Kategorie: Theorie

Perspektiven des Weltkapitalismus [Teil 1]

Wir beginnen heute mit der Veröffentlichung der Weltperspektiven der IMT. Es ist ein Grundsatzpapier, das im Sommer 2012 auf dem Weltkongress verabschiedet wurde. Der erste Teil dreht sich um die Krise des Weltkapitalismus.


 

Die Ereignisse entwickeln sich global gesehen mit einer enormen Geschwindigkeit. Nach der Arabischen Revolution ging es Schlag auf Schlag: Die Bewegung der „Indignados“ in Spanien; die Welle von Streiks und Demonstrationen in Griechenland; die Ausschreitungen in Britannien; die Bewegung in Wisconsin und die „Occupy“- Bewegung in den USA; der Sturz Gaddafis; die Absetzung von Papandreou und Berlusconi; all das sind Symptome der derzeitigen Epoche.

 

Diese plötzlichen, scharfen Wendungen zeigen, dass sich im Ganzen etwas Grundlegendes geändert hat. Diese Ereignisse wirken sich auf das Bewusstsein immer größerer Schichten der Bevölkerung aus. Die herrschende Klasse ist wegen der unerwarteten Tiefe der Krise zunehmend gespalten, ihr fehlt die Orientierung und sie hat keine Idee, wie sie diese Krise lösen soll. Plötzlich ist sie nicht mehr imstande mit den alten Methoden die Kontrolle über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Instabilität kennzeichnet alle gesellschaftlichen Bereiche: die Wirtschaft, die Staatsfinanzen, die Politik. Die politischen Parteien befinden sich in der Krise. Regierungen kommen und gehen, ohne einen Weg aus der Sackgasse zu finden. Die heftigen Ausschläge der Wählergunst nach rechts und links spiegeln den Unmut der Mittelklassen wider, die ihr Vertrauen in den Status Quo verlieren und zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse hin- und herpendeln.

Das wichtigste dabei ist, dass sich die Arbeiterklasse vom ersten Schock der Krise erholt hat und zu handeln beginnt. Die fortgeschrittensten Teile unter den Arbeitern und der Jugend fangen an revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen. All dies sind Symptome dafür, dass wir am Beginn der Epoche der Weltrevolution stehen. Diese wird sich über Jahre, vielleicht Jahrzehnte entfalten, mit Hochs und Tiefs, Fortschritten und Rückschlägen; eine Periode von Kriegen, Revolutionen und Gegenrevolutionen. Dies ist ein Ausdruck für die Tatsache, dass der Kapitalismus sein fortschrittliches Potential ausgeschöpft hat und in eine Phase des Niedergangs eingetreten ist.

 

Diese generelle Betrachtung schließt die Möglichkeit von Perioden des Aufschwungs nicht aus. Auch in der Zeit von 1929 bis 1939 gab es zyklische Schwankungen, aber die allgemeine Tendenz deutete auf längere und tiefere Rezessionen hin, die von flüchtigen und oberflächlichen Booms unterbrochen wurde. Der „Aufschwung“, der auf den Konjunktureinbruch von 2008/09 folgte, ist ein Anzeichen für diese Tendenz. Es handelte sich um den schwächsten Aufschwung der Geschichte – laut bürgerlichen Ökonomen der schwächste seit 1830 – und nur ein Wegbereiter für noch tiefere Krisen. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass der Kapitalismus in einer Sackgasse steckt. Er hat über Jahrzehnte Widersprüche angehäuft. Genau genommen ist die Krise ein Ausdruck der Rebellion der Produktivkräfte gegen das enge Korsett des kapitalistischen Systems. Die größten Barrieren, die der Entwicklung der Menschheit entgegenstehen, sind einerseits das Privateigentum an den Produktionsmitteln und andererseits der Nationalstaat.

