Kategorie: Theorie |
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Pikettys Kapital: Neuer Schwung für Kapitalismuskritik? |
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Thomas Piketty ist in aller Munde. Sein Buch über die langfristige Evolution von Ungleichheit im Kapitalismus findet sogar in Boulevardmedien Anklang. Das US-Establishment fürchtet den Hype und bezeichnet den französischen Ökonomen als neuen Marx. Aber wie radikal sind Pikettys Thesen denn wirklich? Ein Artikel veröffentlicht in "Standpunkte 12/2014". |
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Die Beschäftigung mit Verteilungsfragen ist in der Ökonomie dieser Tage en vogue. Vor allem seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise haben Diskussionen um die Verteilung ökonomischer Ressourcen spürbar an Fahrtwind gewonnen. „Lange Zeit wurde Ungleichheit ignoriert, jetzt ist sie im Zentrum wirtschaftspolitischer Diskussion rund um den Globus“, kommentierte der Doyen der Ungleichheitsforschung Tony Atkinson kürzlich [1]. Sei es in Mainstream-Journals oder in internationalen Organisationen [2], der Verteilungsdiskurs hat auch in neoklassisch dominierten Gefilden eingeschlagen. Es überrascht nicht, dass Verteilungsfragen gerade in Krisenzeiten erhöhte Beachtung finden, wo doch die wirtschaftswissenschaftliche Zunft auf der Suche nach Auslösern, Auswegen und künftiger Vermeidung von Krisen ist. Systemische Widersprüche werden dabei im Allgemeinen nicht als Ursache ausgemacht, eher werden oberflächliche Symptome wie die starke Einkommens- und Vermögenskonzentration isoliert betrachtet. Dementsprechend zielen die wirtschaftspolitischen Ableitungen des progressiveren Teils der Mainstream-Ökonomie lediglich auf Symptombekämpfung und blenden die Notwendigkeit tiefgreifender struktureller Veränderungen aus, während marktgläubige ÖkonomInnen gleich auf beides verzichten. Der Zeitpunkt ist also günstig, in dem Thomas Piketty seine Verteilungsbibel „Capital in the Twenty-First Century“ veröffentlicht hat. Denn in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität gab es für neoklassische ÖkonomInnen kaum einen Grund, sich mit der Verteilungsproblematik auseinanderzusetzen. Im Gegenteil, die Einkommensverteilung folgt schlicht dem Grenzertrag der Produktionsfaktoren [3] und Ungleichheit wird als temporäres Übel wirtschaftlicher Entwicklung [4] gesehen. Vor dem Hintergrund der Krise hat Pikettys Buch zweifelsfrei deutlich mehr Aufmerksamkeit erregt als es wahrscheinlich noch vor 10 Jahren der Fall gewesen wäre. Das große Interesse belegen die Huldigungen namhafter Wirtschaftswissenschafter [5] aber auch zahlreiche kritische Rezensionen [6]. Bevor ich näher auf den Inhalt des Buches eingehe, möchte ich den großen Verdienst Pikettys aus meiner Sicht herausstreichen: der französische Ökonom beschränkt seine Analyse nicht auf empirische Evidenz, sondern versucht die der Ungleichheit zugrunde liegenden Bewegungsgesetze des Kapitalismus zu erörtern. Damit legt er auch den Grundstein für weiterführende Debatten über die systemischen Wurzeln von makroökonomischer Instabilität. Ein Begleitprodukt von Pikettys Ausarbeitungen ist die wichtige Frage, ob eine stabile Entwicklung des Kapitalismus langfristig möglich ist. Oder wie es Tom Palley kürzlich formulierte, „[the] book has potential to unintentionally trigger debate over so-called ‚free market’ capitalism.“
Piketty war interessierten Kreisen schon vor seiner jüngsten Publikation für seine sorgfältige und gewissenhafte Sammlung von Einkommens- und Vermögensdaten bekannt [7]. Die empirischen Belege ökonomischer Ungleichheit in mehreren Ländern (untersucht werden u.a. Frankreich, Großbritannien, Deutschland, USA und Kanada) sind das Resultat seiner jahrelangen Datenrecherche. Bemerkenswert ist jedenfalls die schier unglaubliche Zeitspanne dieser Daten, die bis zum Auftakt des 18. Jahrhunderts zurückreichen. Den Untersuchungsgegenstand seiner Ausführungen nennt Piketty Kapital. Hier verlässt er bereits die in Lehrbüchern gängige Terminologie, wonach Kapital als Produktionsfaktor gilt, sondern subsumiert darunter jeglichen mess- und tauschbaren materiellen Reichtum [8]. Sein Augenmerk liegt dabei auf dem Verhältnis zwischen Kapital und dem gesamten Einkommen einer Volkswirtschaft. Piketty erkennt aus seinen Daten, dass dieses Verhältnis (ß) in den europäischen Ländern einen U-förmigen Verlauf annimmt und sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder dem Niveau des Vorabends des 1. Weltkriegs annähert (siehe Abbildung 1).
