Kategorie: Theorie |
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Marxistische Klassiker neu gelesen: "Der Anti-Dühring" von Friedrich Engels |
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Auf Anfrage Wilhelm Liebknechts begann Friedrich Engels 1877 sich für die sozialdemokratische Zeitschrift „Vorwärts“ mit Ideen und Methoden eines Herrn Eugen Dühring zu befassen. Das Erzeugnis dieser Arbeit verhalf dem mittlerweile bedeutungslosen Berliner Philosophen Dühring immerhin zu einer Bekanntheit, die jene seiner eigenen Arbeiten weit überdauert hat; für Lohnabhängige und Jugendliche bietet es eine unentbehrliche marxistische Schulung, die laut Lenin im Bücherregal eines klassenbewussten Arbeiters nicht fehlen sollte: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (kurz: „Anti-Dühring“). | |||
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Dühring genoss Ende der 1870er eine gewisse Popularität in der deutschen Sozialdemokratie und sechzig Jahre später in den „wissenschaftlichen“ Kreisen des Nationalsozialismus. Sein größter Anhänger dürfte jedoch er selbst gewesen sein. Stellte er sich doch seinen LeserInnen vor als „denjenigen, der die Vertretung der Macht der Philosophie in seiner Zeit und für die zunächst absehbare Entfaltung derselben in Anspruch nimmt“. Folgerichtig verspricht er, seinem Publikum „eine endgültige Wahrheit letzter Instanz“ zu liefern. Engels ging Dührings Wahrheiten auf die Spur, und dies war insofern kein geringer Aufwand, als Dühring seine Axiome in beinahe allen Bereichen der Naturwissenschaft, der Philosophie und der Nationalökonomie zur Anwendung brachte. Engels musste ihm also in all diese Gebiete folgen und wir den beiden hinterher. Philosophie In seinem Werk Cursus der Philosophie leitet Dühring ein, dass der hochentwickelte menschliche Geist (sprich: sein Geist) Prinzipien hervorbringt, die „sobald sie einmal gewonnen sind, nicht bloß für das unmittelbar Bekannte und Zugängliche, sondern auch für die uns unbekannte und unzugängliche Welt [gelten]“. Schon hier macht er es Engels allzu einfach, die Dühring’sche Philosophie als eine idealistische zu entlarven. Im Gegensatz zur materialistischen Weltauffassung besteht nämlich die idealistische gerade darin, dass die Vorgänge der Natur und Gesellschaft sich nach Gesetzen richten, die irgendeinem bewussten Geist entwachsen. Genau umgekehrt geht die materialistische Philosophie davon aus, dass das Bewusstsein Erzeugnis der materiellen Welt ist, und dass ferner wissenschaftliche Erkenntnisse auf Naturbeobachtungen zurückgehen, aus denen sich gegebenenfalls allgemeinere Gesetzmäßigkeiten ableiten lassen, die wiederum an anderen Phänomenen einer Prüfung unterworfen, verfeinert oder verworfen werden etc. Kurzum: Dührings versehentlicher Idealismus betrachtet die Welt letztendlich als zu Fleisch gewordenes Bewusstsein, wohingegen der Materialist Engels eben das Gehirn und mit ihm das Bewusstsein als zu Fleisch gewordene Materie auffasst. Doch Dühring will sich nicht geschlagen geben. Er begibt sich auf das Gebiet der Mathematik und wirft ein, dass doch „Zahl und Figur ihr zureichende und von ihr selbst erzeugbare Objekte sind“ und „von der realen Welt unabhängige Geltung“ besitzen. Ein blinder, dafür hinreichend intelligenter, Neandertaler wäre demnach in der Lage gewesen, vollkommen allein und ohne Wahrnehmung der Natur nicht nur mit Vektorräumen, Integralrechung und komplexen Zahlen zu hantieren, sondern zudem all diese Vorgänge und Begriffe selbst zu erarbeiten. Engels hält dagegen, dass selbst die äußerst abstrakte höhere Mathematik ihren Ursprung in der materiellen Welt auffindet. Er