Kategorie: Theorie |
|||
Marxismus und der Staat |
|||
|
|||
Antwort an den Genossen "GO": Genosse GO hatte Grant und Woods vorgeworfen, zu wenig zu betonen, dass Gewalt bei Revolutionen unvermeidlich sei. Dieser Text aus dem Jahr 1996 ist eine detaillierte Abfassung über die Frage, ob Revolutionen per se mit Gewalt verbunden sein müssen. |
|||
|
|||
Das Dokument von GO wirft einige fundamentale Fragen auf über die Art, wie wir an die Frage der sozialistischen Veränderung der Gesellschaft herangehen. Eine tiefgehende Diskussion der grundlegenden Punkte wird zweifelsohne sehr hilfreich sein, um das politische Niveau der GenossInnen zu heben. Von diesem Standpunkt aus können wir den Beitrag von GO nur begrüßen. Leider ist die einseitige Art und Weise, wie er das Problem angeht, sagen wir einmal, unbefriedigend. Um solch komplizierte Fragen der Methode, der Taktik und der Strategie zu klären, ist es notwendig, dass wir uns ganz streng an die dialektische Methode halten, wie sie von Marx, Engels, Lenin und Trotzki angewandt wurde. Der Marxismus geht von der Idee aus, dass "Gewalt die Geburtshelferin einer jeden alten Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger geht", dass der Staat in letzter Instanz aus bewaffneten Einheiten von Menschen besteht, und dass er ein Instrument der herrschenden Klasse zur Unterdrückung anderer Klassen ist - das sind alles elementare Sätze, die vor über 100 Jahren ausgearbeitet wurden. Nicht eine dieser Ideen wurde von unserer Strömung jemals in Frage gestellt. Im Gegenteil. Wir nehmen sie als gegeben an. Wir haben niemals geleugnet, dass die Arbeiterklasse beim Versuch, die Gesellschaft zu verändern unvermeidlich auf den Widerstand der besitzenden Klassen stoßen werden und dass dieser Widerstand unter gewissen Bedingungen in einem Bürgerkrieg resultieren kann. Solch eine Behauptung ist derart selbstverständlich, dass es fast schon peinlich ist, sie auf diesem Niveau zu wiederholen. Unsere Unterschiede mit diesem Dokument (jenem von GO, Anm.) liegt auf keinen Fall in den Punkten, die für jeden Marxisten selbstverständlich sind. Das Problem liegt woanders. Unsere Strömung hat unzählige Male erklärt, dass es ohne die Unterstützung durch die Reformisten, Stalinisten und Gewerkschaftsführer unmöglich wäre, das kapitalistische System länger aufrechtzuerhalten. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir immer und immer wieder betonen müssen. Die Führer der Gewerkschaften und der reformistischen Parteien haben in allen Ländern unvorstellbare Macht in ihren Händen - eine viel größere als jemals zuvor in der Geschichte. Aber wie bereits Trotzki erklärt hat, ist die Bürokratie in der Arbeiterbewegung die konservativste Kraft in der Gesellschaft. Sie nutzen ihre Autorität zur Unterstützung des kapitalistischen Systems. Deshalb sagte Trotzki auch, dass sich in der letzten Analyse die Krise der Menschheit auf die Krise der Führung des Proletariats reduzieren lässt. Wir haben oft genug gesagt, dass eine friedliche Veränderung der Gesellschaft absolut möglich wäre, wenn die Führer der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften bereit wären, die kolossale Macht in ihren Händen zu nutzen, um die Gesellschaft zu verändern. Das ist alles, was wir in dieser Frage gesagt haben. Und dazu haben wir immer hinzugefügt, dass es im Falle, dass die Arbeiterführer dies nicht tun, dann können Flüsse an Blut vergossen werden, wobei die Verantwortung gänzlich bei den reformistischen Führern liegen würde. Es ist eine Tatsache, dass die Arbeiter viele Male in den letzten sieben Jahrzehnten in Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien und Deutschland die Macht übernehmen hätten können, falls es eine revolutionäre Partei gegeben hätte, die fähig gewesen wäre, diese Aufgaben zu erfüllen. Viele revolutionäre Gelegenheiten gingen durch den Verrat des Reformismus und des Stalinismus verloren. Die Arbeiterklasse musste dafür meist mit seinem Blut für die Verbrechen ihrer Führungen bezahlen. Es hängt alles vom nationalen und internationalen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und vor allem von der Fähigkeit, die entscheidenden Sektoren der Arbeiterklasse für des Programm des Marxismus zu gewinnen, ab. Wir haben zu keiner Zeit die Möglichkeit von Gewalt und Bürgerkrieg unter bestimmten Bedingungen geleugnet. Aber, im Gegensatz zu den Bürgerlichen und den Reformisten, die immer versuchen, die Arbeiter mit dem Gespenst des Gewalt und des Bürgerkriegs zu verängstigen bzw. im Gegensatz zur Dummheit der Sekten, die keine Gelegenheit auslassen, ihren Enthusiasmus für eine "blutige Revolution" anzupreisen, und so den Bürgerlichen und den Reformisten einen großen Dienst erweisen, betonen wir, dass wir für eine friedliche Veränderung der Gesellschaft stehen. Somit legen wir die Schuld für jegliche Gewalt auf die Schultern der herrschenden Klasse und der reformistischen Führer. Wir machen absolut klar, dass wir für eine friedliche Veränderung der Gesellschaft stehen, dass wir bereit sind, für eine solche Veränderung zu kämpfen, gleichzeitig warnen wir aber, dass die herrschende Klasse dafür kämpfen wird, dass sie ihre Macht und ihre Privilegien verteidigt. Das ist absolut nichts neues oder sonderlich originelles. Das ist die traditionelle Position des Marxismus, die bereits Hunderte Male in den Schriften von Marx, Engels, Lenin und Trotzki sowie in den Schriften und Reden unserer eigenen Strömung über mehr als 40 Jahre erklärt wurde. Wir werden zeigen, dass die Herangehensweise unserer Strömung an die Frage der Gewalt und des Staates sich völlig mit den großen marxistischen Denkern der Vergangenheit übereinstimmt, und dass dies der einzig seriöse Weg ist, diese Frage anzugehen.
Dialektik oder Formalismus?
Die Grundposition wurde in "Staat und Revolution" dargelegt, wo Lenin schreibt: "Der Marxsche Gedanke besteht darin, dass die Arbeiterklasse ‘die fertige Staatsmaschine’ zerschlagen, zerbrechen muss und sich nicht einfach auf ihre Besitzergreifung beschränken darf." Marx erklärte, dass die Arbeiterklasse sich nicht einfach auf die Grundlage der bestehenden Staatsmacht stellen darf, sondern diese umstürzen und zerstören muss. Das gehört für jeden Marxisten zum ABC. Aber nach ABC kommen im Alphabet eben auch noch andere Buchstaben. In "Staat und Revolution" geißelt Lenin die Reformisten, weil sie die sozialistische Revolution als einen langsamen, graduellen und friedlichen Wandel darstellen. Derselbe Lenin war imstande, 1920 zu erklären, dass es in Großbritannien aufgrund der enormen Stärke des Proletariats und seiner Organisationen durchaus möglich wäre, die sozialistische Transformation friedlich, ja sogar über das Parlament, durchzuführen - unter der Voraussetzung, dass die Gewerkschaften und die Labour Party von MarxistInnen geführt würden. Lenins Position bezüglich der Revolution war konkret und dialektisch, nicht formalistisch und abstrakt. Lenin näherte sich der Frage der Revolution immer im Lichte der konkreten historischen Bedingungen, die im jeweiligen Land vorherrschten. Natürlich bleiben in allen Ländern die wichtigsten Aufgaben für das Proletariat gleich. Es ist für die Arbeiterklasse notwendig, sich selbst als Klasse an und für sich zu konstituieren, eine revolutionäre Partei mit einer korrekten marxistischen Führung aufzubauen; es ist notwendig, den Widerstand der Ausbeuter zu brechen; den Staat zu zerschlagen usw. So wichtig und richtig diese allgemeinen Überlegungen auch sind, so sind sie doch nicht ausreichend, um die Frage der konkreten Formen und Stufen, in denen sich die Revolution entwickeln wird, geschweige denn die Frage der spezifischen Taktiken, welche die Revolutionäre verfolgen müssen, ausreichend zu beantworten. Das kann man auch nicht nach einem Rezept aus einem revolutionären Kochbuch auswendig lernen. Solche eine Handlungsanleitung existiert nicht, und falls es eine geben würde, dann würde sie mehr schaden als helfen. Die Bedingungen, unter denen sich eine Revolution entwickelt, werden von Land zu Land, von Periode zu Periode verschieden sein. Das ist offensichtlich. Und es ist ganz klar, dass sich die spezifische Taktik der revolutionären Partei entsprechend diesen Bedingungen ebenfalls unterscheiden wird. Fragen, wie der spezifische Anteil des Proletariats in der Gesamtbevölkerung, seine Beziehung zu den anderen Klassen, die Stärke seiner Organisationen, seine Erfahrungen, sein kulturelles Niveau, seine nationalen Traditionen, bestimmen diese Gleichung. Vor allem aber ist der entscheidende Faktor die Stärke und Reife des subjektiven Faktors - der revolutionären Partei und ihrer Führung (obwohl selbst dieser Satz nicht von absoluter Gültigkeit ist; es gab auch Fälle, wo Revolutionen ohne eine revolutionäre Partei durchgeführt - wenn auch nicht konsolidiert - wurden, wie die Pariser Kommune oder Ungarn 1956). Das ist eine Schlüsselfrage. Aber wie diese Partei genau aufgebaut wird und vor allem wie sie in einer Massenbewegung eine führende Rolle einnehmen kann, das ist die entscheidende Frage. Wir werden später sehen, wie die Bolschewiki 1917 mit welchen Taktiken und mit welchen Losungen zum entscheidenden Faktor werden konnten. Im Lichte dieser Erfahrung wird es leichter sein, zu entscheiden, ob die Herangehensweise unserer Strömung einen Anpassungsbedarf hat oder nicht. Die grundlegenden Ideen des Marxismus sind die selben wie vor 100 Jahren. Unsere Aufgabe ist es aber nicht, halb verdaute Ideen wie ein Papagei immer nur nachzuplappern, sondern diese Ideen kreativ weiterzuentwickeln. Und vor allem müssen wir imstande sein, diese in der lebendigen Bewegung des Proletariats und seiner Organisationen anzuwenden. Letztere existieren nicht außerhalb von Zeit und Ort. Wenn wir nicht zu einer sterilen Sekte verkommen wollen, sondern wirklich in den Massenorganisationen Wurzeln schlagen wollen, dann müssen wir von der realen Arbeiterbewegung und der Arbeiterklasse ausgehen, wie wir sie historisch bedingt zu einer gegebenen Zeit vorfinden. Das war immer die Methode der großen marxistischen Denker der Vergangenheit, wie wir noch zeigen werden.
