Der junge Chen Duxiu
Chen Duxiu wurde in einer Phase geboren, in der Kriege und Revolten „auf der Tagesordnung“ standen. Er kam 1879 in Anqing, Provinz Anhui, zur Welt. Weil sein Vater kurz nach seiner Geburt starb, wurde er von seinem Großvater und seinem Bruder großgezogen. Mit 15 Jahren begann er seine klassisch-chinesische Ausbildung. Der junge Chen lehnte die traditionell-klassische Lehre ab, trotzdem sollte er nach dem Wunsch seines Großvaters Beamter werden. Er scheiterte aber mit 21 Jahren an der zweiten Prüfung (auf Provinzebene) und begann in Hangzhou Englisch, Französisch und Schiffsbau zu studieren.
1900 breitete sich der Boxeraufstand in China aus, in dessen Folge acht Weltmächte Beijing belagerten. Chen beteiligte sich aktiv in dieser Bewegung und hielt radikale, revolutionäre Reden gegen das Regime in der Mandschurei. In der Folge musste er das erste Mal vor polizeilicher Verfolgung fliehen. 1913 bereitete er zusammen mit drei Guomindang-Offizieren eine militärische Kampagne gegen Yuan Shikai vor, was als die „Zweite Revolution“ in die Geschichte der Guomindang eingehen sollte. Als die Revolution scheiterte, flüchtete Chen nach Japan. (Kuo 1975: 273)
Die Strenge seines Großvaters und die großherzige Erziehung seiner Mutter hatten einen starken, charakterlichen Einfluss auf Chen. Er fürchtete sich nicht davor, sich gegen etwas zu stellen, konnte Fehler von anderen „übersehen“ und verfing sich niemals in nutzlosen Gesprächen. Er hatte einen starken Willen und einen ausgezeichneten Verstand. Seine spätere politische Radikalität könnte auf diese Phase seiner Jugend zurückzuführen sein, als er gegen die Autorität des Großvaters rebellierte.
Schon in seiner Kindheit beobachtete er Unterdrückung von einfachen Leuten durch lokale Beamte sowie die politischen, sozialen und ökonomischen Privilegien der Herrschenden. (Kuo 1975: 22-24) Diese Erfahrungen sollten Chens zukünftigen Lebensweg maßgeblich beeinflussen.
Allgemeine Lage Chinas
Die Weltsituation im späten 18. Jahrhundert und besonders im 19. Jahrhundert war stark geprägt von der industriellen Revolution, die das Machtverhältnis zugunsten des Westens kippte. Erzielte China zuvor einen Exportüberschuss, so wurde China im 19. Jahrhundert wirtschaftlich und militärisch von Fremdmächten, die historisch lange Zeit im Bewusstsein der Chinesen inexistent waren, aufgebrochen.
In den beiden Opiumkriegen 1839-1842 und 1856-1860 versuchte China mit aller Kraft, sich gegen die ihm von Fremdmächten aufgezwungenen Regeln und deren Logik zur Wehr zu setzen, aber es scheiterte kläglich. Im Sino-Japan-Krieg 1894-1895 musste China nach einer vernichtenden Niederlage Taiwan an Japan abgeben. Durch die klare, militärische Unterlegenheit schlugen auch weitere Fremdmächte bezüglich der Durchsetzung ihrer Interessen einen aggressiveren Ton an.
In der Folge besetzte das deutsche Kaiserreich die Jiaozhou-Bucht in Shandong, Russland erobert Port Arthur (oder Lüshunkou, heute Teil der chinesischen Hafenstadt Dalian) in der Provinz Liaoning, Großbritannien Weihai in Shandong und Frankreich Kouangzhouwan in Guandong. Als offizielle Reformen des Kaisers scheiterten, kam es 1900 zum Boxeraufstand, d.h. (großenteils zivile) Gruppen, die sich zusammenschlossen, um gegen den europäischen, nordamerikanischen und japanischen Imperialismus vorzugehen. Die „Vereinigten acht Staaten“, bestehend aus dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Russland und den USA, schlossen sich zusammen, um den Aufstand blutig niederzuschlagen. 1912 wird von dem Revolutionär Sun Yixian (Sun Yat-sen) die Guomindang (Nationale Volkspartei, abgekürzt GMD) gegründet und die Republik ausgerufen, die bis 1949 besteht und auch von der Guomindang regiert wird.
