Dass nationale Bestrebungen in Zeiten der Krise an Zustimmung gewinnen, ist kein Zufall. Seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 gibt es brutale Attacken auf den Lebensstandard durch Sparmaßnahmen. Dabei ist offen ersichtlich, dass nicht alle die Auswirkungen davon im gleichen Maße tragen müssen. Die Ungleichheit erreicht weltweit ungesehene Ausmaße mit steigenden Profiten auf der einen Seite und wachsenden Schulden, Arbeitslosigkeit und Armut auf der anderen. Bankenrettungen durch den Staat wälzen private Verluste auf die Bevölkerung ab; in Spanien gab es bereits tausende Wohnungsräumungen, um Abschreibungen im Immobiliensektor zu verhindern.
Gleichzeitig erschüttern Skandale das Establishment. Die Gier und die Korruption, die sich durch alle Ebenen der herrschenden Institutionen zieht, offenbart sich und zieht die Wut derjenigen auf sich, deren Leben vor dem Profitinteresse des Kapitals und seinen PolitikerInnen weichen müssen.
Die wachsende Zustimmung für nationale Unabhängigkeit ist ein Ausdruck für den Wunsch nach Veränderung, losgelöst von den korrupten Eliten und ihren Schulden in Madrid und London. Die Financial Times erklärten in einem Artikel mit dem Titel „Arbeiterklasse zentral für Gewinn von Yes“, also für die Unabhängigkeit: „Umfragedaten legen nahe, dass die Yes-Kampagne, angeführt von der Scottish National Party, von einer Mehrheit der SchottInnen mit niedrigerem Einkommen unterstützt wird“. Das zeigt, dass der Nationalismus nicht zuletzt eine verzerrte Widerspiegelung des wachsenden Klassenbewusstseins gegen die Sparpolitik der Herrschenden ist.
Dass Nationalismen als Antwort auf die Krise gesehen werden, ist zu großem Teil der verräterischen Politik der Linksparteien zuzuschreiben. In einer Allianz der Labour Party mit den konservativen Tories und Liberalen bestanden die Argumente der „Better Together“-Kampagne in Schottland in erster Linie aus wirtschaftlichen Drohungen, die nur als weiteres Mittel der Austeritätsparteien gegen die Bevölkerung Britanniens gesehen werden konnten. Schottland, das unter der neoliberalen Politik Thatchers ab den 1970er Jahren besonders zu leiden hatte, galt lange als Hochburg der Labour Party. Das Vertrauen in sie wurde doch kontinuierlich missbraucht – das Mittragen von „Better Together“ mit den Konservativen war nur das Tüpfelchen auf dem i.
In Spanien gibt es, im Gegensatz zu Schottland, eine lange Tradition des Kampfes für nationale Unabhängigkeit verschiedener Regionen. Die Ablehnung derselben gehört wiederum zur konsequenten Politik der 1978 nach dem Franco-Faschismus gegründeten spanischen Monarchie. Die ungewählten Verfassungsrichter Spaniens erklärten das geplante Referendum für „verfassungswidrig“. Dies ist nach den Massenprotesten gegen die Monarchie, die im Frühjahr dieses Jahres stattfanden und mit der Ernennung des neuen Königs Felipe VI. beantwortet wurden, ein weiterer Schlag gegen demokratische Forderungen aus der Bevölkerung.