Wie Marx und Engels die Frage stellten
Sich auf die Erfahrung der Pariser Kommune stützend zeigten Marx und Engels auf, dass: "Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, dass die ‘Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann’." (Vorwort zur deutschen Ausgabe des Kommunistischen Manifests, 1872) Das ist ein elementarer Lehrsatz für jeden Marxisten. Der Marxismus ist aber nicht nur die Wiederholung einiger grundlegender Ideen, so korrekt sie auch sein mögen. Falls das der Fall wäre, wäre jeder kleine Sektierer ein so hervorragender Marxist wie Marx, Engels, Lenin und Trotzki zusammen. Es ist notwendig, die Theorie im Lichte der Erfahrungen zu vertiefen und auszuweiten. Diese Methode ist in den Schriften von Marx und Engels sehr gut erkennbar, deren Sichtweise des Staates sich über die Jahrzehnte hinweg entwickelt hat. Von Anfang an waren die Begründer des Wissenschaftlichen Sozialismus sehr vorsichtig in ihrer Herangehensweise an die Frage der Gewalt. Sie erkannten nicht nur die Gefahr im Versuch, das Proletariat in Abenteuer und unausgereifte Aufstände hinein zu schicken, sondern auch, dass eine plumpe Präsentation dieser Frage ein Geschenk für die Propaganda der Feinde des Kommunismus darstellen würde. So drückte sich Engels im ersten programmatischen Statement des Marxismus, die "Grundsätze des Kommunismus", äußerst vorsichtig aus: "Frage 16: Wird die Aufhebung des Privateigentums auf friedlichem Wege möglich sein? Antwort: Es wäre zu wünschen, dass dies geschehen könnte, und die Kommunisten wären gewiss die letzten, die sich dagegen auflehnen würden. Die Kommunisten wissen zu gut, dass alle Verschwörungen nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich sind. Sie wissen zu gut, dass Revolutionen nicht absichtlich und willkürlich gemacht werden, sondern dass sie überall und zu jeder Zeit die notwendige Folge von Umständen waren, welche von dem Willen und der Leitung einzelner Parteien und ganzer Klassen durchaus unabhängig sind. Sie sehen aber auch, dass die Entwicklung des Proletariats in fast allen zivilisierten Ländern gewaltsam unterdrückt und dass hierdurch von den Gegnern der Kommunisten auf eine Revolution mit aller Macht hingearbeitet wird. Wird hierdurch das unterdrückte Proletariat zuletzt in eine Revolution hineingejagt, so werden wir Kommunisten dann ebenso gut mit der Tat wie jetzt mit dem Wort die Sache der Proletarier verteidigen." (Engels, Grundsätze des Kommunismus) Am Ende seines Lebens überdachte Engels in seinem berühmten Vorwort zu Marx’ "Die Klassenkämpfe in Frankreich" die Frage der revolutionären Taktik. Engels Feststellungen wurden späten von den Führern der deutschen Sozialdemokratie verwendet, um ihre reformistische Politik zu rechtfertigen. Selbst ein oberflächliches Lesen dieser Zeilen zeigt aber, dass Engels die Bedeutung des Aufstandes keinesfalls zurückwies, sondern dass er nur vor Abenteurertum, Aufständen zum falschen Zeitpunkt und Konspirationen von Minderheiten ("Blanquismus") warnte: "Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewussten Minoritäten an der Spitze bewusstloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt. Damit aber die Massen verstehen, was zu tun ist, dazu bedarf es langer, ausdauernder Arbeit und diese Arbeit ist es gerade, die wir jetzt betreiben, und das mit Erfolg, der die Gegner zur Verzweiflung bringt." (Engels, Einleitung zu ‘Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850’ von Karl Marx, 1895) Der wichtigste Punkt dieser Sätze von Engels ist ganz einfach die Notwendigkeit für die revolutionäre Partei, die Massen für sich zu gewinnen. Dies ist eine Grundvoraussetzung für die Durchführung einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Dies erfordert eine mehr oder weniger lange Periode der Vorbereitung, die durch geduldige Propaganda, Agitation und Organisierung geprägt ist, wobei man auf alle möglichen Arbeitsfelder, von der Gewerkschafts- bis zur Parlamentsarbeit, zurückgreifen kann, um so die breitesten Schichten der Arbeiterklasse zu gewinnen. Zu diesem Thema werden wir später zurückkehren. Unter der Voraussetzung bestimmter Bedingungen schlossen Marx und Engels die Möglichkeit einer friedlichen Machtübernahme durch das Proletariat nicht aus, obwohl es zu ihrer Zeit nur ein Land gab, wo die Bedingungen für eine solche Perspektive existierten - nämlich Großbritannien. Im Vorwort zur englischen Ausgabe des Kapitals aus dem Jahre 1886 schreibt Engels: "In einem solchen Moment sollte sicherlich die Stimme eines Mannes gehört werden, dessen ganze Theorie das Ergebnis eines lebenslangen Studiums der ökonomischen Geschichte und Lage Englands ist, und den dieses Studium zu dem Schluss geführt hat, dass zumindest in Europa, England das einzige Land ist, wo die unvermeidliche soziale Revolution gänzlich durch friedliche und gesetzliche Mittel durchgeführt werden könnte. Gewiss hat er nie vergessen hinzuzufügen, dass er kaum erwarte, die englische herrschende Klasse werde sich ohne ‘pro-slavery rebellion’ [Rebellion für die Sklaverei] dieser friedlichen und gesetzlichen Revolution unterwerfen." (Kapital Band 1) 1918 schrieb Lenin einen interessanten Artikel mit dem Titel "Linke Kindereien und kleinbürgerliche Mentalität", der eine profunde Bewertung der Positionen von Marx und Engels in Bezug auf die Taktik des Proletariats in der sozialistischen Revolution beinhaltet. Erinnern wir uns noch einmal, dass dies der selbe Lenin war, der ein Jahr zuvor "Staat und Revolution" geschrieben hatte. Lenin machte auf die Tatsache aufmerksam, dass Marx und Engels zu einem bestimmten Zeitpunkt der Meinung waren, dass in Großbritannien die Gelegenheit existiert hat, friedlich zum Sozialismus zu kommen, und sogar, dass die Arbeiter die Bourgeoisie "entschädigen". später eingehen werden), weist Lenin hier auf einen wichtigen Punkt hin, indem er auf Bucharin und die anderen "Linken Kommunisten" eingeht, die dahingehend argumentierten, dass es aus Prinzip undenkbar ist, vorzuschlagen, dass ein Arbeiterstaat die Bourgeoisie "entschädigt": „Und Marx sagte: ‘Unter gewissen Umständen werden es die Arbeiter keineswegs ablehnen, die Bourgeoisie auszukaufen. Marx band sich - und den künftigen Führern der sozialistischen Revolution - nicht die Hände in bezug auf die Formen, die Methoden, die Art und Weise der Umwälzung, denn er verstand sehr wohl, was für eine Unmenge neuer Probleme dann erstehen wird, wie sich im Laufe der Umwälzung die gesamte Situation ändern, wie oft und wie stark sie sich im Laufe der Umwälzung ändern wird." (Lenin, Über "linke" Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit, 5.5.1918, in: Gesammelte Werke, Bd. 27, S.336)
Marx über Großbritannien
Warum sah Marx in Großbritannien das einzige Land, wo eine friedliche Revolution möglich wäre? Der am häufigsten zitierte von Lenin angegebene Grund ist die Tatsache, dass damals Großbritannien "noch immer das Modell eines rein kapitalistischen Landes war, aber ohne eine Militärclique und, zu einem beträchtlichen Grade, ohne eine Bürokratie. Daher sah Marx in Großbritannien eine Ausnahme, wo die Revolution, sogar eine Volksrevolution, möglich schien, und in der Tat sogar ohne die Vorbedingung, dass die ‘fertige’ Staatsmaschinerie möglich war." (Lenin, On Britain, S. 352) Als Resultat bestimmter historischer Besonderheiten (als Inselmacht, die kein sonderlich großes stehendes Heer benötigte, aber ihre Dominanz in Europa durch eine Kombination aus ihrer starken Marine und der Politik des ‘teile und herrsche’ aufrechterhielt) war der Staat in Großbritannien schwächer als in den anderen europäischen Ländern, wo das Fehlen solch natürlicher Verteidigungsanlagen die Notwendigkeit schuf, riesige stehende Heere aufzubauen, was all die damit verbundenen negativen Begleiterscheinungen an Bürokratie und Militarismus hervorbrachte. Marx schrieb dies zu einer Zeit, als sich der britische Kapitalismus noch immer in seiner progressiven Entwicklungsphase befand, also vor dem Aufstieg des Imperialismus und des Monopolkapitalismus. Lenin erklärte, dass 1917 die Unterscheidung von Marx bezüglich Großbritannien seine Gültigkeit verloren hatte, da in der Epoche des imperialistischen Niedergangs der Staat selbst in den USA sowie in Großbritannien im Grunde derselbe war wie in den restlichen entwickelten kapitalistischen Ländern. Nichtsdestotrotz waren der unterentwickelte Charakter des Staates und die relative Schwäche der militärisch-bürokratischen Kaste nur ein Element, die Marx zu der Meinung veranlassten, dass im Großbritannien des 