Ab Ende der Opiumkriege, welche das erste, militärische Kräftemessen mit den übermächtigen „Fremden“ waren, wurden eine Vielzahl von Verträgen zu Ungunsten Chinas abgeschlossen. Diese „Ungleichen Verträge“ beinhalteten einen massiven Eingriff in die Souveränität Chinas. Vor allem in gesellschaftspolitischer- und territorialer Hinsicht werden Fremde unverhältnismäßig und moralisch unvertretbar gegenüber Chinesen in deren Nation bevorzugt. Derartige Diskriminierungen in Kolonien waren für die verwickelten, globalen Mächte zu dieser Zeit durchaus üblich.
Die ehemalige Weltmacht China musste einsehen, dass das riesige Reich, das einstmals „alles unter dem Himmel“ erfasst hatte, im Spiegel der Realität, den ihm die Westmächte vor die Nase hielten, auf ein unterentwickeltes Land zusammengeschrumpft war. In einem Ringen um Selbstbewusstsein, abgelöst von Resignation und Zugeständnisse an die imperialistischen Mächte war China ins Zweifeln geraten und rang in einer Art Todeskampf nach Lösungen, wie China vor Fremdbestimmung gerettet werden konnte und das stolze Reich langfristig bestenfalls einen der vordersten Plätze in der Weltordnung wieder herstellen könne.
Der letzte der erwähnten „Ungleichen Verträge“ brachten das brodelnde Fass beinahe zum Überlaufen: Die „Einundzwanzig Forderungen“ wurden 1915 vom Kaiserreich Japan präsentiert. Sun Yixian hatte inzwischen sein Versprechen wahr gemacht und die Macht des Präsidentenpostens an Yuan Shikai weitergegeben, welcher die Forderungen, die China in ein Protektorat Japans verwandeln sollte, teilweise angenommen. Seit diesem Ereignis fanden jedes Jahr am 7. Mai Demonstrationen gegen diesen Vertrag in Beijing statt. 1919 waren deutliche Anzeichen ersichtlich, dass die Regierung plane, Proteste zu unterdrücken, also wurden sie auf den „4. Mai“ vorverlegt.
Gründung einer „Neuen Jugend“
In dieser Periode der Demütigung und Erniedrigung machte sich in breiten Schichten der Bevölkerung Unverständnis bezüglich der oben erwähnten, nationalen Identitätskrise breit. Die politische Führung Chinas nahm in den Konflikten mit der Außenwelt ständig die gleiche Rolle ein, obwohl diese Handlungsmuster zu keinem befriedigenden Ergebnis führten. An dieser Stelle betrat die „Neue Kulturbewegung“ die politische Bühne.
Bereits der Gelehrte Kang Youwei propagierte in seinem Werk, dem „Buch der großen Gemeinschaft“ (Datongshu), den Begriff des (westlichen) Kommunismus, wobei seine Begriffsdefinition umstritten ist. Der Gemeinschaftsgeist sei in der chinesischen Tradition verwurzelt und durch eine Herrschaft mit demokratischer Kontrolle nach utopisch- konfuzianischen Kriterien möglich, so die Idee. Institutionell forderte er die Nachbildung des englischen Systems. Der „Realkonfuzianismus“ sei verfälscht, da Konfuzius sehr wohl reformoffen gewesen sei. Er wollte das politische System in China reformieren und hatte die Meinung, dass das kulturelle Erbe des Landes dadurch sehr wohl eine identitätsstiftende Wirkung im globalen Kontext haben werde. Das Buch wurde wegen seiner Radikalität, trotz Fertigstellung 1902, in China erst 1935 veröffentlicht. (Weigelin-Schwiedrzik; 2005) Die „Neue Kulturbewegung“ wird als Fortsetzung eines Prozesses gesehen, der sich 1890 erstmals damit beschäftigte, Evolution in das chinesische Weltbild zu integrieren. Dieser Wind aus dem Westen war der theoretisch-anarchistische und -kommunistische Nährboden und Voraussetzung für die Neue Kulturbewegung.
