Kategorie: Theorie

Über Lenins "Staat und Revolution"

Cover StaatundRevolutionSich mit Lenins Schrift "Staat und Revolution" aus dem Jahre 1917 zu beschäftigen, heißt gleichzeitig, sich bewusst zu machen, was das "Endziel" der revolutionären Arbeiterbewegung und des Marxismus ist.


Lenin schreibt: "Als Endziel setzen wir uns die Abschaffung des Staates, d.h. jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt. ... in unserem Streben zum Sozialismus sind wir überzeugt, daß er in den Kommunismus hinüberwachsen wird und daß im Zusammenhang damit jede Notwendigkeit der Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt, der Unterordnung eines Menschen unter den anderen, eines Teils der Bevölkerung unter den anderen, verschwinden wird, denn die Menschen werden sich daran gewöhnen, die elementaren Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne Gewalt und ohne Unterdrückung einzuhalten" (LW 25, S.469f).

In einer Situation, da die sozialdemokratische II. Internationale durch die Zustimmung der Opportunisten und Sozialchauvinisten innerhalb der Arbeiterbewegung zum Ersten Weltkrieg gescheitert ist, da die Februarrevolution von 1917 das Zar-Regime weggefegt hat, sie aber durch die prinzipienlose Taktiererei der Menschewiki und ihrer Bundesgenossen mit den Vertretern des Kapitals und des Großgrundbesitzes zu scheitern droht, da also - kurz gesprochen - ihre Errungenschaften nur durch eine sozialistische Revolution bewahrt werden können, also durch die Weiterführung der bürgerlichen Revolution vom Februar in eine proletarische, genau da ist es für Lenin allerhöchste Zeit, wieder an die "Endabsicht" der revolutionären Arbeiterbewegung und des Marxismus zu erinnern. Und genau um dieser historischen Situation willen, die die sozialistische Revolution erfordert, tritt er all den reformistischen und sonstigen Strömungen in der Arbeiterbewegung entgegen, die schon einmal den genannten "Endzweck" der Arbeiterbewegung und des Marxismus verrieten, als sie dem gegenseitigen Abschlachten der Völker im Namen des Imperialismus ihre Zustimmung nicht verweigerten. Und die auch nun - in den Monaten vor dem Oktober des Jahres 1917 - dabei sind, die historische Chance nach dem Sturz des Zarismus zu vergeigen. Welche Chance? Die, die Hegemonie des Imperialismus an seiner Schwachstelle - dem im Vergleich zu den kapitalistischen Metropolen unterentwickelten Russland - aufzubrechen. Wodurch? Durch die Errichtung einer sozialistischen Ordnung.

Wenn Lenin in "Staat und Revolution" die Lehren von Marx und Engels bezüglich des Staates zusammenfasst und sie aus dem Schutt des Sozialdemokratismus freigräbt, dann geht es ihm darum, in der historischen Situation des Jahres 1917 den konsequenten Revolutionarismus von Marx und Engels in der Hauptfrage der sozialen Revolution wieder an den Tag zu bringen, an ihn anzuknüpfen und ihn für die anstehenden politischen Aufgaben fruchtbar zu machen. Und welches ist diese Hauptfrage? Es ist die Frage nach dem Staat. Es ist die Überzeugung, dass  der "Endzweck" der revolutionären Arbeiterbewegung nur realisiert werden kann, wenn "jede Gewaltanwendung" gegen die Menschen durch den Staat verschwindet, kurz: wenn der Staat "abstirbt",

Die Frage nach dem Staat ist deswegen die Hauptfrage der sozialen Revolution - im Übrigen aller sozialen Revolution -  , weil die Menschen nur dann wirklich frei sind, wenn die Institution des Staates "abgestorben" ist. Wenn, wie sich Marx ausdrückt, die Menschen "mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben" (MEW 23, S.92) und keinerlei staatliche Institutionen des Zwangs mehr zwischen sie und die gemeinschaftliche Regulation des Produktionsprozesses und ihres Verhältnisses zu den Naturkräften eingeschaltet sind.

Kurz und gut: Es geht in der sozialen Revolution um nichts Geringeres als um die konsequente Verwirklichung der menschlichen Freiheit. Das ist letztlich der "Endzweck" der revolutionären Arbeiterbewegung und des Marxismus.

Was ist denn aber nun genauer unter dem Staat zu verstehen und welche Funktion hat er eigentlich? Lenin greift, um dies zu beantworten, auf Engels zurück. Der schreibt: Der Staat "ist ... ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einem unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit ökonomischen Interessen, nicht sie und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der 'Ordnung' halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat" (MEW 21, S.165). Lenin fasst zusammen: "Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wann und inwiefern die Klassengegensätze nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind" (LW 25, S.399).

