Kategorie: Theorie

Der neue Mensch

In welchem Verhältnis die Veränderung der menschlichen Persönlichkeit und die Umwälzung der gesellschaftlichen Umstände aus der Sicht der marxistischen Revolutionstheorie steht, beschreibt Gernot Trausmuth. In der ArbeiterInnenbewegung gab es immer schon zwei große Denkschulen. Die einen meinten, dass die ArbeiterInnen zu „neuen Menschen“ erzogen werden mussten, damit sie den Herausforderungen einer sozialistischen Umgestaltung gerecht werden.



Die andere sah zuerst die Notwendigkeit die kapitalistischen Verhältnisse umzuwälzen, um Erziehung und Kultur revolutionieren zu können.
Leo Trotzki beschäftigte sich sehr intensiv mit dieser Frage und setzte wie kein anderer Marxist einen Kontrapunkt zur mechanistischen Denkrichtung, wie sie in der Sozialdemokratie schon vor dem Ersten Weltkrieg vorherrschte. 1906 wandte er sich in seiner Schrift „Ergebnisse und Perspektiven“ gegen die „sozialistischen Ideologen“, die die „Vorbereitung des Proletariats auf den Sozialismus im Sinne einer moralischen Umwandlung“ auffassten: „Das Proletariat und die ‚Menschheit’ überhaupt müssen vor allem ihre alte egoistische Natur ablegen... Da wir bis jetzt von einem solchen Zustand weit entfernt seien und ‚die menschliche Natur’ sich nur äußerst langsam verändern werde, sei der Ausbruch des Sozialismus um einige Jahrhunderte in die Ferne gerückt.“ Trotzki gestand diesem Ansatz zu, dass er auf den ersten Blick sehr realistisch erscheine, weil er dem entspricht, was wir im Alltag erleben. Dabei machte er den Unterschied zwischen einer sozialistischen Psychologie und dem bewussten Streben nach dem Sozialismus. Erstere bedeutet, dass die Menschen in ökonomischen und sozialen Fragen keine egoistischen Motive verfolgen. Dieses Konzept muss im Reich der Utopie stecken bleiben und hat letztendlich dazu geführt, dass für die Sozialdemokratie nie der richtige Punkt für eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft erreicht war. Trotzki sieht in dieser Theorie auch ein Zurückgleiten in den utopischen Sozialismus und vergleicht diesen Teil der Sozialdemokratie mit dem Urchristentum, das ebenfalls daran gescheitert war, die Gesinnung der Menschen umzuwandeln und stattdessen selbst bürokratisierte. Dieses Scheitern sei aber nicht auf den Egoismus der handelnden Personen zurückzuführen, sondern in erster Linie „als Folge der unumstößlichen Gesetze der Abhängigkeit der menschlichen Psychologie von den Bedingungen der gesellschaftlichen Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens” zu sehen.

Aus der Klassenpsychologie des Proletariats können aber sehr wohl die Kämpfe für eine sozialistische Umwälzung entstehen. Dabei bleibt der/die durchschnittliche ArbeiterIn zwar weiterhin “kleinbürgerlich-egoistisch” und mit einer Vielzahl von Vorurteilen der bürgerlichen Ordnung behaftet, aber durch seine eigenen Lebenserfahrungen kann er/sie sehr wohl zu dem Schluss kommen, dass “seine einfachsten Wünsche und natürlichsten Bedürfnisse nur auf den Trümmern des kapitalistischen Systems befriedigt werden können.”

MarxistInnen haben immer den Standpunkt vertreten, dass das bürgerliche Bewusstsein nur im gemeinsamen Kampf überwunden werden kann. Trotzki zeigt aber auch auf, dass diesem Prozess im Kapitalismus Grenzen gesetzt sind: “Der gemeinsame Kampf gegen die Ausbeutung lässt in der Seele des Arbeiters kostbare Ansätze des Idealismus, der kameradschaftlichen Solidarität und der selbstlosen Opferbereitschaft keimen, aber zugleich lässt der individuelle Existenzkampf, der ewig gähnende Rachen der Armut, die Differenzierung innerhalb der Arbeiterschaft selbst, der Druck der unwissenden Massen von unten und die korrumpierende Tätigkeit der bürgerlichen Parteien eine volle Entfaltung dieser kostbaren Ansätze nicht zu.”

Zeichen der Solidarität

Jeder Streik und noch mehr jede Revolution fördert wunderbare Zeichen der Solidarität zu Tage, in denen Menschen die Kainsmale der bürgerlichen Ideologie abstreifen und erst ihre wahre Würde erlangen. Gewalt und Kriminalität nehmen plötzlich ab, selbst wenn es keinen funktionierenden Polizeiapparat gibt. Frauen betreten ingroßer Zahl die politische Bühne, womit die alten Rollenbilder über den Haufen geworfen werden. Die Vorstellung, dass Männer und Frauen verschieden seien, ist im Zuge der Revolution verschwunden. Mozn Hassan, Direktorin des feministischen Studienzentrums Nasra in Kairo sagte: „Niemand sieht dich hier als Frau, niemand sieht dich als Mann. Wir sind alle vereint in unserem Wunsch nach Demokratie und Freiheit.“