Kommunistische und anarchistische Ideen fanden in der Neuen Kulturbewegung einflussgebenden Anklang als intellektuelle Strömung, die sich gegen politische Autoritäten wie die konfuzianische sowie gegen Sun Yixian richtete. Als wichtige Losung forderte sie eine Literatur, die nicht Soll-Visionen darstellt und sich einer toten Gelehrtensprache bedient, sondern im Gegenteil sollte sie die Realität widerspiegeln, auch Fiktion sollte erlaubt sein. Literatur war zu diesem Zeitpunkt nur einer kleinen, alphabetisierten Minderheit vorbehalten, welche die klassisch chinesischen Zeichen beherrschte. Um eine Parallele zur westlichen Geschichte zu ziehen: Die Zeit vor der Modernisierung der Schriftzeichen wäre in europäischen Verhältnissen, als wenn ausschließlich Latein zum Schreiben jeglicher Texte verwendet werden würde. Im Kern entstand die Bewegung als Selbstverteidigung der sich behaupten wollenden, sich radikalisierenden Intellektuellen und Studenten, welche sich gegen die Konstituierung der Republik Chinas auflehnten und um ihren Platz in der Gesellschaft kämpften. Die extrem schwache Zentralregierung jener Zeit war im Begriff, wiederum dieselben Fehler wie die Eliten der Qing-Dynastie vor ihr zu machen und einer Modernisierung des Landes zu Gunsten des Privilegienerhalts einer kleinen, wohlhabenden Minderheit auf Kosten einer unterprivilegierten Mehrheit aus dem Weg zu gehen.
In dieser geschichtlichen Periode war Chen um 1915 Professor für Humanwissenschaften. Seine Veröffentlichungen werden in der Geschichtsschreibung offiziell als Beginn der „Neuen Kulturbewegung“ angesehen. In diesem Jahr gründete Chen Duxiu in Shanghai das Magazin „Jugend“ (ein Jahr später in „Neue Jugend“ umbenannt), womit er Einfluss auf große Teile der Intellektuellen ausübte. Als einflussreichster Autor der Universität Beijing (der heute üblichen Schreibweise [Hanyu Pinyin] für Peking) begab er sich offen auf die Suche nach radikalen Lösungen für nationale Probleme. Als einer der jungen Autoren beschäftigten sich die Beteiligten mit der kulturellen Rückständigkeit des Landes und wollten der Gefahr der monarchischen Restauration die Vision eines in Zukunft mit westlichen Ländern gleichberechtigten Nationalstaats mit individuellen Freiheiten entgegensetzen. Durch sein starkes Auftreten für Wissenschaft und Demokratie als Basis für neuerliche, nationale Stärke schaffte er sich, zu einem historisch günstigen Zeitpunkt der landesweiten Verunsicherung und zuvor gescheiterten Versuche einer Erneuerung, Gehör unter Intellektuellen und trug mit seinen Co-Autoren auch zur Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung bei.
So entstand eine Diskussion innerhalb der Bewegung 1915-1919: Chen Duxiu, Hu Shi und Lu Xun (ein weiterer bedeutender Intellektueller und Schriftsteller, der für die offizielle Historiographie der KPCh zentral geblieben ist) hatten zwar ganz verschiedene, politische Ansichten, eines hatten sie aber gemeinsam: Sie interessierten sich für „die Politik“ des menschlichen Körpers und folglich auch für die Leistungen von Élie Metchnikoff (bürgerlicher Name: Ilja Iljitsch Metschnikow, 1845-1916), einen Russen, der 1908 den Nobelpreis für Medizin für die Entdeckung der Immunabwehr durch die weißen Blutkörperchen erhalten hatte.
Chen Duxiu versuchte die lebensferne, fast abstrakte, neu gefundene Theorie der Abwehr von Krankheitserregern auf die chinesische Gesellschaft metaphorisch umzulegen. Er beschrieb das Eindringen fremder Militärmächte und wie diese „den Organismus“ der gut funktionierenden, chinesischen Gesellschaft stören. Es ging aus seiner Sicht darum, den „Krankheitserreger“ abzuwehren.
Der Intellektuelle war Chefredakteur sowie Hauptfigur des Magazins und hatte somit großen Einfluss auf dessen inhaltliche Gestaltung. Allerdings verstand er es Meinungspluralität zuzulassen und feinfühlig auf das Meinungsspektrum seiner politischen Weggefährten einzugehen, was sich unter anderem aus den zu dieser Zeit relativ weit verbreiteten, anarchistischen Ideen herleiten lässt. Chen war unter den ersten, die ihre Ideen „modern“ und wie unter Gelehrten dieser Zeit üblich, frei von traditionellen, philosophischen Konzepten präsentierten, vermied aber die anarchistische Methode, traditionelle Metaphysik in neuem, rationalen Gewändern zu präsentieren. Die Methode der rationalen Argumentationsführung war nach Jahren der kulturellen Barrieren in China angekommen.