Vorübergehend konnte dieser Widerspruch z.T. durch eine beispiellose Ausdehnung des Welthandels gelöst werden (Stichwort „Globalisierung“). Das erste Mal in der Geschichte sind alle Ecken der Welt zu einem riesigen Weltmarkt vereint. Die Widersprüche des Kapitalismus konnten dadurch nicht aufgehoben werden, sie entwickelten sich vielmehr auf einem enormen, beispiellosen Niveau weiter. Jetzt wird die Rechnung dafür präsentiert.

 

Die Globalisierung zeigt sich jetzt als eine globale Krise des Kapitalismus. Die enormen Produktionskapazitäten, die im Weltmaßstab aufgebaut wurden, können nicht genutzt werden. Für diese Krise gibt es keinen Vergleich in der Geschichte. Ihr Ausmaß ist größer als das jeder Krise der Vergangenheit. Die Strategien des Kapitals lassen sich mit denen von alten Seeleuten vergleichen, die sich ohne Karte und Kompass auf unentdeckte Ozeane wagten. Wir haben es jetzt mit einer grundsätzlichen Vertrauenskrise in den Reihen der internationalen Bourgeoisie zu tun. Die Bourgeoisie will ihren Unglückstag aufschieben, indem sie Rezepte bemüht, die normalerweise hergenommen werden um eine Rezession zu überwinden – das ist jetzt aber unmöglich. Die Banken verleihen kein Geld, die Unternehmen investieren nicht, die Wirtschaft stagniert und die Arbeitslosigkeit steigt. All das zeigt, dass der zaghafte Aufschwung nach 2009 in eine neuerliche Krise umgeschlagen ist.

 

Die Krise des europäischen Kapitalismus zeigt sich besonders in den Veränderungen auf den Anleihenmärkten, die die Risikoaufschläge für ein Land nach dem anderen ansteigen lassen. Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Italien tappten nacheinander in die Falle der Märkte, die sie dazu verurteilten, horrende Zinsen auf ihre wachsenden Staatsschulden zu zahlen. Dadurch machten „die Märkte“ aus einer schwierigen Situation eine unmöglich lösbare.

Jetzt drohen die internationalen Rating-Agenturen Frankreich und Deutschland und letztendlich die ganze Eurozone herabzustufen. Es ist eine Art tödlicher Ansteckungsgefahr, die alle großen Länder der Eurozone befallen hat. Das ständige Chaos auf den Weltmärkten zeigt die Nervosität der Bourgeoisie, die von Zeit zu Zeit an Panik grenzt. Die Märkte sind wie ein Thermometer, die die Höhe des Fiebers messen. Die bürgerlichen Ökonomen stehen um das Bett des Patienten, schütteln ihre Köpfe, haben jedoch keine wirksame Medizin parat. Die Panik, die sich an den Börsen und Anleihenmärkten zeigt, weitete sich schnell von Europa nach Amerika aus. Vergeblich schimpften Merkel und Co. über die Verantwortungslosigkeit der Rating-Agenturen. Letztendlich machen diese nur ihren Job: Sie zeigen genau die Aufregung um die Weltwirtschaft und den Vertrauensverlust in die Politiker an. Aber dadurch versetzen sie den Ökonomien einen weiteren Schlag, die am Rande des Abgrunds torkeln.

 

Epochenwandel

 

Lenin erklärte, dass es nicht so etwas wie eine unlösbare Situation für den Kapitalismus gibt. Solange dieser nicht durch die Arbeiterklasse gestürzt wird, kann sich der Kapitalismus auch von der tiefsten Krise wieder erholen. Grundsätzlich ist diese Aussage zweifelsfrei richtig. Aber das sagt uns nicht wirklich etwas über die konkrete Situation, mit der wir konfrontiert sind oder den wahrscheinlichen Ausgang. Wir müssen diesen historischen Moment konkret untersuchen und die Entwicklung, die wir hinter uns haben, in Erwägung ziehen.