Interessant wird diese Entwicklung aber hauptsächlich durch die Herleitung der einfachen Gleichung a=r*ß, die den Anteil der Kapitaleinkommen am Gesamteinkommen (a) mit dem Produkt aus Kapitalerträgen (r) und dem Verhältnis zwischen Kapital und BIP (ß) gleichsetzt. Diese simple Identität bezeichnet Piketty als „fundamentales Gesetz des Kapitalismus“. Er folgert, dass wenn die Kapitalerträge r permanent über dem Wirtschaftswachstum g liegen, die Gewinnquote a per definitionem steigt. Hier tritt ein Feedback-Effekt auf, denn wenn a zunimmt, steigt infolge der Kapitalakkumulation wiederum ß (unter der Voraussetzung dass KapitalbesitzerInnen nicht ihre gesamten Erträge konsumieren). Kurzum: die Ungleichung r>g sorgt für eine systemimmanente Umverteilung des Nationaleinkommens in Richtung der Kapitalerträge. Die wichtigsten Thesen in Pikettys Buch stützen sich hauptsächlich auf diese zentrale Annahme r>g. Der Ökonom zeigt, dass r im Zeitverlauf meist über g lag, sich abernach dem 1. Weltkrieg bis heute leicht unter dem Wirtschaftswachstum bewegte. Pikettys Zukunftsprognose sieht das Pendel in naher Zukunft wieder in die andere Richtung ausschlagen (siehe Abbildung 2). Basierend auf diesen Ergebnissen ergibt sich die spannende Frage, welche Rahmenbedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts für eine Wende der Ungleichung r>g sorgten. Piketty verweist einerseits auf die massive physische Kapitalzerstörung durch die beiden Weltkriege, hohe Inflationsraten sowie entschlossene Vorstöße in der Vermögensbesteuerung. Auf der anderen Seite drückte sich der beispiellose Nachkriegsaufschwung in einem überdurchschnittlichen g aus. Piketty betont immer wieder den einmaligen historischen Kontext dieser Entwicklung: „Die Wachstumsraten werden nie wieder bei fünf Prozent liegen wie in der Nachkriegszeit.“ [9] Die zweite zentrale Ableitung wird auch als „Matthäus-Effekt“ bezeichnet, denn „wer hat, dem wird gegeben“. Dementsprechend lukrieren große Vermögen auch höhere Ertragsraten als kleinere Bestände und wachsen somit (absolut und relativ) schneller. Es steigt also nicht nur das Kapital-Einkommens-Verhältnis, sondern auch die Konzentration dieses Vermögens. Die Vermögensungleichheit wird durch die steigende Bedeutung von Erbschaften in einem Regime r>g weiter verschärft. Die langfristige Herausbildung von Familiendynastien, die ihr Vermögen über Generationen weiter vererben, wird auch durch andere Forschungsergebnisse eindrücklich nachgewiesen [10].
Die Anlehnungen von Titel und Inhalt des Buches an „Das Kapital“ von Karl Marx sind nicht zu übersehen. Allerdings offenbaren sich genau bei diesem Vergleich markante analytische Unterschiede. Der Kapitalbegriff wird von Piketty nicht theoretisch hergeleitet, sondern beruht auf der Notwendigkeit einer Quantifizierung für seine empirischen Untersuchungen. Marx betont hingegen mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Kapitalbegriffen dessen funktionelle Vielfalt in der kapitalistischen Produktion [11] und fokussiert auf den Akkumulationsprozess des Kapitals. Zudem ist Kapital bei Marx ein gesellschaftliches Verhältnis zwischen sozialen Klassen, wobei das Kapital dessen BesitzerInnen die Möglichkeit bietet, sich den Mehrwert aus der Produktion anzueignen. Selbst wenn all diese möglichen Definitionen lediglich auf Kapital als Produktionsfaktor reduziert werden, wie es auch in der neoklassischen Ökonomie üblich ist, weicht Pikettys Kapitalbegriff davon ab („[there is no] rigid distinction between wealth and capital.“, S. 48). Was zuerst als semantische Haarspalterei erscheint, entpuppt sich bei den Schlussfolgerungen als maßgeblich, denn diese basieren auf unterschiedlichen Konzepten. So behauptet Piketty im Hinblick auf seine Entdeckung langfristig stabiler Kapitalerträge r: „Marxist analysis emphasizes the falling rate of profit—a historical prediction that turned out to be quite wrong, although it does contain an interesting intuition.“ (S. 52) Diese Fehlinterpretation Pikettys resultiert aus dem grundlegenden Missverständnis für den Marx’schen Kapitalbegriff, der in der Bestimmung der Profitrate dezidiert nur produktives Kapital und nicht wie bei Piketty jegliches Vermögen (inkl. privatem Wohneigentum, etc.) umfasst. Wie kann Pikettys fundamentales Gesetz des Kapitalismus a=r*ß eingeordnet werden?