Chen war bekannt dafür, eine vollständige Übernahme von westlichen Ideen zu fordern. Für ihn war das Konzept der nationalen Souveränität, ergänzt durch die Mitbestimmung der Bevölkerung ein Ziel, das ganzheitlich für China übernommen werden sollte.
Sein Demokratiebegriff betonte, wie es auch die marxistische Herangehensweise tut, stets soziale und ökonomische Aspekte als Voraussetzung um politische Probleme zu überwinden. Diese Voraussetzungen müssen sich gleichzeitig entwickeln. Er schlug auch vor, die Verfassung durch eine Volksabstimmung zu beschließen, (Kuo 1975: 75) was zu dieser Zeit eine sehr radikale Idee war. Inhaltlich wurde in der „Neuen Jugend“ Evolution als wichtiger Unterschied zwischen traditionellem, chinesischem Denken und westlichem, unabhängig von konfuzianischer Moral diskutiert. Diese gesellschaftliche Strömung erkannte die Jugend als Subjekt für sozialen Wandel (daher der Name des Magazins) und entdeckte eine neue Art von moralischem Optimismus, der nicht mehr auf dem Konfuzianismus, sondern auf vitaler Biologie beruhte (Stichwort: „survival of the fittest“). Die von Chen geforderte Gesellschaftsphilosophie betont revolutionäre Kämpfe (angeleht an den marxistischen Grundbegriff „Klassenkämpfe“), um soziale Gerechtigkeit sowie ein Gesellschaftsmodell zu erlangen, das durch kollektive Anstrengungen individuelle Selbstentfaltung beinhaltet.(Cambridge History of China: 396)
Der praktischen, konfuzianischen Philosophie der Stabilität und des Stillstands wurde eine auf den Wissenschaften beruhende Philosophie der Veränderung und des Fortschritts entgegengestellt.
In seinen Artikeln lässt sich gut erkennen, dass Werte wie Menschenrechte und Freiheit des Einzelnen die oberste Priorität genießen. Dazu personalisiert der Redakteur der „Neuen Jugend“ in der 3. Ausgabe der Zeitschrift Wissenschaft und Demokratie als zwei „Gentlemen, die China vor politischer, moralischer, akademischer und intellektueller Dunkelheit“ retten können. Die zwei Herren Mr. Science (sai xiansheng) und Mr. Democracy (de xiansheng) sollten helfen, China in die Moderne zu führen, damit das Land nach einer Phase der Abschottung den verdienten Platz in der Welt zurück erhält. Sein Demokratiebegriff beinhaltet die Forderung, alle Teile des Lebens demokratisch zu erfassen. Dadurch würden auch gesellschaftliche Bereiche wie Moral und Ethik positiv beeinflusst werden. (Gu 2001: 589-612) In seinem „Manifest“ 1915 formulierte er einen „Aufruf an die Jugend“ (Artikel: Jinggao qingnian; Chen 1987: 3-10):
„seid fortschrittlich, nicht konservativ“ - „seid energisch, nicht reflektierend“ - „seid weltoffen, nicht einzelgängerisch“ - „seid selbstständig, nicht unterwürfig“
Dieser Aufruf knüpft an den inspirierenden Gedanken der Anfänge der Immunologie (s. oben) an, die auf die Jugend als revolutionäres Subjekt als auch auf (oder in weiterer Folge) das Land China übertragen werden. „Unsere Interpretation von politischer Demokratie ist, dass die Verfassung direkt vom Volk ausgearbeitet werden muss, die Rechte [der Menschen, Anm.] werden durch die Verfassung gesichert und der Wille der Menschen muss entsprechend der Konstitution von Vertretern ausgeführt werden. In anderen Worten muss die Teilung zwischen herrschender und beherrschter Klasse aufgehoben werden – die Menschen sollen selbst herrschen.“
Und weiter:
„Offen gesagt wollen wir keine passive Regierung, sondern die aktive Beteiligung der Autonomie des Volkes. Nur so können wir behaupten, dass aufrichtige politische Demokratie erreicht wurde.“ (Artikel: Shixing minzhi de jichu - Basis für die Umsetzung von politischer Demokratie, xin qingnian (1. Dez. 1919); Chen, 1988: 14)
Nach dieser Charakterisierung der Gedankenwelt, den Vorstellungen und Ideen des jungen Chen Duxius möchten wir schildern, wie sich auf dieser Grundlage eine historisch-theoretisch relevante Kulturbewegung entfalten konnte, die seit Maos Ausruf der Volksrepublik China 1949 laufend in zahlreichen Reden erwähnt wird, weil sie eine wichtige Legitimationsgrundlage für die „Kommunistische“ Partei Chinas darstellt.