Mit anderen Worten: Der Staat steht nicht über den Klassengegensätzen, er entsteht aus den Klassengegensätzen und hat seine Funktion darin, diese Klassengegensätze zu regulieren.

Zu welchem Zweck? Um die jeweils herrschende Produktionsweise möglichst störungsfrei am Laufen zu halten. Zu wessen Gunsten? Zu Gunsten derjenigen, die die Nutznießer der herrschenden Produktionsweise sind. Wer sind - um auf heute zu kommen - die Nutznießer der jetzt herrschenden Produktionsweise, des Kapitalismus? Das sind die Privateigentümer an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln und den relevanten Finanztiteln. Welchen Nutzen haben sie? Den, dass sie auf den gesellschaftlich produzierten Mehrwert in ihrem Sinne zugreifen und ihn z.B. in nicht unerheblichem Maße in die eigenen Taschen fließen lassen können. Wie gelingt ihnen das? Dadurch dass sie die gesamte gesellschaftliche Wertschöpfung der Profitproduktion unterwerfen. Welche ökonomischen Voraussetzungen liegen dem zugrunde? Das eben schon genannte Privateigentum an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln und den relevanten Finanztiteln und - ganz wesentlich! - die damit zusammenhängende Verwandlung des weitaus bedeutendsten Teils der gesellschaftlichen Arbeit in Lohnarbeit. Worauf beruht also die Herrschaft der Nutznießer der kapitalistischen Produktionsweise? Auf dem Privateigentum und der Lohnarbeit. Worin besteht nun näherhin die Funktion des Staates? Darin, die Macht des Privateigentums über die Menschen zu sichern und das Regime der Lohnarbeit zu gewährleisten. Wie aber übt die Klasse der Privateigentümer ihre Macht aus? Selbstverständlich erstens durch das staatliche Machtmonopol, also durch die bewaffneten Formationen des Militärs und der Polizei. Daneben aber auch durch die dazugehörigen Zuchtmittel wie die Gefängnisse, die Gerichtsbarkeit, die psychiatrischen Anstalten usw. Zweitens durch den von diesen Formationen bzw. Zuchtmitteln gestützten bürokratischen Apparat. Drittens - auf diesen harten Kernbestand der Machtausübung aufbauend -  durch die verschiedenen ideologischen  Staatsapparate wie die Kirchen, die Schulen und die Universitäten, die Presse, allgemein die Medien  usw. usf.

Was folgt daraus? Es folgt daraus, dass die soziale Revolution - hier konkret: das radikale Brechen mit der kapitalistischen Produktionsweise - nur dann erfolgreich durchgeführt werden kann, wenn sie nach dem Umsturz sofort damit beginnt, der Macht all dieser Formationen und Apparate ein Ende zu bereiten. Mit den Worten Lenins: "Wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine 'über der Gesellschaft stehende und sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht' ist, so ist es klar, daß die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen  Apparats der Staatsgewalt, in dem sich diese 'Entfremdung' verkörpert" (LW 25, S.400).

Genau das ist "des Pudels Kern", genau das ist die Erkenntnis, um die sich die Reformisten der verschiedensten Schattierungen immer herumdrücken, die sie nicht wahrhaben wollen bzw. die sie sogar zutiefst ablehnen und verabscheuen. Und welches ist die Erkenntnis, die ihnen Lenin hier in die Augen reibt? Es ist die Erkenntnis bzw. die schon von der Pariser Kommune 1871 gemachte Erfahrung, dass - wie Marx sagt - "die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann" (MEW 18, S.96  Fettdruck durch Lenin LW 25, S.427).

Die Vorstellung, man könne die "Staatsmaschine" für die "eigenen Zwecke" "in Bewegung setzen", ist die Überzeugung aller Reformisten von Bernstein, Ebert, Scheidemann und Noske bis heute, bis zu Lafontaine, Wagenknecht, Ramelow und vielen anderen.

Die Einsicht, dass diese Vorstellung  den "Enzweck" der sozialen Revolution nicht nur auf die lange Bank schiebt, sondern auf den Sanktnimmerleinstag  und sie letztlich verrät, ist seit je das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen konsequenten Marxisten und Reformisten.

Wie steht es dann aber mit der Demokratie? Sind solche konsequenten Marxisten wie Lenin Gegner der Demokratie, also demokratiefeindlich? Und sprechen sie nicht gar von der "Diktatur des Proletariats", also von einem gänzlich anderen als dem, was man sich unter Demokratie vorstellen mag?