19. Jahrhunderts eine friedliche Veränderung möglich gewesen sei. Es war aber sicher nicht der einzige Grund für diese These. Die Stärke der britischen Arbeiterklasse und ihrer Organisationen war eine der Hauptgründe, die Marx zu diesem Schluss kommen ließen, obwohl er sehr vorsichtig war und hinzufügte, dass die herrschende Klasse eine "Rebellion der Sklavenhalter" organisieren könnte, um die neue Arbeiterregierung zu stürzen. Im oben genannten Artikel spezifiziert Lenin weiter aus, was für Marx und Engels die Idee einer friedlichen Revolution in Großbritannien möglich erscheinen ließ: „Die Unterordnung der Kapitalisten unter die Arbeiter hätte damals in England durch folgende Umstände gesichert werden können: 1. durch das völlige Überwiegen der Arbeiter, der Proletarier, in der Bevölkerung, da eine Bauernschaft nicht vorhanden war (in England waren in den siebziger Jahren Anzeichen vorhanden, die auf außerordentlich rasche Erfolge des Sozialismus unter den Landarbeitern hoffen ließen); 2. durch die ausgezeichnete Organisiertheit des Proletariats in den Gewerkschaften (England war damals in dieser Hinsicht das erste Land der Welt); 3. durch das verhältnismäßig hohe Kulturniveau des Proletariats, das durch die Schule einer jahrhundertlangen Entwicklung der politischen Freiheit gegangen war; 4. durch die lange Gewohnheit der großartig organisierten Kapitalisten Englands - damals waren sie die bestorganisierten Kapitalisten aller Länder der Welt (jetzt hat Deutschland diese Priorität übernommen) - , politische und ökonomische Fragen durch Kompromisse zu lösen. Infolge dieser Umstände also konnte damals der Gedanke aufkommen, dass eine friedliche Unterordnung der Kapitalisten Englands unter seine Arbeiter möglich sei." (Lenin, Über "linke" Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit, 5.5.1918, in: Gesammelte Werke, Bd. 27, S.336) Diese Zeilen zeigen sehr klar, dass aus der Sicht Lenins, die zu diskutierende Problematik absolut nicht auf die Frage der historischen Besonderheiten des Staates im Großbritannien des 19. Jahrhunderts beschränkt werden kann. Er erklärt, dass die grundlegenden Bedingungen, die eine friedliche Veränderung der Gesellschaft möglich machen, aus dem außergewöhnlich vorteilhaften Kräfteverhältnis zwischen den Klassen resultiert, das sich in Wirklichkeit daraus ergab, dass Großbritannien zu der Zeit das weltweit einzige Land war, wo sich die kapitalistische Industrie voll entwickelt hatte. Es ist wahr, dass der britische Staat heute den Staaten anderer kapitalistischer Länder ähnlicher geworden ist, es ist aber um nichts weniger wahr, dass die Entwicklung der Produktivkräfte über die letzten 100 Jahre hinweg, und insbesondere seit 1945, zu einer enormen Stärkung der Arbeiterklasse geführt hat. Das bedeutet, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen wesentlich verändert hat, und zwar zum Vorteil des Proletariats. Zu Marx’ Lebzeiten stellte die Arbeiterklasse nur in Großbritannien die Mehrheit in der Gesellschaft. Gegenwärtig macht die Arbeiterklasse in jedem entwickelten kapitalistischen Land die entscheidende Mehrheit in der Gesellschaft aus, wobei die riesigen gesellschaftlichen Reserven der Reaktion, vor allem die Bauernschaft, weitgehend im Proletariat selbst aufgegangen sind. Das hat vor allem in den entwickelten kapitalistischen Ländern große Konsequenzen für die zukünftigen Perspektiven der sozialistischen Revolution.
Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen
In seinem Dokument bezieht sich GO auf die Frage des veränderten Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, aber er zieht nicht die nötigen Schlussfolgerungen aus seinen eigenen Worten. Das Verschwinden der Bauernschaft in Frankreich und anderen Ländern ist eine Tatsache von größter Bedeutung, weil sie der Reaktion ein wichtiges gesellschaftliches Reservoir nimmt. Erinnern wir uns nur daran, dass die Bauernschaft in der Vergangenheit immer wieder das Rückgrad bonapartistischer und zu einem gewissen Ausmaß auch der faschistischen Reaktion bildete. Heißt diese Tatsache selbst nun, dass die Reaktion ein- für allemal von der Tagesordnung zu streichen ist? Niemand hat jemals so etwas auch nur vorgeschlagen. Selbst in Großbritannien, wo die Arbeiterklasse seit mehr als 100 Jahren die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stellt und wo die Bauernschaft nicht wirklich existiert, gibt es die Möglichkeit einer bonapartistischen Reaktion, wahrscheinlich in Gestalt einer Art royalistisch-bonpartistischen Putsches (obwohl die Monarchie heutzutage nicht mehr die Kraft von einst darstellt, nichtsdestotrotz verfügt sie über beträchtliche Unterstützung in den rückständigeren Schichten der Bevölkerung), falls die Arbeiterklasse darin versagt, die Gesellschaft zu verändern. Und das ist um vieles noch korrekter für Länder wie Italien, Spanien und Griechenland, wo sich die extreme Schwäche des Kapitalismus in einer sich vertiefenden politischen Krise und einer kontinuierlichen Instabilität ausdrückt. Stimmt es, dass unsere Strömung die sozialistische Veränderung der Gesellschaft als einen friedlichen, schmerzlosen Prozess ohne der Gefahr einer Reaktion und ohne Widerstand von Seiten der Ausbeuter und ihres Staates darstellt? Zitieren wir aus einer zufällig ausgewählten Broschüre zur Staatsfrage. In dieser Broschüre mit dem Titel "Der Staat - eine Warnung an die Arbeiterbewegung" können wir folgendes lesen: "Eine neue Periode tut sich vor uns auf, in welcher nur die Veränderung der Gesellschaft die Probleme der Arbeiterklasse lösen kann. Eine Labour-Regierung muss eine Politik umsetzen, wie sie von dieser Zeitung propagiert wird. Die Macht des Big Business muss zerbrochen werden, indem die größten Unternehmen verstaatlicht und die Produktion auf der Grundlage eines Plans organisiert werden. Solange das nicht getan wird, ist es unvermeidlich, dass die herrschende Klasse aus Verzweiflung versuchen wird, die Probleme ihres erschütterten Systems auf Kosten des Lebensstandards und der Rechte der Arbeiterklasse zu lösen. Der Preis der Freiheit ist ewige Schlaflosigkeit, so sagte man! Alle Rechte, die die Arbeiterklasse besitzt - das Recht zu streiken, sich zu organisieren, frei seine Meinung zu äußern, das Recht auf eine freie Presse - wurden ihr nicht freiwillig von der herrschenden Klasse zugestanden, sondern sind das Ergebnis harter Kämpfe der Arbeiterklasse selbst. Selbst das Recht frei zu wählen, können uns die Tories und die herrschende Klasse wieder nehmen, wenn es ihr System bedroht. Wir sehen bereits, wie sie aus einem verzweifelten Versuch heraus, eine sich nach links bewegende Labour-Regierung zu stoppen, das alte Wahlsystem aufzugeben bereit sind und zum Verhältniswahlrecht zurückkehren. Die Arbeiterklasse kann sich bei der Verteidigung ihrer Rechte und Interessen nur auf die Gewerkschaften und die Labour Party stützen. Sie kann sich nur auf ihre eigene Macht und Stärke, ihre eigenen Organisationen, ihr eigenes Bewusstsein und ihre Solidarität verlassen. Es war einzig und allein ihre Macht, die zur Niederlage der Regierung Heath durch den Bergarbeiterstreik im Februar 1974 führte. Thatcher zog aus Angst vor einer Konfrontation mit den Bergarbeitern in der Frage der Schließung von Gruben zurück, weil die Arbeiterklasse heute tausendmal stärker ist als zu Zeiten des Generalstreiks von 1926. Es ist notwendig, dass die aktiven Schichten der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung die Notwendigkeit einer sozialistischen Veränderung der Gesellschaft als drückendes Problem erkennen. Das kann dann an die Masse der Arbeiterklasse herangetragen werden, um den Alptraum von Verschwörungen, von Komplotten und anderen Entwicklungen zu verhindern. Sie dürsten nach Revanche, um der Arbeiterklasse eine Lektion zu erteilen. Falls sie bis jetzt dabei versagten, ist das nur, weil sie vor der Stärke der Organisationen der Arbeiterklasse Angst haben. Wenn diese Stärke aber nicht für die Veränderung der Gesellschaft organisiert wird, dann ist es unvermeidlich, und zwar nicht nur in Großbritannien sondern auch in anderen Ländern des Westens, dass es zu ähnlichen Komplotten kommen wird. Aus dem Versagen bei der Veränderung der Gesellschaft kann eine Situation entstehen, in der in Großbritannien ein Bürgerkrieg möglich wird. Die Arbeiterklasse wird es niemals schweigsam akzeptieren, dass man ihr ihre Rechte wegnimmt. Sie werden reagieren wie die spanischen Arbeiter 1936 im Bürgerkrieg reagierten. Sie werden all ihre Rechte verteidigen, einschließlich des Rechts zu wählen."
