aller nicht „produktiven“ (i.S. Erich Fromms) Einstellungen in einem menschlichen Individuum dem Leben-an-sich gegenüber.

Selbst als Abkömmling einer in einer bestimmten Art und Weise sozialethisch geprägten Gruppe hat der einzelne Mensch eine breite Palette an Möglichkeiten an der Hand, dem was er oder sie „mitbekommen“ hat, ein (im positiven wie im negativen Sinne) zutiefst individuelles Gepräge zu geben. Es ist sogar unerheblich, ob eine Person sich zum expliziten Glauben an irgendeine ethische Lehre verpflichtet fühlt oder nicht, um sein/ihr Handeln als „kammisch wertvoll bzw. heilsam“ oder als (relativ) frei von kammischem Übel bzw. von Leiden schaffenden Lebensäußerungen zu qualifizieren. Entscheidend ist nicht der Wille zum Glauben an das Gute, sondern ausschließlich eine „gute Lebenspraxis“: „Wenn, ihr Mönche, ein unwissender Mensch eine gute Tatabsicht hervorbringt, wird sein Bewusstsein dem Guten zugeneigt. Wenn er eine schlechte Tatabsicht hervorbringt, wird sein Bewusstsein dem Schlechten, dem Neutralen zugeneigt.“ (aus einer Lehrrede des Buddha) Es gibt nichts Gutes außer man tut es.

Der „ethische Wert“ eines Menschen hing somit nicht mehr von seinem vorherbestimmten sozialen Rang ab (13), sondern nur noch von dem was er an positiver oder negativer Lebens-Haltung innerlich und gegenüber seinen Mitmenschen offenbart. Das kamma eines Prinzen war nicht mehr notwendig „besser“ als das einer Hure. Dieses war die eigentliche „Offenbarung“ des Buddha! Und es liest sich wie ein Programm gegen den maßlosen, dekadenten Lebensstil der herrschenden Klasse seiner Zeit und seiner eigenen Herkunft, wenn der Buddha den „Edlen Achtfachen Weg zur Leidensaufhebung“ durch folgende Verhaltensregeln konkretisiert: „Vermeidung des Zerstörens von Leben, Abstehen vom Nehmen nicht gegebener Dinge, Enthaltung von ausschweifender Sexualität, Vermeidung der Lüge, Enthaltung vom Genuss berauschender Mittel, Sich-Fernhalten von Tanz, Musik und Schaudarbietungen, Vermeidung von Blumenzierat, Parfüm, Schminke und Schmuck, Nichtbenutzung hoher und üppiger Betten, Nichtannahme von Gold und Silber.“ Anders gesagt: „Dies ist die Edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: Die restlose Aufhebung, Vernichtung, Aufgabe, Verwerfung, das Freigeben und Ablegen der Gier.“ (aus eines Lehrrede des Buddha) Dieser Mann war eine lebende Provokation für jene Klasse, der er selbst entstammte! Man kann sich sehr gut vorstellen, welche Kreise es waren, die die Mordanschläge gegen den historischen Buddha in Auftrag gegeben haben.

Buddhas Subjektivismus kommt an dieser Stelle wieder sehr deutlich zum Vorschein. Würde man heutzutage in dieser Weise subjektivistisch argumentieren, so würde man sehr zu Recht unter Ideologieverdacht stehen, denn man würde Menschen davon abbringen, sich Gedanken um eine politische Lösung politisch erzeugter Probleme zu machen. Unter den gesellschaftlichen Bedingungen der damaligen Zeit (s.o.) war dieser materialistische Subjektivismus allerdings durchaus eine, und vielleicht die allein sinnvoll mögliche, Form radikaler Gesellschaftskritik. (14)

Wissenschaftlichkeit und Universalität der Buddha-Lehre

Es kann und soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die Buddha-Lehre den Anspruch hat, die gesamte Natur zu umfassen. Für manche Kleingeister liegt hierin der Schlüssel dazu begraben, die Lehre des Meisters zu einem esoterischen Popanz aufzublasen. Wenn der Buddha z.B. verkündete, „Mögen alle Wesen glücklich sein“, so weist seine Lehre über menschliche Lebensverhältnisse hinaus. So weitete er seine kamma-Lehre über die Menschen und ihr Zusammenleben auf die gesamte Natur aus: „Nicht sehe ich eine andere Fessel, mit welcher die Wesen gefesselt die lange Nacht durchlaufen, durcheilen als die Fessel der Gier.“ (aus einer Lehrrede des Buddha) Wir hatten ebenfalls schon gesehen, dass Buddha vor seinen Anhängern auch über die Frage nach dem „Wesen des Universums“ sprach. Im Folgenden soll versucht werden, auch solche Bestandteile der Lehre zum einen in ihren historischen Kontext zu setzten (und diese damit in ihrer scheinbar überzeitlichen Aussagekraft zu relativen) und zum anderen jene naturphilosophischen Gehalte der Lehre kurz darzustellen, die den Buddha als einen Denker erweisen, der sogar vielen wissenschaftlich daherkommenden Kleingeistern unserer heutigen Zeit weit voraus war und ist.