Piketty stellt in seinem Buch zwar die richtigen Fragen, greift aber für deren theoretische Fundierung großteils in den falschen Werkzeugkasten. So erhalten neoklassische Konzepte wie die „theory of marginal productivity“ oder die Hypothese eines „skill-biased technological change“ eine prominente Rolle in der Erklärung von Ungleichheit, während heterodoxe oder interdisziplinäre Ansätze kaum behandelt werden. Soziologische Forschung zur Reproduktion von Kapital und dessen diverse Ausformungen [12], Fragen von Macht und Hegemonie bei der Verteilung ökonomischer Ressourcen zwischen gesellschaftlichen Klassen [13] oder die Bestimmungsfaktoren für Kapitalakkumulation und Profitrate [14] finden praktisch keinen Platz in den 700 Seiten.
Auf der anderen Seite versetzen die enormen Verkaufszahlen – die ersten 41.000 Stück gingen binnen kürzester Zeit über den Tresen, die nächsten 25.000 Bücher sind in Produktion – das Establishment in Aufruhr. Auch ohne rhetorischem Klassenkampf und Systemkritik wird Piketty in manch konservativem Blatt als der neue Marx bezeichnet. „Piketty has scared the pants off the American right“, tituliert ein Internetportal [15] und beschreibt die allergischen Reaktionen der Konservativen auf jegliche Verteilungsdebatten. Vor allem Pikettys politische Implikationen aus der starken Vermögenskonzentration lässt das Establishment erzittern, auch wenn sich sein Einfluss auf die Politik noch beweisen muss. Nachdem Piketty in den ersten drei Teilen des Buches minutiös die Entwicklung der Vermögenskonzentration in Europa und Nordamerika untersucht, stellt er im vierten Teil eine Reihe von regulatorischen und institutionellen Rahmenbedingungen zur Verringerung der Ungleichheit vor. Trotz der vorangegangenen Diskussion über die Bewegungsgesetze des Kapitalismus zur Bestimmung der Verteilung, verzichtet der Autor vollkommen auf systemische Ansätze. Die prominenteste Forderung ist jene nach einer globalen Vermögenssteuer, die er selbst als „utopisch“ bezeichnet. Zweifelsfrei sind alle dargelegten Maßnahmen wünschenswert und fortschrittlich. Progressive Vermögenssteuern, eine strikte Finanzmarktregulierung oder die Aufhebung des Bankgeheimnisses sind Vorschläge, die aus einer Verteilungsperspektive nachdrücklich unterstützt gehören. Aber es bleibt der Nachgeschmack, dass das Abschlusskapitel etwas mehr frischen Wind und Mut zu systemischen Alternativen vertragen hätte. Piketty selbst scheint sich hier aber von den kapitalismuskritischen VertreterInnen der Wirtschaftswissenschaften abgrenzen zu wollen und akzeptiert deshalb auch entscheidende Komponenten des neoklassischen Paradigmas [16]. So beruhen seine Verteilungsannahmen auf einer aggregierten Produktionsfunktion [17] und er verteidigt die neoklassische Position in der berühmten Cambridge-Cambridge Kapital-Kontroverse (nachdem 1966 schon Paul Samuelson seinen Irrtum eingestand). Wie bereits erwähnt, darf das plötzliche Interesse zahlreicher neoklassischer ÖkonomInnen für Pikettys Buch und allgemein an Verteilungsfragen nicht als Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Nebenwirkungen verstanden werden. Es ist vielmehr der (verzweifelte) Versuch, doch noch vermeidbare Ursachen für Wirtschaftskrisen zu identifizieren. In der politischen Ökonomie gelten soziale, ökonomische und politische Ungleichheit hingegen als Symptome des zugrunde liegenden Wirtschaftssystems. Heterodoxe ÖkonomInnen müssen 6 Jahre nach Ausbruch der Krise mit Bedauern feststellen, dass strukturelle und systemische Lösungsansätze sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik ausgeblieben sind. In meiner Wahrnehmung gab es am Höhepunkt der Krise im politischen Diskurs nicht nur einen „Keynesian Moment“, sondern –wenn man so will- auch einen „Marxian Moment“. Denn als Reaktion auf die erhöhte Krisenanfälligkeit der globalen Ökonomie in den letzten Jahrzehnten wurden die Produktionsweise und -verhältnisse wieder intensiver diskutiert [18]. Thomas Piketty hat mit seinem Opus Magnum und den dadurch entstehenden Debatten um die Bewegungsgesetze des Kapitalismus jedenfalls einen wichtigen Anstoß geliefert [19]. Nicht zuletzt sorgt das Buch auch in studentischen Kreisen für reges Interesse an der Verteilungsproblematik. Es bleibt zu wünschen, dass sich langfristig mehr Studierende auch an der WU mit Fragen der Verteilung ökonomischer Ressourcen und den zugrunde liegenden Mechanismen befassen. Die Lektüre von Pikettys Buch bestärkt die Ansicht, dass diese Auseinandersetzung nicht nur auf Basis ökonometrischer Auswertungen empirischer Daten erfolgen kann, sondern theoretisches Unterfutter aus der politischen Ökonomie erfordert.
Fußnoten [1] http://www.voxeu.org/article/chartbook-economic-inequality
Literatur
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