Faschismus und Bonapartismus
Wir zitieren hier und auch an anderen Stellen sehr ausführlich, um so jegliche Konfusion über die Bedeutung der Zitate erst gar nicht aufkommen zu lassen. Der Titel dieses Artikels war "Ein Putsch in Großbritannien? Enthüllungen einer Verschwörung im Jahre 1968. Ein Einblick in die totalitäre Bedrohung." Er wurde erstmals 1981 in der Zeitung veröffentlicht. Der Autor war Ted Grant. Diese Broschüre drückt ganz klar und unzweideutig unsere Haltung zum bürgerlichen Staat aus. Die selbe Position wurde seither unzählige Male wiederholt, was GO nicht bewusst zu sein scheint. Ihm zufolge haben wir unsere Position zum Staat geändert. Worauf stützt er seine Annahme? Auf einen Artikel in unserer Zeitung (Socialist Appeal – Anmerkung der Übersetzer) und einige persönliche Gespräche und Reden. Davon ausgehend fordert GO nun, nicht einige kleinere Änderungen, sondern eine Änderung in der gesamten "Herangehensweise" an diese Frage, und nicht weniger! Im letzten Dokument über Weltperspektiven gibt es einen Teil über "Faschismus, Bonapartismus und Demokratie", der zeigt, dass die Position unserer Strömung sich nicht im geringsten verändert hat. Zitieren wir daraus: "Über 40 Jahre hindurch haben die Arbeiter der meisten entwickelten kapitalistischen Länder die Existenz demokratischer Rechte als Selbstverständlichkeit angesehen. Selbst in Ländern wie Spanien und Portugal, die lange Perioden der Diktatur erfahren haben, oder Griechenland, wo die Junta sieben Jahre lang andauerte, wird die Einführung der bürgerlichen Demokratie als irreversibel betrachtet. In der Realität ist die bürgerliche Demokratie eine sehr zerbrechliche Pflanze, die für gewöhnlich nur dann existiert, wenn sich die herrschende Klasse nicht direkt von einer Revolution bedroht fühlt. Unter den Bedingungen des ökonomischen Aufschwungs kann es sich die Bourgeoisie leisten, gewisse Reformen und Zugeständnisse herzugeben, um die Klassenwidersprüche abzuschwächen. Normalerweise bevorzugt die Kapitalistenklasse ein demokratisches Regime, welche die ökonomischste Regierungsform darstellt. Sie können sich die Illusion einer Demokratie leisten, während in der Praxis alle Schalt- und Kontrollhebeln fest in ihren Händen bleiben. Sie kontrollieren die parlamentarischen Vertreter durch Tausende unsichtbare Fäden. Sie besitzen die Banken und Monopole und üben somit unvorstellbaren Druck auf jede Regierung aus. Sie besitzen die Massenmedien und formen so die ‘öffentliche Meinung’. Letztendlich herrschen sie, indem sie sich auf die Führer der Arbeiterbewegung stützen, die keine Absichten haben, über die Grenzen ‘des Systems’ hinauszugehen. In anderen Worten, eine bürgerliche Demokratie ist in Wirklichkeit die verhüllte Diktatur der Banken und Monopole. In der modernen Epoche, wo die Konzentration des Kapitals ein noch nie da gewesenes Ausmaß erreicht hat, ist die Macht der Monopole absoluter als je zuvor. Solange sie mit diesen Mitteln herrschen können, braucht die Bourgeoisie nicht im Faschismus oder im Bonapartismus Zuflucht nehmen. Die Bourgeoisie kann aber genauso leicht von der ‘Demokratie’ zum Bonapartismus wechseln, wie ein Mensch in einem Zug von der 1.Klasse in die 2.Klasse wechselt." (Weltperspektiven 1994, S.10, Heraushebung im Original). Und auf der nächsten Seite: "Es ist nicht ausgeschlossen, dass in der kommenden Periode in irgendeinem westeuropäischen Land eine Militär-Polizei-Diktatur errichtet werden könnte. Dies könnte aber nur auf der Grundlage schrecklicher Niederlagen der europäischen Arbeiterklasse geschehen. Solche Diktaturen hätten einen bonapartistischen Charakter, wie in Chile, wobei sehr wohl faschistische Methoden gegen die Arbeiterorganisationen eingesetzt würden, aber ohne die soziale Basis, die der Faschismus in seiner Originalform hatte. Die reaktionären Organisationen wie jene von Le Pen würden in so einem Fall als Hilfskräfte des bürgerlichen Staates eingesetzt, ähnlich den faschistischen Organisationen der Vaterlands- und Freiheitspartei in Chile." (WP 1994, S.11) Wogegen erhebt Genosse GO nun Einspruch? Gegen unsere Feststellung, dass es aufgrund des überwiegend günstigen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen möglich wäre, eine friedliche Transformation der Gesellschaft zu erreichen, falls die Führer der Arbeiterorganisationen bereit wären, die gesamte Kraft der Arbeiterbewegung zu diesem Zweck zu mobilisieren. Im WP-Dokument nehmen wir als Beispiel den Fall Italien: "In Italien gab die noch nie da gewesene Krise des bürgerlichen Regimes den Führern der PDS eine goldene Gelegenheit in die Hand. Mit einer korrekten Politik hätten sie an die Macht kommen können. Eine friedliche Transformation der italienischen Gesellschaft wäre sehr wohl möglich gewesen." Diese Zeilen sind keinesfalls "unklar und zweideutig". Sie sind für jeden völlig klar, der sie verstehen will. Aber sagen sie, dass eine friedliche Transformation in Italien unvermeidlich ist, oder sogar wahrscheinlich ist, nur weil das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen objektiv günstig ist? Lassen wir das Dokument für sich selbst sprechen. In der nächsten Zeile schreiben wir: "Aber Jahrzehnte der reformistischen Degeneration bedeuten, dass diese ‘kommunistischen’ Führer völlig die Orientierung verloren haben. Ochetto versucht sich selbst bei der herrschenden Klasse einzuschmeicheln, indem er versucht, sich als ‘gemäßigt und verantwortungsbewusst’ darzustellen. Er verspricht, selbst die gegen die Arbeiterklasse gerichtete Sparpolitik Ciampis umzusetzen, das Privatisierungsprogramm fortzusetzen und er hat bereits angedeutet, dass es nicht schlecht wäre, wenn Ciampi in einer linken Regierung vertreten wäre! Wie immer erreichen die Reformisten gerade das Gegenteil von dem, was sie erreichen wollen. Die italienische Mittelklasse kann nicht mit einer Politik gewonnen werden, die eine reine Fortsetzung der Linie der diskreditierten Christdemokraten darstellt. Unter den Bedingungen der Krise hält die Masse des Kleinbürgertums Ausschau nach radikalen Lösungen für seine Probleme und einem deutlichen Bruch mit der Vergangenheit. Das Versagen der PDS-Führung, einen echten Ausweg anzubieten, führte zu einem dramatischen Aufstieg des rechten Demagogen Berlusconi und auch ein starkes Anwachsen der Unterstützung für den neofaschistischen MSI. Berlusconi ist ein rechter bürgerlicher Politiker aber kein Faschist. Dies gilt auch für die reaktionäre Lega Nord, die nun an Boden zu verlieren scheint. Der MSI hat seinen Namen gewechselt und versucht, die Stimmen des rechten Zentrums für sich zu gewinnen. Mit aller Wahrscheinlichkeit wird er als eine weitere rechte bürgerliche Partei enden. Der faschistische Flügel wird sich abspalten und eine kleine, aber bösartige Sekte, wahrscheinlich mit terroristischen Aktivitäten, werden. Die italienische Bourgeoisie wird den Faschisten nicht mehr die Macht übergeben. Sie haben sich mit Mussolini zu sehr die Fingern verbrannt. Falls die PDS aber an die Macht kommt und eine Politik der Konterreformen umsetzt, wird dies den Weg für eine rasende rechte Reaktion bereiten. Mit dem Kollaps der Christdemokraten stehen wir in Italien am Beginn einer klaren Polarisierung zwischen links und rechts. Mit der sich vertiefenden Krise wird auch diese Polarisierung extremer Ausmaße annehmen. In der nächsten Periode wird die italienische Arbeiterklasse immer und immer wieder versuchen, die Gesellschaft zu verändern. Wird sie dabei scheitern, wird die italienische Bourgeoisie einmal mehr versuchen, ihre Probleme zu lösen, indem sie auf eine Form des Militärputsches zurückgreift. Das Schicksal der chilenischen Arbeiter ist eine dunkle Warnung, was dann passieren kann - nicht nur in Italien." Ist das nicht klar genug? Wir machen die korrekte Bemerkung, dass die Führer von Millionen organisierten Arbeitern in der Position wären (Konjunktiv), die Bourgeoisie ein für alle Mal zu entmachten, falls sie eine korrekte (sprich eine marxistische) Politik hätten, und wir erklären, dass die feige Politik der Klassenkollaboration der ex-stalinistischen Führung Bedingungen für eine blutige Reaktion schaffen werden - "und nicht nur in Italien".