In der Geschichte des Kapitalismus können verschiedene Perioden unterschieden werden. Die Periode vor dem Ersten Weltkrieg war z.B. eine, die von einem langen Wirtschaftsaufschwung geprägt war und 1914 ihr Ende fand. Das war die klassische Phase der Sozialdemokratie. Die Massenparteien der Zweiten Internationale wurden gegründet in Zeiten der Vollbeschäftigung und einer relativen Hebung des Lebensstandards der europäischen Arbeiterklasse. Dies führte zur nationalistischen und reformistischen Degeneration der Sozialdemokratie, die sich 1914 offen zeigte, als sie sich zu Beginn des Kriegs fast geschlossen auf die Seite „ihrer“ Bourgeoisie stellte. Die Periode, die der Russischen Revolution von 1917 folgte, hatte einen völlig anderen Charakter. Es war eine Zeit der Klassenkämpfe, der Revolutionen und Konterrevolutionen, die erst mit Beginn des Zweiten Weltkrieges endete. Der Krise, die mit dem Crash an der Wall Street 1929 begann und sich zur Großen Depression entwickelte, war eine Phase der fieberhaften Spekulation vorausgegangen, die viele Gemeinsamkeiten mit dem Boom vor der jetzigen Krise aufweist.

 

Die Depression der 1930er Jahre konnte nur durch den Krieg selbst gelöst werden. 1938 sagte Trotzki voraus, dass der Krieg mit einem neuen revolutionären Aufschwung enden würde. Dies war richtig, aber die Art und Weise wie der Krieg endete, war anders als es Trotzki erwartet hatte. Der militärische Sieg der UdSSR stärkte den Stalinismus für eine ganze Periode. Sozialdemokraten und Stalinisten waren in der Lage, die revolutionäre Welle in Italien, Frankreich, Griechenland und weiteren Ländern abzuwürgen. Dies war die politische Voraussetzung dafür, dass der Weg für einen neuen Aufschwung des Kapitalismus geebnet wurde, den Lenin und Trotzki 1920 für eine theoretische Möglichkeit hielten.

Die Gründe für den Aufschwung zwischen 1948 und 1974 haben wir in früheren Dokumenten erklärt (siehe Ted Grants „Will There be a Slump?“ http://www.tedgrant.org/archive/grant/1960/slump.htm 1960). Es reicht hier herauszustreichen, dass dieser Aufschwung die Folge einer besonderen Verknüpfung von Umständen war, die unmöglich zu wiederholen sind. Eine solche Perspektive ist für die heutige Zeit ausgeschlossen. Der Aufschwung des Kapitalismus hielt knapp drei Jahrzehnte an und führte zu einem weiteren Verfall der Sozialdemokratie und der stalinistischen Parteien und der Gewerkschaften in Europa und den anderen entwickelten kapitalistischen Ländern, ähnlich wie vor dem Ersten Weltkrieg. Doch auch während dieser Zeit sahen wir den größten Generalstreik der Geschichte in Frankreich 1968.

 

Diese Periode wurde unterbrochen von der ersten Rezession seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, welche 1973/74 begann und die mit einem revolutionärem Aufschwung zusammenfiel: Die Revolutionen in Portugal, Spanien und Griechenland, die Massenstreiks in Britannien, der revolutionäre Gärungsprozess in Italien und revolutionäre Umbrüche in den ehemaligen Kolonien. Die europäische Arbeiterklasse bewegte sich damals in Richtung Revolution – doch der Verrat der Führer der Sozialdemokratie und der stalinistischen Parteien schaffte die Bedingungen für eine neuerliche Erholung des Kapitalismus.

 

Die Periode, die in den 1980er Jahren folgte, kann als eine Periode der „sanften Reaktion“ bezeichnet werden. Die Bourgeoisie versuchte die Politik des Keynesianismus zurückzudrehen, die zu einer Explosion der Inflation und einer Intensivierung des Klassenkampfes führte. Es war die Zeit von Reagan und Thatcher, von monetaristischer Ökonomie und einer Gegenoffensive gegen die Arbeiterklasse.