verweist auf die zehn Finger des Menschen als Ursache für die Wahl des Dezimalsystems, auf die Notwendigkeit der Messung von Landflächen und Gefäßinhalten, auf Zeitrechung und Mechanik. Auf den Punkt gebracht: Dem Menschen war beispielsweise die Form eines Zylinders lange bekannt (aus etwa der Beobachtung eines Baumstammes), bevor die höhere Mathematik denselben Körper aus der gedanklichen Umdrehung eines Rechteckes erhielt. Zeit und Materie Auf dem Gebiet der Zeit, der Unendlichkeit und der Entstehung des Universums zeigt Dühring ungewollt (und Engels bringt es zu Tage), dass eine nicht dialektische (d.h. auf die Logik der Bewegung fußende) Auffassung auch den vermeintlich materialistischen Philosophen stets in eine Sackgasse führt, aus der er sich am Ende nur durch die Verkündung irgendeiner Gottheit befreien kann. Nach der Auffassung Dührings nämlich existierte die Materie noch vor der Zeit und das in absolut bewegungslosem Zustand. Engels hält zunächst dagegen, dass Materie in absolut starrem Zustand ohnehin undenkbar ist. Er lässt sich aber vorerst darauf ein und will von Dühring wissen, wie Materie aus totaler Verharrung den Übergang in die Bewegung zustande bringen will. Wo sich nichts rührt, kann nichts den ersten Stein ins Rollen bringen. Müsste Dühring antworten, so wäre er entweder gezwungen, seine Auffassung vom Beginn der Zeit zu revidieren, oder er müsste ein über der Welt stehendes Wesen zur Erklärung heranziehen, das den ersten Anstoß gegeben haben muss. In den Kapiteln über Physik, Chemie und Biologie offenbart Engels größtenteils faktische Fehler Dührings, auf die ihn ebenso eine zeitgenössische Mittelschülerin hätte aufmerksam machen können. Moral Noch ungeschickter verhält sich Dühring auf dem Gebiet der Moral und des Rechts. Seiner Ansicht nach stehen moralische Prinzipien „über der Geschichte und über den heutigen Unterschieden der Völkerbeschaffenheit“. Der Marxismus lehrt, dass die Moral stets Erzeugnis der momentan herrschenden Gesellschaftsordnung ist, und weiter noch in Abhängigkeit steht zu den einzelnen Klassen einer Gesellschaft. Zu Lebzeiten von Engels und Dühring kannte Deutschland die Moralauffassung der niedergehenden Feudalaristokratie, die der Bourgeoisie und die des Proletariats, die ihre jeweiligen „sittlichen Anschauungen“ nach Engels „in letzter Instanz aus den praktischen Verhältnissen schöpfen, in denen ihre Klassenlage begründet ist“. Welche der unzähligen Moralvorstellungen der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart nun diejenige ist, die „über der Geschichte und Völkerbeschaffenheit“ steht, bleibt Dühring schuldig zu beantworten. Dialektik In den nachfolgenden Kapiteln arbeitet Engels die Methode der Dialektik aus. Vermittelst zahlreicher Beispiele aus der Natur beweist er seinen LeserInnen und Herrn Dühring, dass man nicht umher kann, die Elemente unsrer Welt als in ständiger Bewegung und Interaktion aufzufassen. Er deckt die Mängel der Metaphysik auf, die die Gegenstände ihrer Untersuchung aus ihrem Zusammenhang und ihrer Bewegung nimmt, sie einzeln und nacheinander betrachtet. Durch diese Methode erhält man zwar widerspruchsfreie, dafür von der Wirklichkeit meilenweit entfernte Ergebnisse. Im Gegensatz zu Dühring („Widerspruch=Widersinn“) nimmt die Dialektik Widersprüche zur Kenntnis, erkennt in ihrer Verwicklung und Auflösung sogar die Grundlage alles Lebendigen, d.h. aller Bewegung. Ein Metaphysiker vom Holze eines Herrn Dühring wäre wohl höchst empört über die Beobachtung, dass Licht sowohl Eigenschaften einer elektromagnetischen Welle besitzt als auch die eines Trägers von Lichtteilchen. Kapitalismus Nicht nur die