Über den raschen Rücktritt von Konzernchef Martin Winterkorn und den jähen, rasanten Absturz des Kurses der VW-Aktien hinaus dürften anstehende Schadensersatzzahlungen in zweistelliger Milliardenhöhe weitreichende Folgen haben. Der Skandal hat viel Vertrauen in Europas und der Welt größten Autobauer und die deutsche Fahrzeugindustrie insgesamt untergraben. Umsatzrückgänge, die sich schon im Sommer abzeichneten, dürften jetzt eine Folge sein. VW-Beschäftigte zittern um ihre Arbeitsplätze. Die Stadtverwaltung in Wolfsburg, dem Stammsitz des weltumspannenden Konzerns, befürchtet starke Einbrüche bei den Gewerbesteuern und hat bereits eine Haushaltssperre und einen Einstellungsstopp verhängt. Auch im Rathaus des VW-Standorts Braunschweig ist man alarmiert.
Für kritische und aufmerksame (Zeit-)Genossen kommt der VW-Skandal nicht überraschend. „Das dürfte vorsätzlich geschehen sein“, kommentiert der Chemieingenieur und Funke-Unterstützer Karl-Heinz Bäuml die Tatsache, dass in den Katalysatoren der VW-Dieselmotoren die Vorrichtungen zur selektiven katalytischen Reduktion (SCR) der nitrosen Gase bzw. Stickstoffoxide zu unschädlichem Stickstoff und Wasser durch den Zusatz einer Harnstofflösung offensichtlich aus Kostengründen völlig unterdimensioniert gehalten wurden. Eine flächendeckende Infrastruktur zum Auffüllen der benötigten Harnstofflösung für Pkw ist in Europa offenbar nicht vorhanden. „Es ist unbegreiflich, dass TÜV und deutsche Umweltbehörden dies nicht bemerkt haben sollten. VW hat der Regierung etwas verkauft, was sie hören wollte, mehr nicht.“
Spitze des Eisbergs
Seit Jahren weisen kritische Umweltverbände und Verkehrsexperten darauf hin, dass die deutsche und internationale Autoindustrie offizielle Abgaswerte unter Laborbedingungen ermittelt, die mit realen Bedingungen im Straßenverkehr wenig zu tun haben. Und dass der ökologische Anspruch ebenso wie der Kult um Еlektromobile vor allem ein PR-Gag zur Beruhigung einer umweltbewussten Kundschaft und Öffentlichkeit ist und die Produktion von Spritfressern munter weiter geht. Siehe auch unseren Bericht über die IAA 2009 auf www.derfunke.de.
Dass nicht nur in der Wolfsburger VW-Zentrale unter dem Diktat des privaten Profits systematisch gelogen und betrogen wird, ist uns also nicht neu. VW ist hier nur die Spitze des Eisbergs. Es dürfte dabei kein Zufall sein, dass die Enthüllungen von Umweltbehörden der USA ausgehen und „just in time“ die alle zwei Jahre stattfindende Internationale Automobilausstellung (IAA) in Frankfurt überschatteten. Dies deutet darauf hin, dass angesichts einer abflauenden Automobilkonjunktur und massiver weltweiter Überkapazitäten der Branche ein Handelskrieg im Gange ist, der zunehmend mit harten Bandagen ausgefochten wird. Auch die großen US-Autobauer, die im Grunde mit Umweltschutz wenig am Hut haben, kämpfen um ihre Marktposition und unternehmen alles, um ihre europäischen Konkurrenten ins schlechte Licht zu rücken.
Keine Lohnopfer!
Wenn interessierte Kreise nun der VW-Belegschaft einflößen wollen, dass sie sich schützend vor ihr Management stellen und Lohnverzicht üben müsse, besteht zu einem solchen „Schulterschluss“ mit den Bossen kein Anlass. Martin Winterkorn, der sich ahnungslos gab und vom VW-Aufsichtsrat bescheinigen ließ, er habe angeblich „keine Kenntnis von Manipulationen von Abgaswerten“ gehabt, fällt weich. Er bezieht weiter über eine Million Euro Jahresgehalt. Mit Pensionsansprüchen von über 28 Millionen Euro und möglichen Entschädigungen in zweistelliger Millionenhöhe muss er sich im Gegensatz zur Masse der arbeitenden Bevölkerung und insbesondere vielen bei VW eingesetzten Leiharbeitern keine Sorgen um die persönliche Zukunft machen.
Für eine Erpressung der VW-Beschäftigten zum Lohnverzicht als Beitrag zur Rettung von Volkswagen besteht kein Anlass. Der Konzern hat in den letzten acht Jahren rund 60 Milliarden Euro an die Aktionäre ausgeschüttet – allen voran an die steinreichen Großaktionäre, den Porsche-Piëch-Familienclan und das Emirat Katar. Diese sollten jetzt zur Kasse gebeten werden – und nicht die Beschäftigten oder die öffentliche Hand im Land Niedersachsen und in den Städten mit VW-Werken.
Es ist Zeit für eine grundlegende Umkehr im Autoland Deutschland und darüber hinaus. Tag für Tag vergeuden Millionen Menschen wertvolle Lebenszeit auf verstopften Straßen. Deutschland ist unter dem Druck der Autolobby das einzige europäische Land ohne Tempolimit auf Autobahnen. Der motorisierte Individualverkehr und stetig zunehmende Straßengüterverkehr schaden Mensch und Umwelt und verursachen massive gesellschaftliche Folgekosten, für die wir alle teuer bezahlen. Es ist höchste Zeit für eine radikale Umkehr und ein Verkehrswesen, in dem nicht mehr private Autokonzerne, Straßen- und Mineralöllobby den Ton angeben und auf der Jagd nach kurzfristiger Rendite den ökologischen Fortschritt systematisch behindern. VW und alle anderen Autobauer gehören in öffentliche, staatliche Hände und unter die demokratische Kontrolle der Beschäftigten. Ohne Bevormundung und ohne Zukunftsängste könnte mit dem vorhandenen Wissen aller Arbeiter und Angestellten, Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler und den vorhandenen Kapazitäten die Produktion auf ökologische und soziale Verkehrssysteme und andere gesellschaftlich nützliche Produkte umgerüstet werden.
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