Nun, das Wort Demokratie bedeutet in seinem sprachlichen Kern Macht des Volkes. Hat aber das Volk in den Ländern, die sich die Staatsform der Demokratie gegeben haben, tatsächlich die Macht? Offensichtlich nicht. Wer hat dort die Macht? Die Privateigentümer an den Produktionsmitteln und den relevanten Finanztiteln. In Ihrem Auftrag wird in der Staatsform der Demokratie die Macht ausgeübt. Bedeutet das, dass in den Ländern, in denen Demokratie herrscht, zwar eine Staatsform besteht, die sich als Demokratie bezeichnet und die sich vielleicht sogar als solche versteht, die aber gar keine Demokratie im eigentlichen Sinne des Wortes ist? Ja! Das bedeutet es. Der Irrtum besteht  also darin, zu unterstellen, dass dann, wenn die Staatsform eine Demokratie ist, auch das Volk herrscht. Aber auch dann, wenn die Staatsform eine Demokratie ist, besteht immer noch die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit, kurz: besteht Klassenherrschaft, nämlich die Herrschaft des kapitalistischen Privateigentums in seinen verschiedenen Formen. Und in gar keinem Fall ist die Lohnarbeit als wichtigste Arbeitsform aufgehoben. Immer noch gilt die menschliche Arbeitskraft als Ware usw. usf.

Mit anderen Worten: Auch wenn die Staatsform eine Demokratie ist, bleiben die wichtigsten Produktivkräfte, also der Mensch und die Natur, dem Diktat der Profitproduktion unterworfen.

Daraus folgt: Die Staatsform der Demokratie kann nicht das "Endziel" der sozialen Revolution sein.

Sind also revolutionäre Arbeiterbewegung und Marxismus nicht nun doch ausgesprochen demokratiefeindlich? Nein! Ganz im Gegenteil! Aber warum sind sie es nicht, da sie doch die Demokratie als Staatsform ablehnen? Sie sind es nicht, weil sie jede Art von "Staatsmaschine" ablehnen, eine jede Macht, die über den Menschen steht und sie im Namen einer herrschenden Klasse regiert. Sie sind es nicht, weil sie wollen, dass das Volk allein die Macht ausübt. Sie sind es also nicht, weil sie zutiefst demokratisch sind. Und genau deswegen sind sie gegen die Demokratie als Staatsform, genauer: gegen die Demokratie als Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft.

Unter dem Deckmantel des hehren Ziels der Demokratie für die Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft einzutreten, ist ja nun auch etwas ganz anderes, als für die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft zu kämpfen. Daher agieren die Reformisten aller Schattierungen de facto für den Erhalt der bürgerlichen Gesellschaft und für die "Vervollkommnung" (Marx) der "Staatsmaschine". Die revolutionäre Arbeiterbewegung und der Marxismus aber  setzen sich mit allem Nachdruck für die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft und deswegen für das Zerbrechen einer jeden Form des Staates ein, also auch für das Zerbrechen der Demokratie, sofern sie als Staatsform verstanden wird.

Aber um die Macht des Volkes zu verwirklichen und um als Voraussetzung dazu den Staat zu zerbrechen, bedarf es der "Diktatur" der Mehrheit (also der Werktätigen) über die Minderheit (die Bourgeoisie). Marx, Engels, Lenin und alle konsequenten Marxisten nennen diese Übergangsperiode die "Diktatur des Proletariats". Lenin ist da ganz eindeutig: "Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt" (LW 25, S.429). "Der Opportunismus macht in der Anerkennung des Klassenkampfes gerade vor der Hauptsache halt, vor der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus, vor der Periode des Sturzes der Bourgeoisie und ihrer völligen Vernichtung. In Wirklichkeit ist diese Periode unvermeidlich eine Periode erbitterten Klassenkampfes, unerhört scharfer Formen dieses Kampfes, und folglich muß auch der Staat dieser Periode unvermeidlich auf neue Art demokratisch (für die Proletarier und überhaupt für die Besitzlosen) und auf neue Art diktatorisch (gegen die Bourgeoisie) sein" (LW 25, S.425).