Zunächst einmal muss deutlich festgehalten werden, dass des Meisters Auffassung, die verschiedenen Bestandteile einer individuellen Psyche würden nach dem Tod des ihnen zugehörigen Menschen in verschiedene, ihrer jeweils sozusagen „kammischen Tendenz“ entsprechende Körper eingehen, gemessen an heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, falsch ist. Normen, Werte und Verhaltensweisen werden innerhalb von Menschengruppen durch Prozesse der Sozialisation und Erziehung „vererbt“. Die Annahme einer biologisch-chemisch sich vollziehenden Weitergabe kammischer Tendenzen einer Person nach deren Tod führte leider auch dazu, dass Buddha (s.o.) die Kastengesellschaft politisch nicht angriff, obwohl er die Profiteure dieses Systems mit seinem Denken permanent provozierte. Irgendwie hing der Meister, als Abkömmling einer herrschenden Klasse, immer noch der Vorstellung nach, gutes kamma würde sich abseits der Weitergabe von Mensch zu Mensch, also nach dem Tod der „empirischen Person“, vor allem an die gehobenen sozialen Kreise weitergeben. Die offensichtliche Klassengebundenheit dieses Gedankengangs kontrastiert auffällig mit dem die Klassengesellschaft insgesamt provozierenden Gehalt seiner grundsätzlichen Lehraussagen. Auch der Buddha kam letztlich nicht aus seiner „Klassen-Haut“ heraus und so waren es neben den unzureichend entfalteten Produktivkräften (s.o.) auch die etablierten Produktionsverhältnisse bzw. die etablierte gesellschaftliche Arbeitsteilung, die eine schlussendlich stringente Ausformulierung der Buddhalehre zum damaligen Zeitpunkt verhinderten.

Im Lebensprozess des Individuums – und diese Erkenntnis steht durchaus wieder im Einklang mit der Buddhalehre – werden diese „dhammas“ also keinesfalls angeborenen, wohl aber die gruppen- und insbesondere klassenspezifisch „vererbten“ Eigenschaften individuell (um)geformt. Man kann es den Meistern alter Zeiten nicht vorwerfen, geistig noch nicht im 20. Jahrhundert gelebt zu haben. Dem gegenüber muss man allerdings Menschen unserer Zeit, die so tun, als würden sie geistig noch im 5. Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung leben (wollen), den Vorwurf machen, politisch reaktionär zu sein. Der Buddha kannte keine „ewig bestehenden Wahrheiten“ – alles begriff er als „im Fluss“ bzw. als „auf dem Weg“ sich befindend. Wer heute noch so tut, als sei an der ursprünglichen, biologisch argumentierenden Wiedergeburtslehre etwas dran, der oder die hat mit dem dynamischen Wissensbegriff des Buddha nicht das geringste gemein.

Der oder die verfängt sich dann notwendig in einer biologistischen Argumentation, welche politisch und weltanschaulich mit allen Mitteln als gefährlicher, reaktionärer Gedankenmüll auf das Äußerste zurückgewiesen werden muss! Gleichzeitig erkennt der- bzw. diejenige, eben durch diesen seinen bzw. ihren gedanklichen Fehler, auch nicht die wahre historische Bedeutung und Größe der Buddhalehre. Gemessen an den Wissensbeständen Altindiens war es zur damaligen Zeit nämlich durchaus fortschrittlich, anstatt von irgendeiner abstrakten, durch Zeit und Raum wandernden „Seele“ zu sprechen, darüber nachzudenken, wie das Sich-Vererben von Normen, Werten und Handlungsweisen auf einem anderen, konkreten Wege tatsächlich ablaufen könnte. Mit dem dümmlichen Biologismus mancher heutiger „Wissenschaftler“ über die Vererbung von Verhaltensweisen, sexuellen Vorlieben, Kriminalität, so genannten „rassischen“ Merkmalen und „Qualitäten“ etc. pp. kann Buddhas ernsthafter Versuch über das Leben nachzudenken selbst dort nicht verglichen werden, wo es oberflächlich betrachtet so scheinen mag als wäre das möglich. Als historischer Materialist muss man den historischen Buddha gegen solchen posthumen Rufmord entschieden in Schutz nehmen! Wir MarxistInnen sollten uns an der prinzipiellen Haltung des Meisters vielmehr ein Beispiel nehmen, als an manchen seltsamen „Wissenschaftlern“ unserer Tage, d.h. wir sollten ebenfalls unsere alten Wissensbestände immer kritisch hinterfragen, uns neuen Perspektiven öffnen und solche verwerfen, die nicht mehr als angemessen bezeichnet werden können. Dieses gilt natürlich auch – in Hinsicht auf den Wahrheitsgrad der Buddhalehre vor dem Hintergrund heutzutage etablierter Wissenshorizonte - für solche Menschen, die heute noch im engeren Sinne Buddhisten sein möchten. Eine solche, wissenschaftliche Haltung dem Buddha, seinem Leben und seinen Aussagen gegenüber ist der Bedeutung und dem Gehalt seiner Lehre, sowie seiner persönlichen Lebensleistung entsprechend einzig angemessen. Alles fließt.