Klassenprogramm
Stimmt der Genosse mit diesen Zeilen überein? Welche andere "Herangehensweise" schlägt er vor? Die "Unvermeidbarkeit eines Bürgerkrieges"? Solch eine Herangehensweise würde uns nur von den selbst fortschrittlichsten Arbeitern, einmal ganz abgesehen von den Massen, isolieren. Einverstanden, diese Position würde vielleicht von den am meisten konfusen und ultralinken Studenten begeistert aufgenommen werden, die sonst zu den Sekten blicken. Es würde uns aber nicht in tausend Jahren gelingen, in der Arbeiterklasse Stützpunkte aufzubauen. Wie legen wir den fortschrittlichsten Teilen der Arbeiterklasse und der Jugend die Gefahr einer Reaktion dar? Im WP-Dokument erklären wir: "Es ist notwendig, die Arbeiter und die Jugend vor der Bedrohung durch die Reaktion zu warnen. Vor allem ist es notwendig, die Kader mit einem klaren Verständnis bezüglich des Faschismus und des Bonapartismus zu bewaffnen. Ein bonapartistisches Regime wäre sehr instabil und würde sich wahrscheinlich nicht mehr als einige wenige Jahre lang halten können. Nichtsdestotrotz zeigt die Erfahrung von Chile, Griechenland und Argentinien, dass solch ein Regime für die Arbeiterklasse einen Alptraum darstellen würde. Die ‘demokratischen’ Bürgerlichen würden nicht zögern, die faschistischen Banden gegen die Arbeiterorganisationen zu hetzen, Mord, Folter und alle möglichen Arten der Einschüchterung einzusetzen, um ihre Klassenherrschaft zu verteidigen. Es ist aber auch wichtig, in dieser Frage nicht das Augenmaß zu verlieren. Die schrille Hysterie der Sekten, die den Faschismus jederzeit "hinter jedem Baum" wittern, desorientieren lediglich die kleine Minderheit an Arbeitern und Jugendlichen, die das Pech haben, in ihren Einflussbereich zu gelangen. Sie haben kein Verständnis bezüglich des Faschismus. Sie lassen ganz einfach den Charakter der gegenwärtigen Periode, das reale Kräfteverhältnis zwischen den Klassen oder die Interessen der Bourgeoisie außer acht. Der Kapitalismus befindet sich in einer Sackgasse und tendiert dadurch, Teile des Kleinbürgertums und des Lumpenproletariats verrückt zu machen. Unter bestimmten Bedingungen können sie die Arbeiterklasse unterstützen, wenn diese in der Praxis beweisen kann, dass sie bereit ist, als wirklicher Herr über die Gesellschaft aufzutreten. Falls die Arbeiterklasse von ihren Führern aber paralysiert wird, können diese Schichten wieder leicht ins Lager der Reaktion schwenken. Der stetige Anstieg an rassistischen Angriffen in allen Ländern ist ein Ausdruck für die Sackgasse, in der sich der Kapitalismus befindet. Während der Periode des Wirtschaftsaufschwungs, benötigte der Kapitalismus eine große Anzahl an Immigranten als billige Arbeitskräfte. Nun müssen sie als Sündenböcke für die Krise des Kapitalismus herhalten. Es ist selbstverständlich, dass die Marxisten im Kampf gegen den Rassismus an der vordersten Front stehen müssen. Der Kampf gegen den Rassismus ist aber ein KLASSENKAMPF. Die Interessen der schwarzen, asiatischen, türkischen und arabischen Arbeiter sind die selben wie die ihrer weißen Brüder und Schwestern. Das muss die ganze Zeit im Mittelpunkt unserer Argumentation stehen. Nichts ist schädlicher für die Sache des Kampfes gegen den Rassismus als der Versuch, die Immigranten und die europäischen Arbeiter zu spalten. Gleichzeitig müssen wir ähnlich wie Trotzki erklären, dass der Kampf gegen den Faschismus ein physischer Kampf ist. Es kann nicht angehen, dass wir passiv faschistische Übergriffe auf Immigranten akzeptieren. Verteidigungskomitees müssen organisiert werden, jedoch auf einer KLASSENgrundlage. Versuche, Verteidigungskomitees nur mit Immigranten isoliert vom Rest der Arbeiterklasse zu organisieren, spielen nur in die Hände der Rassisten, genauso wie die Idee, dass nur Immigranten die antirassistische Bewegung anführen sollten. Wir müssen für den Aufbau gemeinsamer Verteidigungskomitees von weißen und schwarzen Arbeitern durch die Betriebsrätekomitees, die Gewerkschaften und SP-Sektionen eintreten. Es ist notwendig, den Kampf gegen Rassismus und Faschismus mit der Perspektive einer sozialistischen Gesellschaftsveränderung zu verbinden. Ohne dem wird auch die Wahl einer sozialistischen Regierung das Problem nicht lösen. Im Gegenteil, die Politik der Arbeiterführer mit dem Ziel, die Bourgeoisie zu besänftigen, wird die Krise nur noch mehr vertiefen und so den Weg für die Reaktion ebnen. Eine Politik der Konterreformen wird das Kleinbürgertum noch mehr entfremden und Teile davon sogar ins Lager der Faschisten treiben. Wenn die herrschende Klasse die Arbeiterklasse mit ‘normalen’ Mitteln nicht mehr im Zaum halten kann, wird sie nicht zögern, das Militär auf den Plan zu rufen. Oder genauer gesagt: Sie werden versuchen, in die Richtung einer Militärdiktatur zu gehen. Ein erster Schritt dahin wäre die Errichtung eines parlamentarischen Bonapartismus, wie die Regimes Von Papen und Schleicher in Deutschland vor der Machtübernahme durch Hitler. Vor kurzem erst versuchte die Regierung Amato per Dekret zu regieren. Das ist eine Warnung davor, was die italienische Bourgeoisie in der Zukunft machen wird. Falls die marxistische Strömung stark genug wäre, wäre es notwendig, eine energische Kampagne für eine Einheitsfront der Arbeiterparteien und -organisationen gegen solche Entwicklungen zu starten. Die gesamte Situation ist aber nicht zu vergleichen mit der Periode zwischen den beiden Weltkriegen. Damals hatten die Faschisten eine riesige soziale Reserve in Form der Bauernschaft und des Kleinbürgertums, einschließlich der Studenten. Nun ist das alles anders. Die Arbeiterklasse ist tausendmal stärker als damals, die Bauernschaft ist fast gänzlich verschwunden, und große Teile der Angestellten - Lehrer, Beamte, Bankangestellte usw. - haben sich dem Proletariat angenähert. Unter diesen Umständen wird es sich die Bourgeoisie zweimal überlegen, bevor sie auf eine offene Diktatur setzt. Falls die Arbeiterbewegung mit einem wirklich sozialistischen Programm bewaffnet wäre, könnte ein solcher Versuch sogar in einem totalen Umsturz der bürgerlichen Herrschaft enden. Lenin erklärte, dass eines der Merkmale einer vorrevolutionären Situation eine gewisse Gärung in den Mittelschichten der Gesellschaft ist. Durch die kapitalistische Krise in die Verzweiflung getrieben, sucht das Kleinbürgertum überall nach einem Ausweg. Falls die Arbeiterklasse und ihre Organisationen eine klare Führung anbieten, werden sich die kleinbürgerlichen Massen hinter ihr scharen. Fehlt eine solche Führung, können die Mittelschichten aber in die verschiedensten Richtungen schwenken. Gegenwärtig in Europa spiegelt sich diese Gärung im Kleinbürgertum in allen möglichen reaktionären Phänomenen wider: Lega Nord, Berlusconi, MSI, Le Pen, die deutschen Republikaner, die FPÖ usw. Sobald sich aber die Arbeiterklasse bewegt, kann sich das sehr schnell ändern. Vor allem wenn die Rechten an die Macht kommen und ihr Programm in der Realität auf die Probe gestellt wird, wird ihre kleinbürgerliche Basis sehr schnell dahin schmelzen. Falls Berlusconi z.B. die Wahlen gewinnt, wird das den Weg für einen massiven Linksruck in der italienischen Gesellschaft bereiten. Die Existenz dieser reaktionären Bewegungen ist der Preis, den wir für das Versagen der sozialistischen und ‘kommunistischen’ Führer in der Vergangenheit bezahlen müssen. Der einzige Weg, um die Reaktion in der Zukunft zu stoppen, liegt in einem unermüdlichen Kampf, die fortschrittlichsten Arbeiter und Jugendlichen, und durch sie die Massen, für ein wirklich sozialistisches Programm zu gewinnen." (WP 1994, S.12-3) (...) Wir wollen nun daran fortfahren, zu zeigen, dass unsere Herangehensweise - weit davon entfernt eine "sehr ernste Abkehr von der Sichtweise Lenins und Trotzkis" zu sein - in Wirklichkeit eine Fortsetzung der Methode der großen marxistischen Denker darstellt.
Lenin und "Defencism"
Der Unterschied zwischen abstrakter Politik und der dialektischen Methode zeigt sich sehr gut anhand der Herausbildung der Leninschen Position über die revolutionäre Taktik in der Periode von 1914 bis 1917. Im August 1914 schuf die Spaltung der II. Internationale eine völlig neue Situation. Im Lichte des beispiellosen Verrats durch die Sozialdemokratie war es notwendig, die kleinen und isolierten Kräfte des Marxismus international neu zu gruppieren und zu schulen. Lenin legte in dieser Phase ein besonderes Augenmerk auf die grundlegenden Prinzipien des revolutionären Internationalismus, vor allem betonte er die Unmöglichkeit einer Rückkehr zur alten Internationale und eine unversöhnliche Opposition zu allen Formen des Patriotismus (revolutionärer Defätismus). Um die Zweifel und die Schwankungen der bolschewistischen Führer zu bekämpfen, versuchte Lenin, diese Ideen in möglichst scharfen Ausdrücken zu verpacken - wie "den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln" und "die Niederlage der eigenen Bourgeoisie ist das kleinere Übel". Man könnte argumentieren, dass er dabei zuweilen übertrieben hat. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Lenin den Bogen überzogen hat. In den grundlegenden Fragen gibt es aber keinen Zweifel, dass Lenin auf der richtigen Linie gelegen ist. Wenn wir aber seine Methode nicht verstehen, nicht nur was er geschrieben hat, sondern auch warum er es geschrieben hat, werden wir nicht weiterkommen. Linksradikale und sektiererische Gruppen wiederholen immer wieder Lenin Worte, ohne auch nur eine einzelne Zeile wirklich verstanden zu haben. Sie nehmen seine Schriften über den Krieg als etwas Absolutes, unabhängig von Ort und Zeit. Sie verstehen nicht, dass Lenin damals nicht für die Massen, sondern für eine kleine Handvoll von Kadern in einem bestimmten historischen Kontext geschrieben hat. Wenn wir das nicht verstehen, können wir einen fundamentalen Fehler begehen. Um den Chauvinismus zu bekämpfen und die Unmöglichkeit einer Versöhnung mit der Sozialdemokratie, und insbesondere seinem linken Flügel (Kautsky und das "Zentrum"), zu betonen, verwendete Lenin einige Formulierungen, die zweifelsohne übertrieben waren. Diese Übertreibungen führten z.B. dazu, dass er Trotzkis Position als "zentristisch" bezeichnete, was völlig inkorrekt war. Unendliche Verwirrung war die Folge einer einseitigen Interpretation der Leninschen Position in dieser Periode. Als Lenin im März 1917 nach Russland zurückkehrte, änderte er seine Position fundamental. Nicht dass seine Ablehnung des imperialistischen Krieges oder seine Opposition gegen den Sozialchauvinismus nun kleiner gewesen wäre. Er blieb weiterhin extrem wachsam in Bezug auf ein Abweichen der bolschewistischen Führer in der Frage des Krieges. Lenins Position unterschied sich nach dem März 1917 aber ganz wesentlich von den Losungen, die er kurz zuvor noch vertreten hatte. Er sah, dass unter den konkreten Rahmenbedingungen die Masse der Arbeiter und Bauern Illusionen in die "Verteidigung der Revolution" hatten. Es war für die Bolschewiki absolut unerlässlich, auf diese Stimmung zu reagieren. Hätte Lenin seine alte Position beibehalten, wäre das völlig dogmatisch gewesen. Es hätte die Bolschewiki von der realen Bewegung der Arbeiter und Bauern abgeschnitten. Nur hoffnungslose Sektierer und Dogmatiker hätten den Unterschied nicht erkannt. In einer Rede an die Delegierten der bolschewistischen Fraktion in den Sowjets erklärte Lenin: "Die Massen gehen an die Frage nicht theoretisch, sondern praktisch heran. Unser Fehler ist das theoretische Herangehen. Einem revolutionären Krieg, der die revolutionäre Vaterlandsverteidigung wirklich rechtfertigt, kann der klassenbewusste Proletarier zustimmen. Bei den Vertretern der Soldatenmassen muss man praktisch an die Frage herangehen, anders geht es nicht. Wir sind durchaus keine Pazifisten. Die Grundlage ist aber: Welche Klasse führt den Krieg? Die Klasse der Kapitalisten, die mit den Banken eng verknüpft ist, kann keinen anderen Krieg führen als einen imperialistischen. Die Arbeiterklasse kann es." (Lenin, Gesammelte Werke, Bd. 36, S. 423) Es ist eine Tatsache, dass die Losungen nach "revolutionärem Defätismus" bei der Vorbereitung der Massen auf die Oktoberrevolution keine Rolle spielten. Nicht "die Niederlage Russlands ist das kleinere Übel" sondern "Frieden, Brot und Land" und "Alle Macht den Sowjets" waren nun die Hauptforderungen der Bolschewiki, die zum Sieg des Oktoberaufstandes führten. Wir werden den genauen Inhalt dieser Slogans später untersuchen. Einige könnten denken, dass Lenins Position eine "ernsthafte Abkehr von der Sichtweise Lenins" darstellten. Und von einem formalistischen, dogmatischen Standpunkt aus gesehen, stimmt das auch. Der Punkt ist aber, dass es unmöglich ist, die Massen zu gewinnen, wenn man keine flexible Taktik hat, die das reale Niveau des Bewusstseins der Arbeiterbewegung in Betracht zieht. Bevor man aber von der Eroberung der Macht sprechen kann, muss man einmal die Massen erobern. Ohne dieser Grundvoraussetzung ist das ganze Gerede von Aufstand, Sturz des Staates, "unvermeidlicher Bürgerkrieg", revolutionäre Gewalt, militärische Vorbereitungen, und was es da sonst noch geben mag, reines..."Geschwätz". "Jedes Gemüse hat seine Saison". Und jede Losung hat seine Zeit und seinen Platz. Die Vorstellung, dass Losungen außerhalb von Zeit und Ort stehen, ist charakteristisch für die sektiererische Psychologie. Da Politik für sie eine Sache kleiner Zirkel ohne Kontakt zur realen Welt ist, interessiert sie auch nicht die Einstellung der Massen. Eine wirklich marxistische Strömung, die danach strebt, die Massen, beginnend mit den fortschrittlichsten Schichten, zu gewinnen, muss sich die Frage aber ganz anders stellen. Als Lenin nach Russland zurückkehrte, wollte ein Teil der Bolschewiki unter dem Einfluss der Ungeduld von Teilen der Arbeiter der Klasse zu sehr vorauseilen. Sie machten die Linksradikalen und Anarchisten nach und erhoben die revolutionäre Forderung "Nieder mit der Provisorischen Regierung". Das war die Losung des Aufstands. Wie verhielt sich Lenin gegenüber dieser Strömung? Er war absolut dagegen. Warum? Weil diese Forderung keinesfalls dem wirklichen Niveau der Bewegung entsprach. Lenin war bis in die kleinste Fingerspitze ein Revolutionär, trotzdem war er ganz klar gegen diese Forderung. Stattdessen orientierte er die Partei auf die Eroberung der Massen. "Geduldig erklären" war die Devise. Was hätte GO dazu gesagt? Ist das nicht ein weiteres Beispiel, wo die revolutionäre Position der gewaltsamen Machtübernahme verlassen wurde? Wäre es nicht Lenins Pflicht gewesen, für den Bürgerkrieg einzutreten? Lenin jedoch prangerte zu einem bestimmten Zeitpunkt sogar jene an, die behaupteten, dass er für einen Bürgerkrieg stehen würde. Er leugnete ziemlich korrekt, dass die Bolschewiki für Gewalt stehen würden und legte die volle Verantwortung für Gewaltausbrüche auf die Schultern der herrschenden Klasse. Das passte natürlich den Ultralinken gar nicht, da diese nicht verstehen wollten, dass 9/10 der sozialistischen Revolution darin bestehen, durch Propaganda, Agitation, Erklärung und Organisation die Massen zu gewinnen. Ohne dem ist das ganze Gerede von Bürgerkrieg und Aufstand nur leeres Geschwätz irgendwelcher Schreibtischrevolutionäre oder unverantwortliches Abenteurertum (bzw. in der wissenschaftlichen Terminologie des Marxismus auch Blanquismus). Lenin meinte dazu: "Wenn wir vom Bürgerkrieg reden, noch ehe die Menschen seine Notwendigkeit begriffen haben, verfallen wir unzweifelhaft in Blanquismus." (Lenin, Gesammelte Werke, Bd. 24, S. 225) Nicht die Bolschewiki sondern die Bourgeoisie und ihre reformistischen Verbündeten erhoben ständig das Gespenst der Gewalt und des Bürgerkriegs. Wie reagierte Lenin darauf? Machte er "furchtlose" revolutionäre Reden, nahm er den Fehdehandschuh auf und warf er diesen dem Feind ins Gesicht? Sprach er von der Unvermeidbarkeit des Bürgerkriegs? Im Gegenteil, immer wieder leugnete er, dass die Bolschewiki Gewalt propagierten. Am 25. April protestierte er in der Prawda gegen die "dunklen Anspielungen" von "Minister Nekrasov" über "das Predigen von Gewalt" durch die Bolschewiki: "Sie lügen, Herr Minister und Mitglied der Partei der ‘Volksfreiheit’. Gewaltpropaganda betreibt Herr Gutschkow, wenn er Soldaten, die ihre Vorgesetzten absetzen, Strafen androht, Gewaltpropaganda betreibt die Ihnen befreundete ‘Russkaja Wolja’, die Pogromzeitung der Pogrom - ‘Republikaner’. Die ‘Prawda’ und ihre Gesinnungsgenossen betreiben nicht nur keine Gewaltpropaganda, im Gegenteil, völlig klar, eindeutig und bestimmt erklären sie, dass der Schwerpunkt unserer Arbeit jetzt ganz und gar in der Aufklärung der proletarischen Massen über ihre proletarischen Aufgaben liegt, die sie von dem vom chauvinistischen Taumel ergriffenen Kleinbürgertum unterscheiden." (Lenin, Gesammelte Werke, Bd. 24, S. 96-7) Am 4. Mai beschloss das Zentralkomitee der Bolschewiki eine von Lenin geschriebene Resolution, mit dem Ziel, die Petrograder Parteiführung, die den Ereignissen vorauseilte, zu bremsen. Die volle Verantwortung für jegliche Gewalt wurde auf die Provisorische Regierung und ihre Unterstützer geschoben, um so die "kapitalistische Minderheit" und ihre "Ablehnung, sich dem Willen der Mehrheit unterzuordnen", zu beschuldigen. Hier zwei Absätze dieser Resolution: "1. Die Agitatoren und Redner der Partei müssen die niederträchtige Lüge der kapitalistischen und kapitalistenfreundlichen Zeitungen entlarven, wonach wir angeblich mit Bürgerkrieg drohen. Das ist eine niederträchtige Lüge, denn gerade im gegenwärtigen Augenblick, solange die Kapitalisten und ihre Regierung nicht imstande sind und es nicht wagen, Gewalt gegen die Massen anzuwenden, solange die Soldaten- und Arbeitermasse ihren Willen frei kundtut und alle Behörden frei wählt und absetzt - in einem solchen Augenblick ist jeder Gedanke an einen Bürgerkrieg naiv, sinnlos, absurd, in einem solchen Augenblick ist die Unterordnung unter den Willen der Mehrheit der Bevölkerung und die freie Kritik an diesem Willen seitens der unzufriedenen Minderheit notwendig; wenn es zu Gewalttätigkeiten kommt, so fällt die Verantwortung auf die Provisorische Regierung und ihre Anhänger. 2. Die Regierung der Kapitalisten und ihre Zeitungen verhüllen durch ihr Geschrei gegen den Bürgerkrieg nur die Tatsache, dass sich die Kapitalisten, die bekanntlich eine verschwindende Minderheit des Volkes ausmachen, nicht dem Willen der Mehrheit unterordnen wollen." (Lenin, Gesammelte Werke, Bd. 24, S. 189) Lenin verstand, dass die Arbeiterklasse aus Erfahrungen lernt, besonders aus den Erfahrungen großer Ereignisse. Der einzige Weg, wie eine kleine revolutionäre Strömung die Massen erreichen kann, ist, indem man den Lauf der Ereignisse Schulter an Schulter mit den Massen verfolgt, an den tagtäglichen Kämpfen teilnimmt, Forderungen aufstellt, die dem tatsächlichen Niveau der Bewegung entspricht und geduldig die Notwendigkeit einer völligen Veränderung der Gesellschaft als einzigen Ausweg erklärt. Mit schrillen Rufen nach Aufstand und Bürgerkrieg wird man die Massen, ja nicht einmal die fortschrittlichsten Schichten, nicht gewinnen können - im Gegenteil. Wie wir gesehen haben, gilt dies sogar in Mitten einer Revolution. Und in der gegenwärtigen Phase, in der der revolutionäre Umsturz des Kapitalismus nicht einmal in den Köpfen der fortschrittlichsten Arbeiter eine echte Rolle spielt, ist dies hundertmal mehr der Fall. Im Gegenteil, wir müssen die Schuld für Gewalt und Bürgerkrieg den reformistischen Führern geben, die es in der Hand hätten, die Macht friedlich zu übernehmen, und ein Blutvergießen unvermeidlich machen, weil sie eben gerade diesen Schritt ablehnen. Dies war die Position, die unsere Strömung immer eingenommen hat. GO meint, darin eine "sehr ernste Abkehr von der Sichtweise Lenins und Trotzkis" finden zu können. Eine ernsthafte Studie der Taktik der Bolschewiki im Jahre 1917 zeigt aber, dass gerade das Gegenteil der Fall ist.