 

Der Zusammenbruch des Stalinismus

 

Dies wurde durch den Zusammenbruch des Stalinismus verstärkt. Neue Gebiete auf dem Erdball waren nun offen für den kapitalistischen Markt und direkte Investitionen. Ein riesiges Reservoir Millionen billiger Arbeitskräfte, auf die der Kapitalismus zuvor keinen Zugriff hatte, und wachsende Märkte in China, Indien und der früheren UdSSR waren verantwortlich, dass aus der Rezession von 1990 keine Depression und dem System vorübergehend neues Leben eingehaucht wurde.

 

Während der 1990er und 2000er gaben sich die Bourgeoisie und ihre Ideologen wie eingebildete, aufgeblasene Frösche. Sie erlagen der Illusion, dass der „freie Markt“ alle Probleme lösen könnte, wenn er nur sich selbst überlassen würde. Früher verehrte die Bourgeoisie den Staat wie einen Gott, jetzt verfluchte sie ihn als Grund allen Übels. Die einzige Sache, die sie vom Staat verlangte war, dass er sie ungestört werken lasse. Die Tendenz zu einer zunehmenden Verstaatlichung (die “in alle Bereiche eingreifen sozialistische Gesellschaft”) wurde in ihr Gegenteil verkehrt. Statt Verstaatlichungen setzte nun eine Welle von Privatisierungen ein. Die neue Situation wurde von den Ökonomen mit der Theorie der These des „effizienten Marktes“ erklärt, nach der die Märkte eine Tendenz zum Ausgleich hätten, in welcher Angebot und Nachfrage sich automatisch die Waage halten und so Überproduktionskrise unmöglich würden. Dies war keine neuer Theorie, sondern nur ein Widerkäuen des Say’schen Theorems, auf das Marx bereits vor langem antwortete [siehe „Theorien über den Mehrwert“, Marx 1861/63, Kapitel 17, Ricardos Akkumulationstheorie. Kritik derselben. (Entwicklung der Krisen aus der Grundform des Kapitals), http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1863/tumw/standard/ch17.htm#mew26.2p471_ch17 ]

 

Die Krise von 2008/09 markiert einen weiteren Wendepunkt. Sie widerlegte all die Theorien der bürgerlichen Ökonomen. Sie entfesselte mächtige Schocks, die noch immer nachwirken. Sie zeigt das Ende einer andauernden Periode von scheinbarer finanzieller Stabilität und Ordnung. Sie ließ den Traum der Bourgeoisie zerplatzen, nach dem der grausame Kreislauf von Aufschwung und Krise zu Ende sei.

 

In Wahrheit haben sie nichts Neues entdeckt. Der Boom war wie eine Hütte, die auf schwachen Beinchen gebaut wurde: ein Modell, das auf der massiven Ausweitung der Spekulation mit Immobilien basierte, genährt durch eine beispiellose Kreditvergabe und die absolute Dominanz des Finanzkapitals. Der parasitäre Dienstleistungssektor wuchs auf Kosten der realen Produktion. Die Börsen wurden noch mehr zu Casinos, an denen um gewaltige Geldbeträge gespielt wird, und die Banker stürzten sich in diesen vergnügten Karneval des Geldmachens mit rücksichtsloser Hingabe.

 

Das völlig parasitäre Element des Kapitalismus florierte während der letzten Periode. Diese Tatsache alleine war ein Indikator für die Altersschwäche des Kapitalismus: die erdrückende Dominanz des Finanzkapitals und der Aufstieg der „Dienstleistungen“ auf Kosten des produzierenden Gewerbes; eine massive Ausweitung der Kredite und des fiktiven Kapitals; alle Arten von Betrug und ungezügelter Spekulation an den Aktienmärkten und seitens der Großbanken.