Der beschriebene, theoretische Diskurs bekam erst weitreichende materielle Kraft, als chinesische Interessen während des Friedensvertrags von Versailles 1919 völlig ignoriert wurden, was als direkter Auslöser der „4. Mai-Bewegung“ gesehen wird.
China war zuvor auf Seiten der Alliierten 1917 in den Ersten Weltkrieg eingetreten in der Hoffnung, die „Ungleichen Verträge“ und die 21 Forderungen Japans würden von den Westmächten aufgehoben werden. Als aber Frankreich und Großbritannien beabsichtigten, die Provinz Shandong, welche China beanspruchte, an Japan zu übergeben, entstand in China enormer, öffentlicher Druck.
„Als Humanist und Internationalist wusste Chen, dass Chinas Versagen auf der Friedenskonferenz der Sieg des internationalen Imperialismus über Wilsons Ideen war [Ideal der Selbstbestimmungen der Nationen, Anm.], des Militarismus über internationale Gerechtigkeit“. (Kuo 1975: 76)
Somit war das zuvor entwickelte Konzept der völligen Verwestlichung wegen des Scheiterns der nationalen Souveränität schwer angeschlagen.
3.000 Studenten verschiedener Universitäten versammelten sich am 4. Mai 1919 alleine in Beijing, unterstützt durch Arbeiter und Händler. Aber auch in anderen Städten fanden Demonstrationen, Streiks, Boykott japanischer Waren, zusammenfassend ein reges Maß ziviler Aktivitäten, statt.
Die Bewegung war so stark, dass die Regierung über 1500 zuvor gefangen genommene Demonstranten wieder frei lassen musste, der unpopuläre Außenminister entlassen wurde und, ein deutliches Zeichen an die damaligen „global player“, die Unterzeichnung des Vertrags von Versailles von den chinesischen Delegierten abgelehnt wurde.
Diese Zeit wird von manchen westlichen Autoren in Klassikern über den 4. Mai, unter anderem Vera Schwarcz „The Chinese Enlightenment“ und Chow Tse-tsung „The May Fourth Movement“, die „Chinesische Aufklärung“ genannt: Ein kritischer Teil der Bevölkerung nahm ihr Schicksal selbst in die Hand und konnte im Rahmen eines Zeitfensters die Tagespolitik der Regierung bestimmen.
Die Rolle Sowjetrusslands und des Marxismus
Das Scheitern der Forderungen an die teilnehmenden Regierungen der Friedensverhandlung von Versailles desillusionierte Chen bezüglich seinen Vorstellungen der demokratischen Länder des Westens. Nun wandte er sich langsam von westlichen, bürgerlichen Ideen ab und orientierte sich zunehmend an den bolschewistischen-marxistischen Tendenzen in Russland, um für die Bevölkerung seines Landes internationale Gerechtigkeit zu erlangen. (Kuo 1975: 73 ff)
Auch im nationalen Kontext waren die Auswirkungen der russischen Revolution 1917 ein wichtiger Anstoß für die Ereignisse um den 4. Mai 1919. Die Oktoberrevolution war deshalb so attraktiv für radikale, chinesische Intellektuelle, weil sie in einem ökonomisch rückständigen Land westlichen Materialismus mit östlichem Idealismus zu kombinieren schien.
Chen anerkannte 1919 den Bolschewismus, ohne sich selbst als Bolschewist zu bezeichnen, 1920 bekannte er sich zum Marxisten. Er wollte mit den traditionellen Institutionen Chinas brechen und nahm daher die Hilfe der Kommunistischen Internationale (Komintern) in Anspruch, um die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) zu gründen. Hierbei gab Chen keineswegs seine Perspektiven zugunsten jener der UdSSR auf, sondern verwendete die Unterstützung der Komintern, um eine Partei unter sensibler Rücksichtnahme pluralistischer Meinungen aufzubauen.