Das Denken des historischen Buddha war weitaus wissenschaftlicher im modernen Sinne, als es durch die dümmliche esoterische Brille erscheint. Dieser Abschnitt meines Textes dient also insbesondere auch der geistigen und politischen Ehrenrettung des Meisters vor der Borniertheit – soll man sagen: vor der kammischen Unglückseeligkeit? - vieler seiner heutigen Jüngerinnen und Jünger. So beantwortete der Buddha die Frage danach was der Mensch „eigentlich“ sei mit der Hypothese von den „Fünf Gruppen (der empirischen Person)“ (Nennung s.o.). Durch diese Fünf Gruppen (die sich wiederum in verschiedene Körperteile und Vernunft-Gebiete unterteilen lassen), eignet sich der Mensch die Welt sinnlich an. Übrigens ist demzufolge auch „Denken“ eine Form sinnlich sich vollziehender Arbeit und keinesfalls eine irgendwie „höhere Angelegenheit“. Gemäß Buddha muss derjenige, der das kamma überwinden möchte, lernen seine Wahrnehmung der Welt durch die verschiedenen Kanäle der Wahrnehmung, über die wir Menschen verfügen, hindurch frei von Gier zu halten. Mit seiner Hypothese von den „Fünf Gruppen“, d.h. Wahrnehmungs-Kanälen, liegt der historische Buddha durchaus auf der Höhe derzeitiger Wissenschaft.

Kein einigermaßen reflektierter Pädagoge etwa würde heute noch behaupten, dass Kinder und Jugendliche vorwiegend kognitiv lernen würden – bei manchen Kindern und Jugendlichen ist das so, aber nicht bei allen. So genannte „neue Unterrichtsmethoden“ arbeiten insbesondere auf der Grundlage der erstmals von Frederic Vester (ders.: Denken, Lernen, Vergessen, Stuttgart 1975) herausgearbeiteten Lerntypen-Typologie, die davon ausgeht, dass Lernen ein komplizierter Vorgang ist, der je nach persönlichem Lerntyp verschiedene „Eingangskanäle“ bevorzugt. Vester schreibt: „Statt nur mit Begriffen von Dingen sollten wir auch mit den Dingen selbst arbeiten, mit ihren Wechselwirkungen, mit ihren Beziehungen zur Umwelt. Und sofort würden auch die Begriffe sich im Gehirn nicht nur spärlich, sondern vielfach verankern. Sie würden den visuellen, den haptischen (manuellen, KF), den gefühlsmäßigen und den auditiven Kanal in gleicher Weise nutzen und dadurch viel stärkere Assoziationsmöglichkeiten bieten als bei einem realitätsfernen Eintrichtern.“ (ebenda, S. 102) Und ist nicht das ganze Leben ein einziges Lernen im Sinne der vielfachen sinnlichen Aneignung, der Interpretation und des Umgangs mit der uns umgebenden Welt? Hat dann, wenn diese Behauptung stimmen sollte, der Buddha nicht Recht mit seiner Feststellung, dass „wie aus einer Häufung von Teilen der Eindruck `Wagen` entsteht, (so entsteht) der Begriffskomplex `Wesen’, sobald es die Gruppen gibt“? Etwas „Wesentlicheres“ als „das“ was entsteht, indem „es“ sich lernend fortentwickelt, gibt es im materiellen Lebensprozess der einzelnen Menschen, ihrer sozialen Gruppen und Gesellschaften nicht.

Buddhas Annahme einer nicht nur aber eben auch biologisch-posthum funktionierenden Diffusion psychischer Qualitäten (im buddhistischen Sprachgebrauch als dhammas bezeichnet) ermöglichte es ihm zu erklären, man könne durch das ernsthafte Bemühen um ein sittlich einwandfreies Leben nicht nur sich selbst, sondern alle lebenden Wesen bzw. die gesamte „beseelte Natur“ von kammisch bedingtem Leiden befreien. Denn wenn die seelischen Qualitäten des einzelnen Menschen nach seinem Tod eben nicht als Einheit zusammenbleiben und man einen einfachen biologischen Vorgang ihrer Weitergabe annimmt, dann ist es sehr konsequent gedacht, auch die Möglichkeit einer Weitergabe solcher „dhammas“ in das Tier- und Pflanzenreich hinein zu vermuten. Es dürfte der Leserin bzw. dem Leser klar sein, dass auch diese Annahme aus der Perspektive unseres heutigen Wissensstandes über Mensch und Natur eindeutig und sogar kämpferisch gegen die Verleugner dieser Wahrheit als falsch bezeichnet werden muss. Aber der brahmanischen Lehre gegenüber war auch diese Hypothese durchaus fortschrittlich, da sie ein weiteres Mal die maximale Distanz der Lehre des Meisters zur oberflächlichen, idealistischen Betrachtungsweise des Veda deutlich zum Ausdruck brachte.