Das spekulative Element war Teil eines jeden kapitalistischen Booms seit der sog. Tulpenblase im 17. Jahrhundert. Aber sein Ausmaß in der jetzigen Periode übersteigt alles Bisherige. Allein der Handel mit Derivaten umfasst Billionen von Dollar und ist dermaßen kompliziert und undurchsichtig, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten. Er sollte den Märkten mehr Stabilität bringen, ist tatsächlich aber einer der Hauptgründe für die wachsende Unsicherheit. Dies hat wesentlich zum derzeitigen Kollaps beigetragen, und die Nachwirkungen des Schuldendienstes machen es nur noch schwerer, aus der Krise herauszukommen. Gleichzeitig hat es eine beispiellose Entwicklung zur Kapitalkonzentration gegeben.

 

Unsere Strömung rechnete schon seit längerem mit der Krise. Sie wurde jedoch durch Faktoren hinausgeschoben, die weiter oben herausgestrichen wurden, und dies hatte bestimmte Auswirkungen auf unsere Perspektiven. Doch wir müssen uns zuallererst die Frage stellen: Aus welchen Gründen wurde die Krise hinausgeschoben, und was waren die Konsequenzen? Die Grundlagen erörterten wir in einem Perspektivdokument vor zwölf Jahren („On a Knife’s Edge: Perspectives for the world economy, http://www.marxist.com/world-economy-perspectives141099.htm). Wir zeigten, dass die Bourgeoisie die Krise aufschob, in dem sie Methoden anwandte, die eigentlich hergenommen werden sollten, um aus Krisen herauszukommen. Sie hielten die Zinsraten niedrig und weiteten zeitgleich die Kredite in unerhörtem Umfang aus. Es muss gesagt werden, dass sie eine Krise verhinderten, aber nur zum Preis, dass die Krise zu einem späteren Zeitpunkt umso tiefer wird.

 

Die Kapitalisten versuchen immer um die momentanen Widersprüche herumzukommen, indem die unausweichliche Krise in die Zukunft geschoben wird, wenn das ganze, morsche Gebäude nur mit umso größerer Wucht über ihren Köpfen zusammenfallen wird. Das Kreditwesen hat bestimmte Grenzen und kann nicht endlos ausgeweitet werden. Auf einer gewissen Stufe beginnt sich alles aufzulösen. All die Faktoren, die den Boom befeuerten, verkehren sich dann in ihr Gegenteil. Die scheinbar endlose Aufwärtsspirale verkehrt sich nun in eine unkontrollierbare Abwärtsspirale. Das Problem, mit dem die Bourgeoisie konfrontiert ist, ist schnell erklärt: sie kann nicht noch länger die herkömmlichen Instrumente hernehmen um aus der Krise zu kommen, da diese bereits während des Booms aufgebraucht wurden. Die Zinsraten sind in Japan bei null und in den USA und in Europa kaum höher. Wenn man die Inflation heranzieht, deren Rate in den USA und in Europa höher ist als die der Zinsen, bedeutet das, dass die realen Zinsraten negativ sind. Wie sollen sie da noch die Zinsraten weiter senken, um so ein Wachstum zu initiieren? Wie können die Regierungen die Staatsausgaben steigern, wenn alle Staaten mit riesigen Schuldenbergen zu kämpfen haben?

 

Wie sollten die Konsumenten mehr Geld ausgeben, wenn sie zuerst die massiven Schulden zurückzahlen müssen, die noch in Boomzeiten aufgenommen wurden? Und wie sollte in mehr Produktion investiert werden, wenn die Kapitalisten keine Märkte haben, wo sie ihre Güter verkaufen können? Aus demselben Grund, haben die Geldgeber kein Interesse, die Kredite auszuweiten. Seit es keinen Grund mehr gibt, in die Produktion für übersättigte Märkte zu investieren, macht die Bourgeoisie ihr Geld lieber, in dem sie auf den Geldmärkten spekuliert.

 

Eine riesige Menge Geld bewegt sich dauernd um die Welt, um mit der Spekulation gegen Währungen wie dem Euro mehr Geld zu machen. Die Anleger handeln wie ein Rudel hungriger Wölfe, die einer Herde von Rentieren folgen, auf der Suche nach dem schwächsten und kränksten Tier. Und nun gibt es eine Menge kranker Tiere zur Auswahl. Diese Spekulationen verschärfen die grundsätzliche Unsicherheit noch weiter und verleihen der Krise einen noch explosiveren Charakter.