„Alle Macht den Sowjets"
Jeder weiß, dass dies 1917 die zentrale Losung von Lenin und Trotzki war. Aber nur wenige haben den wirklichen Inhalt dieser Forderung verstanden. Was bedeutete nun die Losung "Alle Macht den Sowjets"? Bürgerkrieg? Aufstand? Die Machtergreifung durch die Bolschewiki? Weit gefehlt. Die Bolschewiki waren in den Sowjets eine Minderheit. Die reformistischen Parteien, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre dominierten die Sowjets. Die zentrale Aufgabe war nicht die Machtübernahme, sondern die Mehrheit, die Illusionen in die Reformisten hegte, für die Bolschewiki zu gewinnen. Die Bolschewiki stützten ihre "geduldigen Erklärungen" auf die Idee, die sich wie ein roter Faden durch Lenins Artikel und Reden von März bis zum Vorabend des Oktoberaufstandes zieht, dass die reformistischen Führer selber die Macht übernehmen sollten, da dies eine friedliche Transformation der Gesellschaft möglich machen würde, was die Bolschewiki aus vollem Herzen unterstützen würden. Falls die reformistischen Führer die Macht übernehmen würden, würden sich die Bolschewiki auf den friedlichen Kampf um eine Mehrheit in den Sowjets beschränken. Hier ein paar Beispiele, wie Lenin argumentierte (es gäbe noch viele mehr): "Allem Anschein nach haben nicht alle Anhänger der Losung ‘Übergang der gesamten Macht an die Sowjets!’ zur Genüge erfasst, dass das die Losung der friedlichen Vorwärtsentwicklung der Revolution war. Friedlich nicht nur in dem Sinne, dass sich niemand, keine Klasse, keine ernsthafte Kraft damals (vom 27. Februar bis zum 4. Juli) dem Übergang der Macht an die Sowjets hätte widersetzen und ihn verhindern können. Das ist noch nicht alles. Die friedliche Entwicklung wäre damals möglich gewesen, sogar in der Beziehung, dass der Kampf der Klassen und Parteien innerhalb der Sowjets, wenn die ganze Fülle der Staatsmacht rechtzeitig an die Sowjets übergegangen wäre, sich möglichst friedlich und schmerzlos hätte abspielen können." (Lenin, Gesammelte Werke, Bd. 25, S. 182) "No other condition would, I think, be advanced by the Bolsheviks, who would be confident that really full freedom of propaganda and the immediate realisation of a new democracy in the composition of the Soviets (new elections to them) and in their functioning would in themselves secure a peaceful forward movement of the revolution, a peaceful outcome of the party strife within the Soviets. Perhaps this is already impossible? Perhaps. But if there is even one chance in a hundred, the attempt at realising such a possibility would still be worthwhile." (Lenin, Collected Works, Vol. XXI, book I, S. 153-4) "Our business is to help do everything possible to secure the ‘last’ chance for a peaceful development of the revolution, to help this by presenting our programme, by making clear its general, national character, ist absolute harmony with the interests and demands of an enormous majority of the population." (Lenin, Collected Works, Vol. XXI, book I, S. 257) "Having seized power, the Soviet could still at present - and that is probably their last chance - secure a peaceful development of the revolution, peaceful elections of the deputies by the people, a peaceful struggle of the parties inside the Soviets, a testing of the programmes of various parties in practice, a peaceful passing of power from one party to another." (Lenin, Collected Works, vol. XXI, book I, S. 263-4) Und Trotzki fasste in der "Geschichte der Russischen Revolution" diese Position folgendermaßen zusammen: "Der Übergang der Macht an die Sowjets bedeutete unmittelbar den Übergang der Macht an die Versöhnler. Das konnte sich friedlich abspielen, durch einfache Entlassung der bürgerlichen Regierung, die sich durch den guten Willen der Versöhnler und die Reste des Vertrauens der Massen zu diesen hielt. Die Diktatur der Arbeiter und Soldaten war Tatsache seit dem 27. Februar. Aber Arbeiter und Soldaten legten sich über diese Tatsache nicht die nötige Rechenschaft ab. Sie vertrauten die Macht den Versöhnlern an, die ihrerseits diese der Bourgeoisie übergaben. Das Kalkül der Bolschewiki auf eine friedliche Entwicklung der Revolution beruhte nicht darauf, dass die Bourgeoisie freiwillig die Macht den Arbeitern und Soldaten abtreten würde, sondern darauf, dass die Arbeiter und Soldaten rechtzeitig die Versöhnler hindern würden, der Bourgeoisie die Macht auszuliefern. Die Konzentrierung der Macht in den Sowjets unter dem Regime der Sowjetdemokratie hätte den Bolschewiki die volle Möglichkeit gegeben, die Mehrheit in den Sowjets zu werden und folglich auch eine Regierung auf der Basis ihres Programms zu schaffen. Ein bewaffneter Aufstand war für dieses Ziel nicht erforderlich. Die Ablösung der Parteien an der Macht hätte sich auf friedlichem Wege vollziehen können. Alle Bemühungen der Partei waren von April bis Juli darauf gerichtet, der Revolution durch die Sowjets eine friedliche Entwicklung zu sichern. - ‘Geduldig aufklären’ - das war der Schlüssel der bolschewistischen Politik." (Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, zweiter Teil: Oktoberrevolution (1), S. 661-2) Aber vielleicht blufften Lenin und Trotzki nur? Vielleicht propagierten sie die Idee eines friedlichen Übergangs nur, um bei den Arbeitern an Popularität zu gewinnen, indem sie sich an deren reformistische und pazifistische Illusionen anpassten? Wer so etwas glaubt, hat nichts von der Methode Lenins und Trotzkis verstanden. Die beiden waren ehrliche, furchtlose Revolutionäre. Vor der Dewey-Kommission stellt Trotzki als Zeuge ganz klar fest: "Ich glaube, dass die marxistische, die revolutionäre, Politik allgemein eine sehr einfache Politik ist: ‘Sag was ist! Lüge nicht! Sag die Wahrheit!’ Es ist eine sehr einfache Politik." (The Case of Leon Trotsky, S.384) Die Bolschewiki hatten nicht zwei verschiedene Programme, eins für die wenigen Gebildeten und ein anderes für die "ungebildeten" Arbeiter. Lenin und Trotzki sagten der Arbeiterklasse immer die Wahrheit, selbst wenn diese bitter und unangenehm war. 1917, in Mitten der Revolution, bestanden sie auf der Idee, dass eine friedliche Transformation möglich sei (dass es nicht nur eine "theoretische" sondern auch eine reale Möglichkeit darstellt) - unter der einzigen Bedingung, dass die reformistischen Führer entschieden dafür aktiv würden. Hätte die Führung der Sowjets entschieden gehandelt, wäre die Revolution friedlich vonstatten gegangen, ohne Bürgerkrieg, weil sie die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft gehabt hatte. Indem sie die Arbeiter und Bauern auf diese einfache Tatsache hinwiesen, erzählten Lenin und Trotzki keine Lügen, und sie gaben auch nicht die marxistische Staatstheorie auf, sie sagten der Masse der Arbeiter und Bauern nur, was offensichtlich richtig war. Lenin behielt diese Position bis Juli. Warum wurde sie dann geändert? Aufgrund der Feigheit der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, die eine Machtübernahme ablehnten, übernahm die Reaktion unvermeidlich die Initiative. Hinter den Rockzipfeln der russischen Volksfront (der Provisorischen Regierung) bereitete die herrschende Klasse ihre Rache vor. Das Ergebnis dessen war die Reaktion der "Julitage". Auf Basis der Juliereignisse kam Lenin zu dem Schluss, dass ein friedlicher Ausgang nun unmöglich war, dass der Bürgerkrieg unvermeidlich war und dass die Partei die Frage des Aufstandes sofort auf die Tagesordnung setzen musste. Wie Trotzki in seiner "Geschichte der Russischen Revolution" aufzeigt, wurde Lenin dabei falsch verstanden. Lenin, der sich in Finnland verstecken musste, gab später zu, dass er nicht voll auf dem Laufenden war. Der eigentliche Grund für seinen Standpunkt war, dass er Angst hatte, dass Kamenev, Sinowjew und Stalin bei der Vorbereitung der Machtübernahme zu leicht schwanken würden. Dabei lag er gar nicht so falsch. Es ist ein Gesetz einer jeden Revolution, dass mit dem Herannahen des Datums für den Aufstand, die Führung der revolutionären Partei unter enormen Druck von Seiten anderer Klassen gerät, und ein Teil beginnt dann zu schwanken.