Zweifellos begegnet man hier jener kritischen Masse, an der sich etwa Reformismus und Anarchismus (und welche anderen sogenannten linken Positionen auch immer) vom konsequenten Marxismus scheiden. Wir sind somit auf den wesentlichen Punkt gestoßen. Um ihm mit einer Frage näherzukommen: Fordert uns der Marxismus letztlich dazu auf, dass wir dann, wenn wir die Demokratie verwirklichen wollen, also dann, wenn wir wollen, dass das Volk endlich selbst im eigenen Namen die Macht ausübt, die Konsequenz tragen müssen, dass um der Verwirklichung der Demokratie willen in der Übergangszeit dazu eine "Diktatur" notwendig ist? Ja, eindeutig! Genau dazu, diese Konsequenz einzusehen und für sie praktisch-politisch einzustehen, fordert uns der Marxismus auf. Deswegen sind ja auch allein diejenigen konsequente Marxisten, die sich dieser Konsequenz stellen. Und wozu muss diese Konsequenz eingesehen und politisch-praktisch umgesetzt werden? Um die Macht des Privateigentums in seinen verschiedenen Formen zu brechen und die tiefgehende Inhumanität zu beenden, die die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft hin zum Kapitalismus hervorgebracht hat: nämlich die Verwandlung des Menschen bzw. seiner Arbeitskraft in eine "Ware", sein Gebrauch als "Mittel" (Kant) für andere Interessen, sprich für die Profitproduktion, die Verweigerung seiner Würde als freies Wesen aus eigenem Recht usw. usf.

Aber ist das nicht ein eklatanter Widerspruch, um der menschlichen Würde willen, um des Menschen als eines "Zwecks an sich selbst" (Kant) und damit seiner Freiheit und Selbstbestimmung willen einer "Diktatur" das Wort zu reden und sei es auch der "Diktatur des Proletariats"?  Selbstverständlich! Aber darum, diesen Widerspruch lösen zu müssen, kommt man nicht herum, wenn man den Missbrauch des Menschen, auf dem die kapitalistische Produktionsweise beruht, beenden will. Warum? Weil die Klasse, die aus dem Kapitalismus ihren Nutzen zieht, mit Zähnen und Klauen darum kämpft, dass dieser Missbrauch erhalten bleibt. Wieso? Weil sie davon lebt.

Womit denn nun herauskommt, worin die "Diktatur des Proletariats" besteht. Nämlich darin, dass die Vielen, die zum Vorteil des Privateigentums missbraucht (ausgebeutet und vernutzt) werden, diesen Missbrauch verweigern und alle ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel dazu benutzen, ihn zu beenden. Wie? Indem sie die gesellschaftlichen Produktionsmittel und den Boden in Gemeineigentum überführen, den Kapitalisten und Großgrundbesitzern dadurch ihre Einkommensquellen entziehen und mit dem Regime der Lohnarbeit Schluss machen. Wozu sie selbstverständlich die Macht der im Dienste des Privateigentums stehenden "Staatsmaschine" "zerbrechen" müssen.

Indem die Vielen den einstigen Privateigentümern diktieren, dass sie von nun an ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen wollen, indem sie diesen diktieren, dass sie von jetzt ab nichts mehr zu sagen haben bzw. dass es ihnen unmöglich gemacht ist, ihrem Interesse nachzukommen, andere Menschen für sich auszubeuten, üben die Vielen, auf deren Arbeit die menschliche Gesellschaft stets beruhte, in der Tat eine "Diktatur" aus, die "Diktatur des Proletariats". Wobei diese "Diktatur" ja nun ganz offensichtlich zwei Gesichter hat, denn sie ist zu gleicher Zeit "Diktatur" und Demokratie. "Diktatur" - wie gezeigt - gegenüber den ehemaligen Ausbeutern und Demokratie für die "Proletarier und überhaupt für die Besitzlosen", weil diese nun gemeinsam die Produktion ihres Lebens in die Hand nehmen.

Und selbstverständlich brauchen die Werktätigen, um ihre gemeinsame Sache zu betreiben, "Vertretungskörperschaften", deren Mitglieder sie turnusmäßig wählen bzw. auch abwählen und die ihnen verantwortlich sind. Sie brauchen Räte (russisch: Sowjets), die die notwendigen politischen und ökonomischen Maßnahmen nicht nur beratschlagen, sondern auch realisieren. "Ohne Vertretungskörperschaften", betont Lenin daher, "können wir uns eine Demokratie nicht denken, auch die proletarische Demokratie nicht..." (LW 25, S.437). Mit anderen Worten: Ohne dass die Menschen in ihren Betrieben, in ihrem Dorf und ihrer Stadt ihre gemeinsamen Angelegenheiten beratschlagen und auch die Macht haben, ihre Beratungsergebnisse in die Tat umzusetzen, kann man sich keine Demokratie denken und eine "proletarische Demokratie" schon einmal gar nicht. Ist das erreicht, dann beginnt der Staat als eine über der Gesellschaft stehende Machtformation in der Tat "abzusterben" (Engels). Wieso? Weil er dann, wenn er wie in der Rätedemokratie "Repräsentant der ganzen Gesellschaft"  ist, "überflüssig" ( siehe dazu Engels in MEW 20, S.261f) wird. Was aber voraussetzt, dass das "Proletariat" zuvor die "Staatsgewalt" ergriffen und die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum" "verwandelt" hat (ebd.).