 

Protektionistische Tendenzen

 

Wenn man die Marktwirtschaft akzeptiert, muss man auch die Regeln des Marktes akzeptieren, welche den Regeln des Dschungels sehr ähnlich sind. Den Kapitalismus zu akzeptieren, dann aber über seine Konsequenzen zu jammern, ist ein sinnloses Unterfangen. Die Reformisten (und ganz besonders die Linksreformisten) leiern immer wieder ihre keynesianischen Ideen von der Lösung der Krise durch steigende öffentliche Ausgaben herunter. Doch wir haben bereits eine hohe öffentliche Verschuldung, die zurückgezahlt werden muss. Anstatt die öffentlichen Ausgaben auszuweiten, stoppen die Regierungen ihre Ausgaben und entlassen öffentlich Bedienstete, wodurch sich die Krise nur noch mehr erhitzt.

 

Es ist ein Ausdruck der Verzweiflung der Bourgeoisie, dass sie nach dem letzten Strohhalm greift. In den USA und Britannien kehrte man wieder zum Gelddrucken zurück. Dies wird keines der Probleme lösen, sondern sie letztendlich nur noch verstärken. Wenn das Geld schließlich in der Wirtschaft landet, wird das eine riesige Inflation verursachen, die nur den Boden für eine noch tiefere Krise in der Zukunft ebnet. Die hoffnungslose Verwirrung der Ökonomen zeigt sich im seltsamen Schauspiel von Jeffrey Sachs, derjenige, der den Neoliberalismus in Osteuropa entfesselte. Er fordert nun eine weltweite Version des New Deals. Das Problem ist, dass solche Pläne aus der Sicht des republikanisch dominierten US-Kongresses ein Gräuel sind. Dieser ist wild entschlossen eine entgegengesetzte Politik zu verfolgen.

 

Weder die Rezepte des freien Marktes noch die Politik der keynesianischen Anreize haben funktioniert bzw. können funktionieren. Die Regierungen und ihre Wirtschaftsberater sind am verzweifeln. Für fiskalpolitische Anreize ist kein Geld mehr da, aber auch die Sparpolitik führt nur dazu, dass die Krise verschlimmert wird. Die größte Angst ist, dass eine neue Rezession zu einem Wiederaufleben des Protektionismus und der Währungsabwertungen wie in den 1930er Jahr führen wird. Dies würde katastrophale Auswirkungen auf den Welthandel haben und eine Bedrohung für die Globalisierung selbst darstellen. Alles was in den vergangenen 30 Jahren erreicht wurde, kann zunichte gemacht und in sein Gegenteil verkehrt werden. Die Maßnahmen, die von der Schweizer Nationalbank im September 2011 angekündigt wurden, um den Wert des Schweizer Franken abzuwerten, ist eine Warnung, wohin protektionistische Politik und Währungsabwertungen führen könnten. Genau das war es, was den Wall Street Crash von 1929 zur Großen Depression der 1930er Jahre werden ließ. Etwas Ähnliches kann wieder passieren.

 

Abwärtsspirale

 

Trotzki schrieb 1938: „Die Kapitalisten schlittern mit geschlossenen Augen in eine Katastrophe.“ Eines müssen wir an dieser Aussage ändern: Die Kapitalisten schlittern mit weit geöffneten Augen in eine Katastrophe. Sie sehen, was passiert. Sie sehen, was mit dem Euro geschieht. In den USA sehen sie, wie sich die Staatsfinanzen entwickeln. Aber sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.