Natur ist durchdrungen von derartigen Widersprüchen. Dem Marxismus zufolge bildet gerade der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit den Keim einer neuen, entwickelteren Gesellschaftsordnung; der Widerspruch nämlich, dass unverhältnismäßig viele Menschen zugunsten des Profites von unverhältnismäßig wenigen arbeiten müssen, oder, um Engels’ Worte zu gebrauchen, „die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung“. Engels skizziert anschaulich den geschichtlichen Werdegang des Produktes hin zur Ware. Während die im Mittelalter angefertigten handwerklichen Erzeugnisse vornehmlich für den Eigenbedarf bestimmte Gebrauchsgegenstände waren, brachte der Kapitalismus erstmals das Phänomen hervor, dass die in maschineller Massenanfertigung hergestellten Produkte auf einmal nicht mehr Eigentum der ErzeugerInnen sind, sondern vom Kapitalisten angeeignet werden, der die Waren in guter Hoffnung dem freien Spiel des Marktes aussetzt. Gerade darin liegt ein weiterer grundlegender Widerspruch des gegenwärtigen Wirtschaftssystems: in der perfektionierten Organisation der fabrikmäßigen Produktion einerseits und der totalen Anarchie in der gesamtgesellschaftlichen Produktion und Verteilung auf der anderen Seite. Auf diesen Gegensatz führt der Marxismus die offensichtliche Krisenanfälligkeit des Kapitalismus zurück. Weiter unten legt Engels dar, wie die ersten industriellen Maschinen zunächst das Handwerk beseitigten, und wie in weiterer Folge entwickeltere Maschinen wiederum die ersten Maschinenarbeiter überflüssig machten. Die durch den technologischen Fortschritt ersetzten und nun unbenötigten Arbeitskräfte kommen den Kapitalisten insofern entgegen, als sich dieses Arbeitslosenheer („industrielle Reservearmee“) formidabel als Druckmittel für die Niederhaltung der Löhne und Arbeitsstandards einsetzen lässt. Dadurch nämlich, dass von nun an jeder Maschinenarbeiter ohne weiteres ersetzt werden konnte, wenn sie/er sich mit ihren/seinen Arbeitsverhältnissen unzufrieden zeigte, gerieten die Lohnabhängigen in die Knechtschaft ihrer eigenen Erzeugnisse – der Ware. Dermaßen mächtig ist die Ware geworden, dass sie nicht nur ihre Produzenten in Geiselhaft nimmt, sondern nicht minder ihre Aneigner knechtet – die Kapitalisten, die in ständigem Konkurrenzkampf, „bei Strafe ihres Untergangs“, auf dem neuesten technologischen Stand zu bleiben, gezwungen sind, im Preiskampf bestehen zu müssen. Sozialismus Bei aller wissenschaftlichen Kritik am Kapitalismus anerkennt und lobt Engels immerhin die Fortentwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die es erstmals in der Geschichte möglich machte, unter der Vorausbedingung einer bedürfnis- (und nicht profit-) orientierten Planung und Verteilung die Grundbedürfnisse aller Menschen weltweit zu befriedigen. Gerade mit dieser historischen Aufgabe der Überführung der Produktionsmittel in den Besitz und die Verwaltung der Gesellschaft kann dem Marxismus zufolge nur das moderne Proletariat betraut werden. Die gesellschaftliche Produktion einmal dem Profitstreben entzogen und den allgemeineren menschlichen Bedürfnissen unterworfen, heben sich auf mittlere Frist die Klassengegensätze auf und mit ihnen die Existenzberechtigung des Staates an sich. Die Staatsmacht würde von ihrem derzeitigen Zweck als Organ der Herrschaft über Menschen in die schlichte Verwaltung von Dingen übergehen. Engels: „Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche“. Und weiter: „Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“. Zum Weiterlesen: Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring“). 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