Dass die Hoffnungen auf soziale Besserungen, durch Unabhängigkeit Schottlands oder Kataloniens erfüllt werden können, ist im Kontext der kapitalistischen Krise allerdings nicht wahrscheinlich. Die Zwänge des kapitalistischen Systems werden auch von den Parteien für die Unabhängigkeit in keiner Weise in Frage gestellt. Die Scottish National Party steht neben sozialreformerischer Rhetorik für eine Mitgliedschaft in der NATO und in der EU, die Beibehaltung der Monarchie, plante für die Ankurbelung der Wirtschaft eine Senkung der Unternehmenssteuern und sprach sich für die Beibehaltung des britischen Pfunds aus. „Unabhängigkeit“ unter diesen Bedingungen steht im besten Fall für einen Gleichschritt mit der Kürzungspolitik der Regierung in London. Auch die Demagogen der Convergencia i Unio (CiU) repräsentieren in erster Linie die regionale Bourgeoisie und GroßkapitalistInnen in Katalonien und haben sich in den letzten 30 Jahren als willige Unterstützer der Austeritätspolitik der spanischen Regierungen erwiesen. Das Urteil des Verfassungsgerichts kann nun mit Erleichterung akzeptiert werden, ohne das Gesicht zu verlieren. Währenddessen akzeptierte die Republikanische Linkspartei Katalans (ERC) Repression und Sparpolitik im Austausch für das Referendum; zog sich so auf die nationale Frage zurück und opferte dafür linke Inhalte.
Die soziale Frage muss ins Zentrum der Debatten rund um nationale Selbstbestimmung gerückt werden. In der heutigen Situation ist die Verteidigung sozialer Errungenschaften nur durch den entschlossenen Kampf der Arbeiterklasse möglich. Akzeptiert man die kapitalistische Logik, bleiben Argumente für den Erhalt und die Verbesserung des Lebensstandards der Massen moralische Appelle.
Die Einheit der Arbeiterklasse, über Nationalitäten hinweg, gegenüber der Offensive des Kapitals ist daher keine leere Phrase, sondern eine Notwendigkeit. Als MarxistInnen basieren wir unsere Forderungen auf der objektiven Situation. Das bedeutet, dass wir zwar das demokratische Recht auf Selbstbestimmung anerkennen und auch fordern, aber nicht die Illusionen schüren, die mit einem scheinbar unabhängigen Staat verknüpft sind. Gleichberechtigung wird es in einem unabhängigen aber kapitalistischen Katalonien oder Schottland unter Führung bürgerlicher Parteien nicht geben. Die Bolschewiki verteidigten das Recht auf nationale Selbstbestimmung, in dem die Einheit der Arbeiterklasse nur durch einen gemeinsamen Kampf für gleiche Rechte hergestellt werden konnte. Sie vertraten nie die Ansicht, dass bürgerliche, unabhängige Staaten ein Weg zum Sozialismus seien, sondern traten für freiwillige Zusammenschlüsse in einer sozialistischen Föderation ein.
„Die kommunistische Partei, […] darf entsprechend ihrer grundlegenden Aufgabe, die bürgerliche Demokratie zu bekämpfen und die Verlogenheit und Heuchelei dieser Demokratie zu entlarven, auch in der nationalen Frage keine abstrakten und keine formalen Prinzipien in den Vordergrund rücken, sondern muß ausgehen: erstens von einer genauen Einschätzung der konkreten historischen und vor allem der ökonomischen Situation; zweitens von einer klaren Herauslösung der Interessen der unterdrückten Klassen, der Werktätigen, der Ausgebeuteten, aus dem allgemeinen Begriff der Volksinteressen schlechthin, der die Interessen der herrschenden Klasse bedeutet [...]“ (Lenin, 1920)
Die mit der Unabhängigkeit Kataloniens und Schottlands verbundenen sozialen Forderungen sind in einem neuen Nationalstaat nicht lösbar. Gerade die Fragen von Wettbewerbsfähigkeit, EU-Auflagen, finanzieller Abhängigkeit usw. werden sich für neue, kleine Staaten noch verschärfter stellen. Das Referendum hat Schottland politisch wiederbelebt. Dieser Umstand ist positiv aufzugreifen; darf jedoch nicht dazu führen, linke Analysen zugunsten eines kleinbürgerlichen Nationalismus zu opfern. Die Krisenursachen und die vermehrten Angriffe auf demokratische Rechte in den letzten Jahren liegen im kapitalistischen System selbst begründet – echte Alternativen müssen mit diesem System brechen. Wir setzen uns für eine sozialistische Föderation auf Basis einer demokratischen Planwirtschaft mit Gleichberechtigung aller Minderheiten und Nationalitäten ein.
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