Der zentrale Punkt ist der, dass der Buddha sich nicht länger damit begnügte, dem schicksalhaften Natur-Mythos seines geistigen Umfeldes zu folgen und sich vielmehr daran machte, die natürlichen Prozesse des Lebens in seinen verschiedenen Daseinformen verstehen zu lernen. An die Stelle der Praxis des magischen Opferkultes setzte er das rationale Verstehen-Wollen einer jeden Lebenspraxis im Universum. Die Vernunft stand auf gegen die herrschende Unvernunft der damaligen Zeit – dabei beging der denkende Meister, aus heutiger Perspektive betrachtet, den ein oder anderen „Fehler“. Doch das erweist ihn nur um so mehr als einen sympathischen Menschen aus Fleisch und Blut, gebunden, wie wir alle, an die Wissensbestände der historischen Epoche, in der wir die Vernunft jeweils zu entfalten versuchen.

Ein tiefes Gefühl für den inneren und systematisch sich gegenseitig bedingenden Zusammenhang der verschiedenen Naturphänomene durchdrang das Denken des Buddha. Und das ganz ohne solches, z.B. mittels Teilchenbeschleunigern eher mehr als weniger künstlich erzeugten „Wissens“! Nicht nur die Existenz der „Seele“, sondern die Existenz ALLER Dinge betreffend erkannte der Buddha (Zitate aus Lehrreden des Buddha): „Ich kann diejenigen nicht als Kenner meiner Verkündigung ansehen (…), die behaupten es gebe eine Eigenständigkeit der Dinge. / Daraus, dass man bei allem ein Anderswerden erkennt folgt das Fehlen von Eigennaturen in den Dingen.“ Und als hätte er seinen Hegel gelesen, fügte der Meister in glänzender Weise die Negation dieser Negation hinzu, die da lautet: „Weil wiederum die Dinge Leerheit (d.h. allverbunden, weil ständig „fließend“ ineinander übergehend, daher in ihrem Wesen substanzlos, also in ihrem Wesen wesenlos, KF) sind, gibt es kein Ding ohne Eigennatur.“ Anders gesagt: Nur weil z.B. der einzelne Mensch kein übergeordnetes, ideal gedachtes Wesen besitzt, ist der einzelne Mensch eben als eigenständige, selbstidentische Persönlichkeit überhaupt erst möglich. Wer bisher geglaubt haben sollte, die dialektische Philosophie sei von Hegel in die Welt gesetzt worden, der sollte spätestens genau jetzt mit dieser falschen Vorstellung in seinem eigenen Geist aufräumen und Vernunft einkehren lassen. Die ganze Lehre des Buddha lässt sich, ohne eine Sekunde des Zögerns, wie folgt beschreiben (Grant, Woods, a.o.a.O., S. 105): „Der ursprüngliche (Erkenntnis-) Prozess geht vom Konkreten zum Abstrakten. Das Objekt wird in seine Bestandteile zergliedert und analysiert, um so detailliertes Wissen über seine Einzelteile zu erhalten. Die Teile können jedoch nicht losgelöst vom Ganzen verstanden werden. Es ist notwendig, zum Objekt als integralem System zurückzukehren und die ihm zugrunde liegende Dynamik zu verstehen, die es als Ganzes bedingt. Auf diese Art und Weise kehrt der Prozess der Erkenntnis vom Abstrakten zurück zum Konkreten. Das ist das Wesen der dialektischen Methode, die Analyse mit Synthese, Induktion mit Deduktion verbindet.“ (16)

Der historische Buddha, idealistische Gegner seiner Lehre attackierend, formulierte einmal: „Was in Eigennatur seit jeher existiert, wie könnte das wieder entstehen? Darum gibt es, wenn man die Leerheit bzw. Wandelbarkeit bestreitet, philosophisch kein Entstehen.“ (aus einer Lehrrede des historischen Buddha) Was, Genossen, ist das All? -- (Pause) -- „Das Universum an sich besteht aus einer unendlichen Kette von Ursache und Wirkung , die sich unaufhörlich verändert, bewegt und entwickelt. Das hat nichts mit einer einseitigen Vorstellung der Unendlichkeit zu tun, wobei in diesem Fall – Hegel nannte das die ‚schlechte Unendlichkeit’ – die ‚Unendlichkeit’ stets mit der Zahl 1 ‚beginnt’.“ (Grant, Woods, a.o.a.O., S. 426)

Alles ist auf Ewig nichts, weil alles ewig „fließt“ und also alles nicht-ist.