Gemäß der Rezeption dieser Zeit war Marx für chinesische Denker und somit auch für Chen ein Analytiker, der Ursachen für vorhandene Missstände erforscht hatte. Besonders attraktiv war Marx’ Mehrwerttheorie, welche die Ausbeutung chinesischer Arbeiter durch imperialistische Mächte erklärte. Li Dazhao bezeichnete sich selbst bereits 1918 als Bolschewisten. Er war der erste, der die Botschaften der russischen Partei mit Interesse aufnahm und hatte großen Einfluss an der Universität Beijing. Er war Chen Duxius Lehrer, dieser wirkte wiederum maßgeblich auf Mao Zedong, der zu dieser Zeit Hilfsbibliothekar war. Li spielte eine enorme Rolle, was die theoretische Entwicklung der 4. Mai-Bewegung angeht, deshalb soll auch seine Biographie kurz angeschnitten werden. 1889 geboren studierte er Politische Ökonomie in Tianjin und machte 1913 seinen Abschluss, danach setzte er sein Studium in Tokio an der Waseda-Universität fort.
Auf den Versuch des Präsidenten Yuan Shikai, sich zum Kaiser zu ernennen, antwortete er im Ausland mit der Gründung von Studiengesellschaften, um dieser Willkür kritische Köpfe entgegen setzen zu können. Er war 1918 Bibliothekar an der Universität Beijing und Vorgesetzter von Mao, nahm aktiv an der 4. Mai-Bewegung teil, übernahm 1920 einen Lehrauftrag und hielt Vorlesungen zu Marx’ Hauptwerk „Das Kapital“.
Nachdem er 1921 die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) mitbegründet hatte, reiste er anlässlich des 5. Kongresses der Komintern 1924 nach Moskau und akzeptierte eine Professur an der dortigen Ost-Universität. Zurück in China übte er 1927 während des Bürgerkriegs öffentliche Kritik an Japan. Der marxistische Revolutionär flüchtete vor Verfolgung in die Botschaft der Sowjetunion, wurde dort aber von Gendarmen des Warlords Zhang Zuolin aufgegriffen und erhängt.
Gründung der KPCh und theoretischer Diskurs
Nach der 4. Mai- Bewegung war die chinesische Jugend viel eher dazu bereit, radikale Lösungen für Chinas nationale Probleme anzunehmen und begrüßte zusehends die wissenschaftlich-sozialistische Methode. Als sich Hu Shi für „Mehr mit Problemen beschäftigen, weniger über „-ismen“ diskutieren“ (mei-chou p’ing-lun, 20.7.1919) aussprach, spaltete sich die „Neue Kulturbewegung“ nach zirka einem Jahr in Liberale und Sozialisten.
Im Mai 1920 veröffentlichte Chen als frisch gebackener Marxist eine Sonderausgabe der „Neuen Jugend“, in der er zahlreiche Berichte über politische Massenveranstaltungen brachte und erklärte, dass „-ismen“, richtig eingesetzt, den Wegweiser zu sozialen Reformen darstellen könnten. Soziale Reformen und Revolution seien, so weiter, ein ganz bewusster Prozess. (Kuo; 1975, 76-79)
Einige Monate zuvor wurde ein „Marxistischer Studienzirkel“ unter der Leitung von Li Dazhao an der Universität Beijing gegründet. Bei der offiziellen Gründung im Oktober 1921 waren 19 Studenten anwesend, im Frühling 1922 war die Zahl bereits auf 63 angestiegen. Von ihnen nahmen viele eine wichtige Rolle in der kommunistischen Bewegung der kommenden Jahre ein. Chen hielt bei Arbeitskämpfen Reden an streikende Arbeiter. Nach seiner Rückkehr nach Shanghai wohnte er bei einem befreundeten Autor in der französischen Konzession, wo später die KPCh gegründet werden sollte. Auf ihrem Gründungsparteitag am 1. Juli 1921 proklamierten die chinesischen Kommunisten die Entschlossenheit, nach russischem Vorbild auch in China eine „Diktatur des Proletariats“ aufzubauen und sich der Erziehung und Organisation der Arbeiterklasse zu widmen. (Dahmer 1990,1: 11)
Chen gründete die Partei, um der unterdrückten Arbeiterschaft ein Instrument zu geben, sich gegen die Klasse der Kapitalisten aufzulehnen und Staatsangelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, indem die Politik, das Gesetz und weitere Bereiche des Staates durch die Arbeiterklasse selbst kontrolliert werden. (Kuo 1975: 81)
Als die Kommunistische Internationale (Komintern) sich 1922 für eine Zusammenarbeit von Guomindang und KPCh einsetzte, unterschätzte die Komintern offensichtlich die organisatorische Stärke der jungen KPCh und überschätzte jene der GMD. Chen Duxiu argumentierte, dass die Klassen vermischt würden und die Unabhängigkeit der Partei gefährdet sei. Als sich die fünf Mitglieder des chinesischen Zentralkomitees (ZK) weigerten, der Guomindang beizutreten und auch ablehnten, ihre Entscheidung zu überdenken, musste sie letztlich ein Komintern-Vertreter auf die Befolgung der internationalen Disziplin hinweisen. Damit warf dieser das außerordentliche hohe Prestige der Internationale in die Waagschale, und das chinesische ZK befolgte schließlich die Weisung.