 

Seit dem Zusammenbruch von 2008 haben die Regierungen Billionen von Dollar ausgegeben, um das Finanzsystem zu retten – ohne, dass es etwas gebracht hätte. Die Europäische Kommission hat den Ausblick für die Wirtschaftsentwicklung in der Eurozone ein ums andere Mal zurückgestuft – jetzt ist sie zu einem faktischen Stillstand gekommen. Ein Stagnieren ist tatsächlich noch eine der optimistischeren Varianten. Alles deutet nun auf einen neuen und noch steileren Fall als 2008/09 hin. In den Monaten nach den Banken-Rettungsaktionen, versuchte die Bourgeoisie sich mit dem Gerede eines Aufschwungs zu trösten. Doch dabei handelt es sich um den schwächsten Aufschwung der Geschichte, wie wir gesehen haben. Es gibt nichts, was auf einen neuen Aufschwung hindeuten würde. Tatsächlich hat sich die Weltwirtschaft nicht von der Krise von 2008 erholt, trotz all der Billionen Dollar, die in die Wirtschaft gepumpt wurden. Mit solch verzweifelten Mitteln gelang es einen unmittelbaren Crash wie 1929 zu verhindern, aber diese panischen Maßnahmen lösten nichts Grundlegendes. Ganz im Gegenteil: Dadurch wurden neue und unlösbare Widersprüche geschaffen. Die Bourgeoisie vermied das Zusammenbrechen der Banken, aber nur zu dem Preis, dass jetzt der Bankrott ganzer Staaten auf dem Spiel steht. Was in Island passierte, ist eine Warnung was ein Land nach dem anderen erwartet. Das schwarze Loch des privaten Finanzsystems wurde in ein schwarzes Loch der öffentlichen Finanzen umgewandelt.

 

Jetzt ächzen die europäischen Politiker, dass die Griechen falsche Angaben machten, um ihre wahren Finanzprobleme zu verschleiern. „Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir Griechenland niemals erlaubt, der Eurozone beizutreten“, beschweren sie sich. Aber es wird von den Banken doch erwartet, Kreditanwärter zu überprüfen und Unwahrheiten aufzudecken. Die Klage gegen Griechenland kann auch auf die Banken ausgeweitet werden. Warum haben sie die griechische Täuschung nicht rechtzeitig erkannt? Die Antwort lautet, dass sie das gar nicht erkennen wollten. Die Finanzinstitutionen waren alle selbst an der Spekulation beteiligt und machten hohe Profite mit den Wetten auf Eigenheimhypotheken oder Staatsanleihen. Bei dieser spekulativen Orgie der Geldmacherei hatten die Banken kein Interesse daran die Qualität von gewährten Krediten richtig einzuschätzen. Ganz im Gegenteil: Bei den Kreditnehmern wurde nicht so genau hingeschaut, um die Schuldtitel attraktiver erscheinen zu lassen. Genau das haben wir schon bei der US-Hypothekenkrise gesehen. Die Banken verliehen viel Geld an Leute, die nicht imstande waren, sich ein eigenes Haus zu kaufen. Tatsächlich setzten sie die Leute unter Druck über Kredit zu kaufen. Die Schuldtitel wurden aufgeteilt und neu verpackt, um dann damit spekulieren zu können. Große Geldbeträge wurden auf diese Art und Weise gemacht. Solange der Rubel rollte, kümmerte sich niemand um die Finanzen des griechischen Staates oder um insolvente Hausbesitzer in Alabama, Madrid oder Dublin.

 

Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die kapitalistische Klasse in dieser Periode total hirnlos agierte. Wie ein betrunkener Freigeist, wurde die Bourgeoisie mit ihrem Erfolg immer besoffener. Sie dachten nur an das hier und jetzt – „hinter uns die Sintflut“. Wie die meisten Freigeister übersahen sie das unbequeme Detail, dass sie eben nur auf Krediten lebten bzw. die Schulden auch mal zurückgezahlt werden müssen. Und wie die meisten Freigeister wachten sie mit schlimmen Kopfschmerzen auf.