So habe ich gehört :
„Was ist das Wesen deiner Lehre?“, soll einst der chinesische Kaiser den legendären Begründer des Zen-Buddhismus, Bodhidharma gefragt haben. Die Antwort kam wie der Blitz: „Unendliche Weite, nichts von heilig.“ Bloß nicht abheben.
Guten Flug, Eure Heiligkeit!
-- (Pause) --



Quellenangaben

Alle Buddhaworte wurden den Monografien Schumanns oder Zotzs (s.u.) entnommen.

Literaturangaben

Pierre Bourdieu: Der Tote packt den Lebenden, in: ders. Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik & Kultur 2, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 18-58.

Deutsche Buddhistische Union / Buddhistische Religionsgemeinschaft: 100 Jahre Buddhismus in Deutschland. Presseerklärung, München 2003, auf:
http://www.buddhismus-deutschland.de.

Erich Fromm: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft,
engl. Erstausgabe 1976 unter dem Titel „To Have or to Be?“, deutsche Erstausgabe 1976,
19. Auflage, Frankfurt am Main 1990.

Erich Fromm: Der Glaube an den Menschen, in: ders.: Erich-Fromm-Lesebuch, herausge-geben und eingeleitet von Rainer Funk, engl. Erstausgabe unter dem Titel „The Estate of Erich Fromm“ 1985, dt. Erstausgabe 1988, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1992, S. 151-182.

Ohmichi Kosen Zenji: Worte der Weisheit des Leitenden Priesters, auf:
http://global.sotozen.-net.or.jp/ger/.

Chet Raymo: Mein täglicher Spaziergang durch das Universum, aus dem Englischen
von Andreas Simon, zuerst erschienen 2003 unter dem Titel: „The Path. A One-Mile March Through the Universe“, Frankfurt am Main 2004.

Hans Wolfgang Schumann: Buddhismus. Stifter, Schulen und Systeme, zuerst 1976, überarbeitete Neuauflage auf der Höhe des Forschungsstandes, München 1993.

Gerd Theißen: Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Geschichte des Urchristentums, zuerst 1977, 7. Auflage Gütersloh 1997.

Frederic Vester: Denken, Lernen, Vergessen. Was geht in unserem Kopf vor, wie lernt das Gehirn und wann lässt es uns im Stich?, zuerst 1978, 20. Auflage, Frankfurt am Main 1993.

Alan Woods, Ted Grant: Aufstand der Vernunft. Marxistische Philosophie und moderne Wissenschaft, engl. Erstausgabe 1995 unter dem Titel „Reason in Revolt“, aus dem Englisch von österreichischen und deutschen Funke-Unterstützern, Wien 2002.

Volker Zotz: Buddha. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, zuerst 1991, 3. Auflage,
Reinbek bei Hamburg 1995.

zum Bild:

Die Abbildung zeigt Das Rad der Lehre (Buddhas) nach einem tibetischen Holzschnitt. Die Rad-Felge steht für die grundsätzlich endlose Bewegung und damit die ewige Veränderung alles Seienden in Raum und Zeit, inklusive des menschlichen Nachdenkens über diese Prozesse. “Die acht Speichen symbolisieren die Glieder des Achtfachen Weges zur Leidensauflösung, das aus dem chinesischen Kulturraum übernommene Zeichen im Zentrum die Verwobenheit von Leid und Erlösung.“ (entnommen aus: Schumann, a.u.a.O., S. 206.)
Auch die Leer-Räume zwischen den Speichen sind, bzw. der Wechsel von gefülltem und nicht gefülltem Raum ist, bedeutungsvoll. Die Zustände "Form" und "Leerheit" gehen stets in einander über, sie sind eins - symbolisiert durch die gemeinsame Einfassung durch die Radfelge. In dem Sinne wie die Felge den ewigen Wandel an sich repräsentiert, präzisiert der Wechsel von (scheinbar) gefülltem und (scheinbar) nicht gefülltem Raum diese Aussage im Sinne der grundsätzlichen kosmologischen Behauptung der Buddalehre: "Form wird Leerheit, Leerheit wird Form, Form ist Leerheit, Leerheit ist Form" (aus der "Lehrschrift von der Weisheit der großen Lehre, die es uns ermöglicht 'darüber hinauszugehen'", einer der Schlüsseltexte des chinesisch-japanischen Buddhismus).

Anmerkungen:

(1) Wer von diesem Text religiöse Aussagen im engeren Sinne erwartet, die oder der wird vielleicht nicht enttäuscht, wohl aber ein bisschen ernüchtert werden. Zum „religiösen Erleben“, zum „spirituellen Bewusstsein“ im engeren Sinne wird dieser Text keine einzige direkte Botschaft enthalten. In den ernsthafteren buddhistischen Schulen, die insbesondere im chinesisch-japanischen Kulturkreis (aber durchaus auch in den südwestlichen Theravada-Traditionen) anzutreffen sind, ist es – und diese Haltung geht auf den Buddha persönlich zurück – seit jeher gute Sitte, zu dieser Dimension der Lehre entweder bewusst zu schweigen, oder aber gezielt scheinbar unsachgemäße Antworten von sich zu geben. Dieser „ungebrochenen Linie der Übermittlung des authentischen Dharma“ fühlt sich dieser Text durchaus sehr verpflichtet. Das was es, davon abgesehen, an sozialen, politischen und wissenschaftlich-philosophischen Aussagen zu berichten gibt, ist dafür umso interessanter (gleichermaßen für Menschen, die erklären Buddhisten zu sein, als auch für solche, die erklären dieses ganz gewiss nicht zu sein). Es wird Zeit genau dieses alles nach so langer Zeit endlich einmal deutlich zur Sprache zu bringen. Von diesen, scheinbar „äußeren“ Aspekten der Buddha-Lehre wird der vorliegende Text handeln. Der spirituelle Rest vergeht bekanntlich, wie man in Japan sagt, mit dem „Klatschen einer Hand“. Dermaßen substanzloses Erleben rechtfertigt keine großen Worte und noch weniger rechtfertigt es lange Texte. Anderes schon.

(2) Es besteht sogar eine unglaubliche Lücke zwischen der großen Sympathie-Neigung einerseits und der Bereitschaft, sich tatsächlich in buddhistischen Gemeinschaften zu organisieren andererseits. Die „Deutsche Buddhistische Union“ (DBU) – politisches Sprachrohr des hiesigen Buddhismus – zählt bei insgesamt 54 Mitgliedsgemeinschaften rund 25.000 Mitglieder und ca. 2000 DBU-Einzelmitglieder. In einer Gesellschaft von über 80 Mio. Menschen ist diese Anzahl von Menschen sicherlich noch nicht als relevante Massenbewegung charakterisierbar. Offensichtlich besteht im Allgemeinen eine große Skepsis in Hinsicht auf institutionalisierte und ritualisierte Formen der Religionsausübung. „Der“ Buddhismus ist vielleicht auch für viele Menschen gerade deshalb eine attraktive Sache, weil er in der Tat ohne formellen Kult und ohne eine Priesterschaft „praktiziert“ werden kann. Was genau die insgesamt sehr wenigen Menschen, die sich seit den 1970er-Jahren in Deutschland buddhistischen Organisationen angeschlossen haben, dazu treibt dieses zu tun soll an dieser Stelle nicht untersucht werden. Es ist jedoch sehr gut möglich, dass viele Menschen, die im Allgemeinen „Sympathie“ für Buddhismus bekunden den „Zielen“ dieser Religion bzw. Philosophie erheblich näher stehen, als die Mehrheit derer, die sich buddhistischen Institutionen anschließen.

(3) Buddhistische Mönche schwören bei ihrer Ordination: „Ich nehme meine Zuflucht zum Buddha, zur Sangha (Gemeinschaft der „Gläubigen“, KF), zum Dhamma (zur Lehre des Buddha).“ Die eigentlich interessante Frage scheint mir weniger darin zu bestehen, was genau im Einzelfall mit diesen Begriffen gemeint ist, sondern darin, wovor denn hier eigentlich „geflohen“ wird. Auch von dieser Frage wird der vorliegende Text maßgeblich handeln.

(4) Der Bezug ausgerechnet auf Familie und Schule (siehe folgendes Zitat) verweist auf die herrschaftliche Verankerung des Denkens des Herrn Ohmichi. Beide Institutionen waren in allen Gesellschaften – und sind es bis auf den heutigen Tag – wesentliche Instanzen für die Aufrechterhaltung von Klassengesellschaften. Als Ort des Friedens erscheint z.B. die traditionelle Ehe eben nur jenen, die nicht sehen wollen oder können, dass die Unterordnung der Frau unter den Mann nur ein Element der Aufrechterhaltung des Erbrechts und, daraus resultierender, Herrschaftlichkeit darstellt. Der „Frieden“ traditioneller Familienverhältnisse beinhaltet nichts weiter als die durch den jeweils herrschenden Common Sense akzeptierte Gewaltsamkeit der Klassengesellschaft und der ihnen eigenen, traditionellen Geschlechterverhältnisse.
Seine Verbundenheit mit dem herrschaftlichen, patriarchialen Sprachgebrauch demonstrierte übrigens auch der Dalai Lama vor einer Versammlung buddhistischer Frauen in Hamburg Ende Juli 2007, als er auf die Frage, ob sein Nachfolger im Amt auch eine Frau sein könne, sagte: „Ja, aber es müsste dann eine sehr schöne, attraktive Frau sein.“ Die Tagesschau-Sprecherin vermerkte dazu: „Der Dalai Lama vermittelt spirituelle Botschaften. Heute zeigte es sich als Mann.“ Man könnte auch sagen, er habe die Hose runtergelassen. Wie auch immer, als Marxist möchte ich präzisieren: Er zeigte sich eben nicht nur als „Mann an sich“, der – und das mag schlimm genug sein – eben manchmal so spricht, da er über eine bedeutende religionspolitische Angelegenheit sprach, als er das sagte. Als patriarchial organisierte Gesellschaft war Tibet bis 1959 und ist die exiltibetische Gemeinde offensichtlich bis auf den heutigen Tag eben auch eine zutiefst gewaltsame Form sozialer Organisation.
Doch das sollen an dieser Stelle nur Randbemerkungen sein. Es wird mir im Folgenden nicht darum gehen, buddhistische Mythologien und ihre sozialen Funktionen in „buddhistisch“ geprägten Gesellschaften (ob Japan oder Tibet etc.) darzustellen, sondern es wird mir darum gehen, die Lehre des historischen Buddha und die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Möglichkeit herauszuarbeiten.