Gruppen, die sich noch vor kurzem aufgrund einer unterschiedlichen Religion, Hautfarbe oder nationaler Herkunft skeptisch, wenn nicht offen feindlich gegenüber standen, stehen plötzlich Schulter an Schulter auf der selben Seite der Barrikade. In den vergangenen Monaten sahen wir in Tunesien oder Ägypten unzählige Beispiele für derartige Entwicklungen. Als der tunesische Geheimdienst nach dem Sturz Ben Alis Plünderungen organisierte und das Land ins Chaos zu stürzen versuchte, organisierte sich die Bevölkerung in revolutionären
Komitees zur Verteidigung der eigenen Stadtviertel. Es herrschte daraufhin die Meinung vor, dass es noch nie so sicher war wie unter der neuen Ordnung. Ähnliche Berichte kamen aus den befreiten Städten im Osten Libyens und aus Ägypten. Der Journalist Karim El-Gawhary berichtete von einem Gespräch mit einem Aktivisten auf dem Tahrir-Platz, der eigentlich bei den Muslimbrüdern organisiert war. Dieser meinte, er habe in den Kämpfen mit der Polizei so viele mutige Frauen gesehen, die auf den Barrikaden Seite an Seite mit ihm gekämpft haben, wodurch sich sein Frauenbild völlig verändert habe. Und zu guter Letzt sei nur an die beeindruckenden Bilder am Tahrir-Platz erinnert, als koptische ChristInnen einen menschlichen Schutzwall rund um ihre muslimischen MitstreiterInnen gebildet haben, damit diese ungehindert von den Schlagertrupps des Regimes das traditionelle Freitagsgebet abhalten konnten. Zwei Tage später beschützten dann Muslime die christliche Sonntagsmesse am Platz. Und das in einem Land, in dem es wenige Wochen zuvor noch zu brutalen Übergriffen gegen die koptische Gemeinde gekommen war.

Von Sidi Bouzid über den Tahrir-Platz bis Tobruk flackerte in diesen Wochen der Revolution das Bild eines neuen Menschen auf. Die Berichte ähneln jenen über die Pariser Kommune, Petrograd 1917 oder Spanien 1936 (siehe Kasten). Hier sehen wir das Potential für eine wirklich menschliche Gesellschaft. Doch wir wollen kein idealisiertes Bild von der Revolution zeichnen. Eine Revolution ist ein Kampf lebendiger Kräfte, sie entwickelt sich nicht linear, sondern in Sprüngen, auf die auch Phasen der Reaktion folgen können. Dies hat Auswirkungen auf das Bewusstsein auch der revolutionären Bewegung.

Trotzki erklärte schon in seiner “Geschichte der Russischen Revolution”, dass die Arbeitermassen uneinheitlich sind, nicht alle sind zu jedem Zeitpunkt kampfbereit, nicht alle nehmen an Streiks teil, die Schwankenden, Müden, Ruhigen sitzen zu Hause oder kehren dorthin wieder zurück, während plötzlich wieder neue Schichten in den Kampf treten. So vollzieht sich eine Art revolutionäre Auslese. Ob am Ende des Tages aus revolutionären Bewegungen tatsächlich ein “neuer Mensch” entsteht, das hängt davon ab, ob die Revolution die Konterrevolution zu besiegen vermag und die materiellen Bedingungen für einen massiven Aufschwung des Kulturlebens schafft. Doch auch nach der siegreichen Revolution beginnt erst ein geduldiger, bewusst zu führender Kampf gegen den ideologischen Schrott der alten Gesellschaft und gegen alle Formen von Unterdruckung und Ungleichheit. Das wird dann der Beginn der wahren Menschheitsgeschichte sein.



Aus der Geschichte

Pariser Kommune
“Niemals hatte Paris eine so vollkommene Ruhe genossen und niemals war es in materieller Hinsicht so wenig gefährdet… Es gab keine Gendarmen, keine Richter und keine einzige Straftat!” Aus: B. Lawrow, Die Pariser Kommune

Spanischer Bürgerkrieg
„Wir halfen alle dem Mann mit dem Proviant, der uns die für uns bestimmte Portion von einem aus 800 Eiern bestehenden Omelett gab. Die Eier verleiteten natürlich zu allen möglichen spanischen Wortspielen, und die Genossinnen sowie der arme Genosse Isidor mit seinem langen, schmalen Hals und den ziemlich bleichen Händen wurden zur Zielscheibe des Spottes. ‚Ich finde’, sagte ein Milizionär nachdenklich, den Mund voll mit Brot und Ei, ‚es wäre revolutionärer, mit der Frotzelei aufzuhören, und die Gleichbehandlung der Frauen auf die Fahne zu schreiben.’
‚Ja, er hat recht. Wir müssen sie wie wirkliche Genossinnen behandeln, und sonst gar nichts.’“

„Das Kaffeehausleben blühte in Barcelona wie eh und je, nur sah man dort mittlerweile manchmal auch Frauen und nicht nur Männer, die bei einem Gläschen Manzanilla-Sherry zusammen hockten. Die Cafes wurden kollektiviert. Über den Tresen hingen Zettel mit der stolzen Aufschrift: ‚Hier wird kein Trinkgeld angenommen.’ Das ist wahr. Beobachtet man, wie ein Kellner den Handbesen eifrig über den glänzenden Schanktisch führt oder mit dem Tablett über dem Kopf wie ein Schiff mit vollen Segeln herbei geeilt kommt, stellt man erleichtert und erfreut fest, dass die alte Pfennigfuchserei und Servilitat ein für allemal tot sind, und ein Mensch seiner Arbeit nachgeht, der Herr über sein Tun ist, je mehr auch die Begriffe Herrschaft und Eigentum in dieser neuen Welt im Schwinden begriffen sind und die Wörter ihren Sinn und ihre Wirkung verloren haben. [Der Kellner] spricht mit der Höflichkeit und der Wurde eines menschlichen Wesens, und dir fällt ein, dass er keinen Boss mehr hat und vermutlich jeden Abend an einer Sitzung des Komitees teilnimmt, und dass dieses Cafe schön und sauber ist, weil er es so mochte.“
Aus: Mary Low/Juan Brea, Rotes Notizbuch

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