Um diese Aussage von Engels etwas zu erweitern: Dann, wenn die gesellschaftlichen Produktionsmittel und der Boden in Gemeineigentum verwandelt worden sind, wenn es keine andere Erwerbsquelle mehr gibt als die eigene Arbeit, dann also, wenn die Menschen "mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben" (Marx), "sobald" es "also keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt", dann gibt es keine Notwendigkeit für eine "besondre Repressionsgewalt" (siehe bei Engels MEW 20, S.261f) mehr und der Staat "stirbt ab". Warum? Weil dann Demokratie herrscht und das Volk selbst seine Angelegenheiten berät und seine gefassten Beschlüsse direkt umsetzt.

Der Marxismus hat also sehr wohl eine Vorstellung von Demokratie. Aber er denkt sich dabei etwas ganz anderes als die Ideologen der bürgerlichen Gesellschaft. Er denkt nicht an die parlamentarische bürgerliche Demokratie, sondern an Rätedemokratie. Und er denkt, dass das Ziel der Demokratie, also die Macht des Volkes, nur realisiert werden kann, wenn der Staat "abstirbt". Aber er weiß, dass dazu die "Diktatur des Proletariats" als Übergangsperiode unumgänglich ist.

Mit anderen Worten: Damit der Staat als besondere Repressionsgewalt "absterben" kann, muss er zuvörderst als Repressionsorgan im Dienste der kapitalistischen Produktionsweise "aufgehoben" werden. Er kann also nur "absterben", wenn er zuvor als das spezifische Unterdrückungsorgan der bürgerlichen Gesellschaft vernichtet (= "aufgehoben") wurde.

Für Marx, Engels und Lenin hat die Pariser Kommune 1871 vorgemacht, wie das geht, also wie der Staat der bürgerlichen Gesellschaft "aufgehoben" werden kann. Marx schreibt: "Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar.... Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller anderen Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts, musste der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. Die erworbnen Anrechte und die Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger verschwanden mit diesen Würdenträgern selbst ... Das stehende Heer und die Polizei, die Werkzeuge der materiellen Macht der alten Regierung einmal beseitigt, ging die Kommune sofort darauf aus, das geistliche Unterdrückungswerkzeug, die Pfaffenmacht, zu brechen (durch die konsequente Trennung von Staat und Kirche! F.V.) ... Die richterlichen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängigkeit, ... sie sollten ... fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein" (MEW 17, S.336ff). Man sieht: Das ist in der Tat die Vernichtung der bürgerlichen "Staatsmaschine". Und das ist in der Tat auch die "Diktatur des Proletariats". Und anders als durch diese "Diktatur" kann die bürgerliche "Staatsmaschine" nicht vernichtet werden. Für Marx, Engels und Lenin war das die Lehre, die die Pariser Kommune der revolutionären Arbeiterbewegung erteilte. Sie hielten sich an sie mit aller Konsequenz. Deswegen erweiterten sie sie durch ihre These, dass die Vernichtung der bürgerlichen "Staatsmaschine" zwar genau so geschehen muss, wie es die Pariser Kommunarden vormachten, dass der Staat aber nur dann gänzlich "absterben" kann, wenn über die politischen Maßnahmen hinaus die Macht des Privateigentums an den Produktionsmitteln und Finanztiteln gebrochen wird. Wie? Durch den Aufbau einer sozialistischen Ordnung auf der Grundlage des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln und auch am Boden. Nur so könne das "Endziel" der Arbeiterbewegung realisiert werden.

Indem Lenin in "Staat und Revolution" dieses "Endziel" aus dem Schutt des Sozialdemokratismus freigräbt, lässt er uns das wieder sehen, was das Herz des Marxismus ist. Wir sollten das niemals wieder vergessen, auch wenn Opportunismus und Reformismus schon längst wieder die Macht in der Arbeiterbewegung ergriffen und das "Endziel" verraten haben.

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Verlag AdV, 150 Seiten
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ISBN: 978-3-902988-01-0

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