Obwohl er gegen den von der Komintern vorgeschlagenen Kurs war, kritisierte er ihn erst viel zu spät offen, im folgenden Zitat auf der Erste Rede auf dem 8. Plenum des EKKI (1927): „Die GMD verkörpert die führende Rolle der Bourgeoisie über die Volksmassen - einschließlich des Proletariats und der KP“
Und weiter:
„Die Diktatur der GMD richtet sich nicht nur gegen die Imperialisten und Militaristen, sondern auch gegen den proletarischen Klassenkampf.(...) In der bürgerlichen Revolution aber muss das Proletariat unbedingt die Unabhängigkeit seiner Partei sicherstellen - um jeden Preis“ (Dahmer 1990,1: 252) Chen befolgte die Komintern-Politik auch während der Revolution von 1925-1927, kam aber zu dem Schluss, dass eine Zusammenarbeit mit der GMD der Grund für deren Niederlage wäre.
Kurz soll hier auf die Entwicklungen in der UdSSR eingegangen werden, weil diese von großer Bedeutung für die KP Chinas waren.
Am Beginn fand der Kampf um die Spitze der russischen KP wenig Beachtung unter den chinesischen Kommunisten, abgesehen von der Verurteilung des Trotzkismus in einem Papier der KPCh 1927, offensichtlich von der Internationalen erteilt, die zu dieser Zeit unter starkem Einfluss der UdSSR stand. (Feigon 1983: 197 ff) Der kurzfristig kaum auffallende, mittel- und langfristig aber grundlegende Theoriewechsel sollte starke Auswirkungen auf die internationale Politik der Komintern haben.
In einer „Notkonferenz“ der KPCh wurde Chen Duxiu als Rechtsopportunist für die Niederlage und Niederschlagung der Revolution 1925-1927 und der Rätebewegungen durch die GMD verantwortlich gemacht und zum Rücktritt gezwungen. Chen Duxiu legte sein Amt als Generalsekretär der Partei am 15.7.1927 nieder und ging im weiteren Verlauf verstärkt in Opposition. Trotzki hatte sich sehr intensiv mit der Politik der Komintern in China auseinandergesetzt und wurde mit seinem Analysen und seiner Kritik zu einem wichtigen Referenzpunkt für Chen und andere Kommunisten. Einige chinesische Studenten, die von Moskau 1928 nach China zurückgekehrt waren, gründeten nun sogar eine trotzkistische Opposition, die „Linke Opposition“ nach sowjetischem Vorbild. Sie hatten an der „Kommunistischen Universität des Ostens“ studiert. Diese wurde 1921 in Moskau zur Ausbildung kommunistischer Kader für Asien geschaffen und fand regen Zuspruch unter Chinesen. Wegen des großen Andrangs wurde 1925 eine zusätzliche, nur für Chinesen bestimmte, nach Sun Yixian benannte, eingerichtet. Einige chinesische Studenten sympathisierten nach 1927 mit der Linken Opposition, als sie deren Kritik an Stalin und Bucharin gelesen hatten. (Dahmer 1990,1; 51). Durch die von ihnen mitgebrachten Dokumente machten sie auch Chen erstmals auf den Konflikt in der Führung der russischen Parteiführung aufmerksam.