(5) Da es insbesondere im ungebildeten Deutschland viele Menschen gibt, die sich für Linke halten – die sich aber doch immer wieder nur als ewige deutsche Spießer-Gymnasiasten erweisen -, weil sie beständig auf der Suche nach genüsslich ankreidbaren „Fehlern“ sind, die sie anderen Linken um die Ohren hauen können, sei hier folgendes kurz festgestellt: Ich kenne den Begriff der „ursprünglichen Akkumulation“ und weiß sehr wohl, dass den Ungerechtigkeiten der damaligen Zeit durchaus auch ein sehr fortschrittlicher Charakter im Hinblick auf die Entfaltung des historischen Prozesses der menschlichen Gesellschaft an sich zukommt. Aber, meine lieben „kritischen“ Freunde, ich habe hier nicht den Anspruch eine Dissertation zu schreiben. Deshalb werde ich zu diesem Aspekt der Wahrheit an dieser Stelle nichts schreiben, weil er nicht notwendig in seiner theoretischen Begrifflichkeit erörtert werden muss, um das Thema zu verstehen das hier behandelt wird. Gleichwohl wird dem weniger spießerhaft-formal, d.h. den mit-denkenden Leserinnen und Lesern zweifellos schnell auffallen, dass die spezifische Dialektik „ursprünglicher Akkumulation“ im Sinne ihrer gleichzeitigen absoluten Fortschrittlichkeit bei ebenso absoluter Barbarei diesen Text geradezu durchdringt.

(6) Gemeint ist damit im Folgenden in etwa die Region zwischen dem 77. und dem 90. Grad östlicher Länge und - im Westen der Region - dem 24., weiter im Osten dem 22. und dem 19. bzw. dem 25. Grad nördlicher Breite.

(7) Hier ist nicht der Platz Schumanns Revolutionsbegriff zu thematisieren. Es sei aber der Hinweis gestattet, dass Rosa Luxemburg das Wesen der Revolution nicht so sehr im Umsturzcharakter des Geschehens, noch in dessen angeblich notwendiger, roher Gewalttätigkeit, sondern darin gesehen hat, die Wahrheit über die Welt vor der Welt öffentlich zu machen. Ferner: Trotzki definierte Revolutionen als solche Situationen, in denen Massen von Menschen damit beginnen, ihr eigenes Leben ernsthaft in die eigenen Hände zu nehmen und nicht länger bereit dazu sind, auf die Sprüche und Taten derer zu vertrauen, die weiterhin über sie regieren möchten. War das, was aus Schumanns professoraler Wahrnehmung heraus keine Revolution gewesen sein soll, aus revolutionär-marxistischer Perspektive vielleicht doch eine (wenn auch, wie so viele Revolutionen, eine schon im Ansatz „steckengebliebene“)? Eine Revolution ist kein einmaliger, sozusagen magischer Akt, sondern immer ein Prozess, der verschiedene Phasen durchläuft. Die massenhafte Abkehr von den gesellschaftlich etablierten Normen und Werten und die Bereitschaft neue Wege des Lebens und Zusammenlebens praktisch auszutesten, sind wesentliche (die wesentlichen?) Charakteristika eines revolutionären Prozesses, ohne welche alle weiteren Phasen eines solchen Geschehens überhaupt nicht angestoßen werden würden.

(8) Wer Auskünfte über die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit der Jesus-Lehre sucht, ist gut damit beraten sich das kleine aber feine Buch des Soziologen und Theologen Gerd Theißen anzuschauen (s.u., Literaturangaben). Theißen operiert mit einer zwischen bürgerlicher und marxistischer Soziologie oszillierenden Analytik – die eben aus diesem Spannungsverhältnis heraus interessante Perspektiven auf das Phänomen eröffnet.