Aber hier enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Die Kopfschmerzen wurden direkt an den Staat abgegeben, der sie hilfsbereit der ganzen Gesellschaft übertrug. Die Banker erhielten eine milliardenschwere, öffentliche Geldspritze und standen mit neuer Kraft aus ihrem Krankenbett auf, während dem Rest der Gesellschaft die Rechnung vorgelegt wurde.

 

Der Öffentlichkeit ist nun klar geworden, dass unsere sogenannte demokratische Gesellschaft in Wirklichkeit von den nicht legitimierten Direktoren der Banken und Großkonzernen regiert wird. Sie sind durch tausende Fäden mit dem Staat und den politischen Eliten verwoben, durch die sie repräsentiert werden. Diese Einsicht hat zum Überdenken alter, beruhigender Glaubenssysteme und zu einem Bruch des gesellschaftlichen Konsenses geführt. Die Gesellschaft erfährt eine immer stärkere Polarisierung. Für die herrschende Klasse stellt dies eine riesige Gefahr dar. Dialektisch gesehen spielen nun alle Faktoren, die die Wirtschaft angetrieben haben, nun zusammen und bremsen sie wieder ein. Die Gesellschaft tritt in eine qualvolle Abwärtsspirale ein, die scheinbar kein Ende hat. Die ArbeiterInnenklasse in Europa und den USA hat wichtige Errungenschaften erkämpft, die dazu geführt haben, dass Bedingungen einer halbwegs zivilisierten Existenz geschaffen wurden. Das Fortbestehen dieser sozialen Errungenschaften kann der Kapitalismus mittlerweile nicht mehr tolerieren. Das kapitalistische System ist buchstäblich bankrott.

 

Wer wird für diese Schulden aufkommen? Die Ökonomen habe keine Idee, wie man aus der Krise herauskommen kann. Das Einzige, was sie sicher wissen, ist, dass die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum die Rechnung zahlen müssen. Aber für jeden Schritt zurück verlangen die Banker und Kapitalisten zehn weitere. Das ist der wahre Grund hinter den Angriffen, die überall vorgenommen werden.

 

Aber gewisse Dinge werden daraus erwachsen. Sowohl die Glorreiche Revolution als auch die Französische Revolution begannen mit einer Schuldenkrise. Beide Staaten waren bankrott, und auf der Tagesordnung stand die Frage „Wer zahlt?“ Der Adel weigerte sich zu zahlen. Damit begann die Revolution seinen Lauf zu nehmen. Auch heute sind wir mit der gleichen Situation konfrontiert. Die ArbeiterInnen werden nicht mit verschränkten Armen zuschauen, wie die herrschende Klasse systematisch alle Errungenschaften des letzten halben Jahrhunderts zerstört.

 

Die griechische Arbeiterschaft erhob sich gegen genau solche Belastungen. Ihrem Beispiel werden die ArbeiterInnen in Italien, Spanien und jedem anderen europäischen Land folgen. Nach dem Gesundheitssystem und dem Arbeitslosengeld ist der Schuldendienst der drittgrößte Ausgabenbereich des spanischen Staates (jährlich 35 Milliarden Dollar). Die spanische Krise zeigt sich am deutlichsten in der hohen Arbeitslosigkeit. Fast 5 Millionen Menschen haben keine Arbeit – das ist jeder Fünfte. Im Süden Spaniens sind fast 30 Prozent ohne Job. Die Hälfte aller Jugendlichen ist arbeitslos. Das war es, was die Bewegung der „indignados“ entstehen ließ. “Ansteckungsgefahr” sehen wir nicht nur auf dem Gebiet der Ökonomie sondern auch auf jenem der Politik. Proteste gegen Kürzungen und Steuererhöhungen haben sich von Madrid nach Athen, von Athen nach Rom und von Rom nach London ausgebreitet. In den USA hat sich die Occupy-Bewegung wie ein Lauffeuer ausgebreitet, was als Ausdruck derselben Unzufriedenheit und Frustration gesehen werden muss. Die Zeit für eine Explosion des Klassenkampfes ist reif.

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