Die Gründungsväter der chinesischen KP waren einst angesehen und Protagonisten der „chinesischen Aufklärung“, fanden sich jedoch wenige Jahre später als disziplinierte Kader einer zusehends stalinisierten Partei wieder. Chen Duxiu versuchte 1929 die Erfahrungen der vergangenen Jahre in einem „Brief an die Mitglieder des ZK“ der KP aufzuklären und forderte sie dazu auf, aus den Fehlern zu lernen.
Er verurteilte die Methode Kritik alleine auf eine Person zu reduzieren. In der Tat hatte er meistens die von Moskau verordnete Linie umgesetzt. Nun wurde er als Einzelperson für das Scheitern verantwortlich gemacht und „an den Pranger“ gestellt, anstatt die Taktik zu überdenken und einen strategischen Kurswechsel anzupeilen. (Dahmer 1990,2)
Chen trat in der Folge der internationalen „Linken Opposition“ bei, die sich gegen die von Moskau verordnete Politik stellte und gab dieser einen klaren, politischen Kurs.
1932 wurde Chen festgenommen. Angesichts des Stalinismus begann sich Chen mit der Zeit vom Kommunismus wieder abzuwenden und geriet dadurch auch in Widerspruch zu Trotzki. Dies ändert aber nichts daran, dass Chen einen entscheidenden Beitrag zum Entstehen der kommunistischen Bewegung in China leistete.
Ohne dem jungen, radikalen und theoretisch gebildeten Chen wäre das Hauptorgan für die Mobilisierung der Jugend rund um den 4. Mai 1919 niemals entstanden, das Volk hätte sich wahrscheinlich nicht erhoben und eine kommunistische Partei wäre auch wohl erst viel später gegründet worden. Er hatte wesentlichen Einfluss auf Mao Zedong und die nächste Generation von Kommunisten, die später eine entscheidende Rolle im Bürgerkrieg und bei der Gründung der Volksrepublik China spielten.
Dass Chen zur richtigen Zeit am richtigen Ort gelebt hatte und mit seinem Hintergrund so eine einflussreichste geschichtliche Rolle übernehmen konnte, ist reiner Zufall. Er konnte aber der gesellschaftlich vorherrschenden Stimmung Ausdruck verleihen und wurde deshalb zu einer wichtigen Figur der chinesischen Geschichte.
Quellenangaben:
Bauer, Barbara; Hansen, Sven (2007): China Verordnete Harmonie, entfesselter Kapitalismus, Berlin: Taz Verlag
Böke, Henning (2007): Maoismus- China und die Linke- Bilanz und Perspektiven, Stuttgart: Schmetterlingverlag
Chen Duxiu (1988): Duxiu wen cun. Hefei: Anhui Renmin Chubanshe
Dahmer, Helmut (Hg.)(1990,1): Trotzki Schriften 2 Über China Band 2.1 Deutschland: Rasch und Röhring Verlag
Dahmer, Helmut (Hg.)(1990,2): Trotzki Schriften 2 Über China Band 2.2 Deutschland: Rasch und Röhring Verlag
Genton, Gregor (1998): Chen Duxiu's last Articles and Letters 1937-1942, Amsterdam: International Institute of Social History
Grant, Ted (1997): From Revolution to Couter- Revolution. London: Wellred Publication Gu, Edward X. (2001): “Who was Mr Democracy?” in Modern Asian Studies 35:3: 589-621. Cambridge: Cambridge University Press
Kuo, Thomas C. (1975): Ch'en Tu-hsiu (1879-1942) and the Chinese Communist Movement. Seton Hall University Press America
Marx, Karl (1853): Leitartikel des „New York Daily Tribune“ (14.6.1853) in „Über China- das Eindringen des englischen Kapitalismus in China“ 1955, Ost- Berlin
Trotsky, Leon (2007): My Life: An Attempt at an Autobiography. U.S.A.: Dover Value Editions
Weigelin-Schwiedrzik, Susanne (2005): „Jahrhunderts zwischen Universalität und Partikularität“ in „Weltgeschichte und chinesische Geschichte: Die chinesische Historiographie des 20. Jahrhunderts“ Wien
|