(9) In Hinsicht auf die philosophiegeschichtliche Verortung des jeweiligen Denkens enden an dieser Stelle die Parallelen zum historischen Jesus. So sehr auch die ethischen Schlussfolgerungen beider Religionsstifter sich ähneln, so sehr gehen die Gedanken, die zu diesen gleichwohl ähnlichen Ergebnissen führen auseinander. Friedrich Schlegel hatte schon Recht: „Mit dem Christentum hat die Religion des Fo [Buddha] in einigen Stücken der Lehre und selbst der äußerlichen Einrichtung eine auffallende, aber dennoch falsche Ähnlichkeit. Das einzelne stimmt oft sonderbar überein, aber es ist alles entstellt und verzerrt, alles hat ein anderes Verhältnis und einen anderen Sinn; es ist die Ähnlichkeit des Menschen mit dem Affen.“ (ders. 1808 in: Über die Sprache der Inder, zitiert nach: Zotz, S. 139) Die von Schlegel konstatierten Verschiebungen im Sinn der jeweiligen Lehre in ihrem Verhältnis zur jeweils anderen rühren von dem entschiedenen Materialismus der Buddhalehre her, welcher von der Lehre des Jesus ganz gewiss nicht behauptet werden kann. Damit soll allerdings keinesfalls ein schlussendlich negatives Urteil über Wirken und Lehre des Jesus ausgesprochen sein.

(10) Der Buddha würde Ted (und Alan) sicherlich mit der Frage konfrontiert haben: „Ja sicher -- (Pause) -- Aber auf welchen Wegen kommen die Informationen über die Welt zu Bewusstsein?“

(11) Zitiert nach: Erich Fromm, Haben oder Sein, a.u.a.O., S. 5.

(12) Pierre Bourdieu: Der Tote packt den Leben, a.u.a.O., S. 51. Der Satz ist im französischen Original übrigens in deutscher Sprache notiert. Es handelt sich um einen sehr geschickt formulierten politischen Angriff eines historisch, dialektisch und materialistisch orientierten Wissenschaftlers auf den Sprachgebrauch und die Gedankenführung idealistischer Denk-Traditionen, die insbesondere der deutschen Philosophie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ihre spezifische Charakteristik gaben (und, durch so genannte „empirische“ Bezüge mühsam kaschiert, immer noch geben).

(13) Obwohl der Buddha, erzogen als zukünftiger, selbstverständlich männlicher Herrscher innerhalb einer zutiefst patriarchial gefügten gesellschaftlichen Ordnung, eine Menge Vorbehalte gegenüber Frauen hatte, ließ er – wenn auch nur auf beharrlichen Druck weiblicher Familienmitglieder – die Errichtung einer zu seiner Lehre sich bekennenden Gemeinschaft von Frauen zu. In seiner Laienanhängerschaft befanden sich übrigens unzählige Frauen. In einer Gesellschaft, die 50% ihrer Mitglieder restlos unterdrückt, muss man diese Tatsachen alleine als politisch fortschrittlich Sachverhalte werten. Offensichtlich hatten Frauen aller Gesellschaftsschichten schon damals das Gefühl, ganz besonders erlösungsbedürftig zu sein. Friedrich Engels hat in seiner Schrift über die Entstehung von Familie, Staat und Privateigentum alles Grundsätzliche zu diesem Aspekt sozialer Unterdrückung gesagt.

(14) Es ist auffällig, dass der Meister die politischen Folgen seines Denkens nicht wahr haben wollte. So erkannte er sogar die Legitimität des Kastenwesens an. Diese mangelnde Konsequenz beruhte an erster Stelle darauf, dass er noch nicht um die tatsächlichen Wege der Vererbung von Normen, Werten und Verhaltensdispositionen wissen konnte. Die in diesem Abschnitt von mir, auf der Grundlage soziologischer Begriffe dargestellte, Argumentationsweise entspricht dem heutigen Wissens(chafts)stand, den Buddha ja schlecht kennen konnte. Sein Denken kreist – wir werden weiter unten noch sehen in welcher Weise genau – um eine nicht zuletzt eben auch biologisch-chemische Vorstellung der Weitergabe von kamma nach dem Tod einer Person.

(15) Für den deutschsprachigen Kulturraum schreibende/übersetzende MarxistInnen sollten das „Wesen“ meines Erachtens ganz aus ihrem Wortschatz streichen. So wie Buddha das Wort atman („Seele“) einfach fallen ließ. Man könnte das englische „essence“ an dieser Stelle auch z.B. mit „der grundsätzliche Gesichtspunkt“ übersetzen. Linke Psychoanalytiker sprechen übrigens nicht selten betont kämpferisch vom Vorhandensein einer dynamischen Psyche, weil das ältere dt. Wort „Seele“, ähnlich wie das dt. Wort „Wesen“ mit einer mysterischen Aura eng verbunden bleibt, die es gewissen Kleingeister ermöglicht, mir nichts dir nichts heimlich bürgerlich zu ticken, während man den Eindruck einer gewaltigen linken Rhetorik vernimmt. Damit ist nichts definitives über die Übersetzer dieses Buches ausgesagt, aber wir müssen gerade im deutschen Kulturraum sehr genau formulieren, um nicht ‚unter der Hand’ problematische Wissensbestände unseres Kulturkreises zu befördern.

Editorische Anmerkung:

Dieser Text wurde zwischen Mitte Juli und Anfang August 2007 in Deutschland verfasst. Anlass seiner Abfassung war der zweite Besuch des Dalai Lama in der Bundesrepublik in diesem Jahr; der Verfasser.

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