„Geduldig erklären"
Trotzkis Position war aber zweifelsohne korrekt. Er verstand die Notwendigkeit, in den Sowjets bis zum Moment des Aufstands die Mehrheit zu gewinnen, und er schlug sogar (gegen die Opposition Lenins) vor, den Tag des Aufstandes auf das Datum des Sowjetkongresses zu verschieben, wo die Bolschewiki die Mehrheit gehabt hätten. Das heißt, selbst im Zuge des Aufstands ist die Frage der Legalität alles andere als nebensächlich, sondern nimmt eine entscheidende Rolle bei der Überzeugung ganzer Schichten der Arbeiterklasse ein. Indem sie die Widersprüche zwischen den Worten und Taten der reformistischen Führer aufzeigten, bereiteten die Bolschewiki den Weg dafür, dass sie in den Sowjets, und auch in der Armee (die ebenfalls in den Sowjets vertreten war), binnen weniger Monate die Mehrheit gewinnen konnten. Auf diese Art und Weise bereiteten die Bolschewiki in Wirklichkeit den Aufstand im Oktober 1917 vor, nicht indem sie darüber redeten, sondern indem sie die Massen und ihre Organisationen mit flexiblen Taktiken und Losungen beeinflussten, die wirklich mit den Anforderungen der jeweiligen Situation korrespondierten und mit dem Bewusstsein der Massen verbunden waren, aber nicht irgendwelche leblosen Abstraktionen, die sie aus einem revolutionären Kochbuch auswendig gelernt haben. Der einzige Grund, warum in Russland keine friedliche Revolution erreicht wurde, lag in der Feigheit und im Verrat der reformistischen Führer in den Sowjets. Das erklärten Lenin und Trotzki hundertemale. Solange die revolutionäre Partei nicht die Massen gewonnen hat, ist es sinnlos und konterproduktiv, einen Schwerpunkt auf die angebliche Unvermeidlichkeit von Gewalt und Bürgerkrieg zu legen. Solch ein Ansatz "schult" nicht die Kader und bereitet sie auch nicht auf eine seriöse revolutionäre Arbeit vor (die zum jetzigen Zeitpunkt ohnedies fast zur Gänze in einer geduldigen Vorbereitungsarbeit liegt, um unter Arbeitern und der Jugend sowie in der Arbeiterbewegung eine gewisse Verankerung aufzubauen), sondern verwirrt und desorientiert die Genossen mit größter Wahrscheinlichkeit eher und entfremdet uns von den Arbeitern, die wir eigentlich gewinnen wollen. Das war niemals die Methode der großen marxistischen Denker in der Vergangenheit, sondern rein ein Charakteristikum der ultralinken Sekten am Rande der Arbeiterbewegung, die für sich allein in einer "revolutionären" Traumwelt ohne Bezug zur realen Welt leben. In diesem Treibhaus, fern ab der Realität, können kleine Gruppen die Zeit mit endlosen Debatten über den "Aufstand" und einer mentalen Vorbereitung auf die "Unvermeidlichkeit des Bürgerkriegs" totschlagen, während sie auf die wirklichen Aufgaben beim Aufbau einer revolutionären Organisation völlig vergessen. Wie bereitet sich eine marxistische Strömung konkret auf die Macht vor? Indem sie versucht, die Massen zu gewinnen. Wie kann das erreicht werden? Indem sie ein Programm von Übergangsforderungen ausarbeitet, das an der realen Situation in der Gesellschaft und den objektiven Bedürfnissen der Arbeiterklasse und der Jugend ansetzt, das die unmittelbaren Forderungen mit der zentralen Idee der Enteignung der Kapitalisten und der Transformation der Gesellschaft verbindet. Wie Lenin und Trotzki oftmals erklärten, liegen 9/10 der Aufgaben bei einer Revolution genau darin. Wenn man diese Tatsache nicht verstanden hat, dann reduziert sich das ganze Gerede vom bewaffneten Kampf, "militärischen Vorbereitungen" und Bürgerkrieg auf eine unverantwortliche Demagogie. Wie wir gezeigt haben, haben die Bolschewiki noch als kleine Minderheit in den Sowjets, welche damals noch von den mit der Bourgeoisie verbundenen Menschewiki und Sozialrevolutionäre dominiert wurden, nicht mit dem Aufstand gespielt, sondern sich darauf konzentriert, in den Sowjets die Mehrheit zu gewinnen ("geduldiges erklären"). Die Arbeiter und Bauern vertrauten den reformistischen Führern damals wie heute. Das war der Ausgangspunkt für die Bolschewiki, und er ist es auch für uns. Solange sie in der Minderheit waren, taten Lenin und Trotzki alles, um die Arbeiter und Soldaten zu bremsen, um eine zu frühe Konfrontation mit dem Staate zu vermeiden. Friedliche Agitation und Propaganda standen im Mittelpunkt ihrer Arbeit. So stellte sich Lenin z.B. gegen eine bewaffnete Demonstration im Juni. Lenin und Trotzki zogen sich somit sogar den Ärger von Teilen der Arbeiter zu, die der Klasse etwas zu weit vorausgeeilt waren. Sie wurden des Opportunismus beschuldigt, weil sie die Frage des bewaffneten Aufstandes zu wenig behandelten. Gegenüber solchen Kritiken konnten sie nur mit den Achseln zucken. Sie verstanden, dass es zuerst einmal galt, die Mehrheit der Arbeiter und Bauern, die noch immer unter dem Einfluss der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre standen, zu gewinnen. Durch eine flexible Taktik gewannen die Bolschewiki in den Monaten vor dem Oktober eine Mehrheit in den Sowjets. Dadurch, und nur dadurch, erklärt sich der relativ friedliche Charakter des Oktoberaufstands. Die Ursache war nicht vorrangig militärisch, sondern die Tatsache, dass 9/10 der Arbeit schon zuvor erledigt wurde.
War die Oktoberrevolution friedlich?
In seinem Dokument bezieht sich GO auf die "angeblich ‘friedlichen’ Revolution von 1917", die, wie er behauptet, "dafür herhalten muss, um die Idee zu unterstützen, dass heute eine revolutionäre Partei die Staatsmaschinerie umstürzen kann, ohne auf jeglichen effektiven Widerstand zu stoßen". Wir nehmen einmal an, dass die Bezeichnung "angeblich ‘friedliche’ Revolution von 1917" eine gewisse Ironie, oder zumindest Skeptizismus, ausdrücken soll. Wie schauen nun die Fakten aus? Erstens, ist es nicht möglich, von "der" Revolution von 1917 zu sprechen. 1917 gab es nicht eine sondern zwei Revolutionen, die noch dazu von einer Periode der Reaktion (Juli bis September) einschließlich einer militärischen Offensive getrennt waren. Auf die Oktoberrevolution folgte ein vierjähriger Bürgerkrieg, im Zuge dessen Russland von 21 ausländischen Armeen überfallen wurde, und dem Millionen zum Opfer fielen. Wir haben hier also eine Periode von Revolution und Konterrevolution und nicht einfach einen "Triumphzug". Wer etwas anderes behauptet, ist ein Dummkopf oder ein Ignorant. Was der Genosse aber zu übersehen scheint, ist, dass die Behauptung, die Oktoberrevolution sei eine friedliche Angelegenheit gewesen (so weit das bei einer Revolution überhaupt gesagt werden kann), nicht von unserer Strömung sondern von Lenin und Trotzki selbst stammt. Zitieren wir einige Beispiele. Zuerst in bezug auf die Februarrevolution: "Es wäre keine Übertreibung, zu sagen, dass Petrograd die Februarrevolution vollbrachte. Das übrige Land schloss sich ihm an. Nirgends außer in Petrograd gab es Kampf. Im ganzen Land fanden sich keine Bevölkerungskreise, Parteien, Institutionen oder Truppenteile, die es gewagt hätten, zum Schutze des alten Regimes aufzustehen. Das beweist, wie unbegründet das spätere Gerede der Reaktionäre war, wonach das Schicksal der Monarchie sich anders gestaltet hätte, wenn die Gardekavallerie in Petrograd gewesen wäre oder wenn Ivanow eine zuverlässige Brigade von der Front gebracht hätte. Weder im Hinterlande noch an der Front war eine Brigade oder ein Regiment bereit, sich für Nikolaus II. zu schlagen." (Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, erster Teil: Februarrevolution, S. 127) Und die Oktoberrevolution? In seiner "Geschichte der Russischen Revolution" beschreibt Trotzki im Detail die Leichtigkeit, mit der Petrograd genommen werden konnte. Der friedliche Charakter der Revolution wurde dadurch gewährleistet, dass die Bolschewiki unter der Leitung von Trotzki bereits zuvor die Petrograder Garnison für sich gewonnen hatten. Im Kapitel "Die Eroberung der Macht" erklärt er, wie die Arbeiter die Kontrolle über die äußerst wichtige Peter-Paul-Festung gewannen: "Alle Truppenteile der Festungsgarnison nehmen die Verhaftung des Kommandanten mit voller Befriedigung auf. Doch die Radler verhalten sich ausweichend. Was steckt hinter ihrem düsteren Schweigen: lauernde Feindseligkeit oder letztes Schwanken? ‘Wir beschließen, ein Sondermeeting für die Radler zu veranstalten’, schreibt Blagonrawow, ‘und dazu unsere besten agitatorischen Kräfte einzuladen, in erster Linie Trotzki, der riesige Autorität und Einfluss bei den Soldatenmassen genießt.’ Gegen 4 Uhr nachmittags versammelte sich das ganze Bataillon im Gebäude des benachbarten Zirkus Modern. Als Sprecher der Regierung trat Generalquartiermeister Poradelow auf, der als Sozialrevolutionär galt. Seine Einwände waren derart vorsichtig, dass sie zweideutig klangen. Um so vernichtender griffen die Vertreter des Komitees an. Die letzte oratorische Schlacht um die Peter-Paul-Festung endete, wie zu erwarten war: mit allen Stimmen gegen dreißig hieß das Bataillon Trotzkis Resolution gut. Wieder war einer der möglichen bewaffneten Konflikte vor dem Kampfe und ohne Blut entschieden worden. Das eben ist der Oktoberaufstand. Dieses sein Stil." (Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, zweiter Teil: Oktoberrevolution (2), S. 870, unsere Hervorhebung) Es dauerte etwas länger, bis die Sowjetmacht auch in Moskau etabliert werden konnte, was vor allem auf die Fehler der lokalen Führung der Bolschewiki zurückzuführen ist. Trotzki bestand jedoch darauf, dass die bolschewistische Revolution weitgehend friedlich war, bis die ausländischen Truppen intervenierten, um die Revolution im Blut zu ertränken.
Ultralinke Politik
In der Verhandlung von Minneapolis im Jahre 1941 nannte Cannon den Aufstand in Petrograd "nur eine kleine Rauferei, das ist alles" (Socialism on Trial, S.64). Das wurde später vom ultralinken Grandizo Munis aufgenommen, um zu fordern, dass die SWP offen für Gewalt und Bürgerkrieg eintreten sollte und die Verteidigungspolitik bei der Verhandlung als "Opportunismus" verurteilen sollte. In Wirklichkeit deckte sich die Position der SWP-Führung zumindest in dieser Frage völlig mit dem Ratschlag, den Trotzki in der vorangegangenen Periode gegeben hatte.<br />"Unsere Formel in diesem Fall", antwortete Cannon, "ist auch die Formel der marxistischen Lehrer. Sie bestanden nicht nur darauf, dass eine friedliche Veränderung der Gesellschaft wünschenswert wäre, sondern sie betrachteten eine solch friedliche Revolution unter gewissen außergewöhnlichen Bedingungen auch als möglich. Wir haben eine solche Perspektive für die USA abgelehnt, gleichzeitig haben wir erklärt, dass wir dafür wären und beschuldigten die herrschende Bourgeoisie als die Anstifter der Gewalt. Darin sind wir völlig loyal zur marxistischen Lehre und Tradition." (Munis und Cannon, What policy for revolutionists - Marxism or Ultra-leftism, S.36) Nebenbei gesagt, die ultralinke Politik, die Munis befürwortete, hätte unter den gegebenen Umständen, die Trotzkisten nicht nur von der amerikanischen Arbeiterklasse abgeschnitten, es hätte zur totalen Zerstörung der Partei geführt.(sie wurde später durch die falsche Politik der SWP-Führung zerstört, aber das ist eine andere Debatte). Alle Argumente, die Lenin und Trotzki in Bezug auf die Russische Revolution verwendeten, gelten heute hundertmal mehr. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen ist heute unendlich günstiger für das Proletariat, vor allem in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Ohne den Verrat durch die Sozialdemokraten und die Stalinisten hätte die Arbeiterklasse in den letzten sieben Jahrzehnten in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Großbritannien oder Deutschland schon längst die Macht übernommen.
Trotzkis Position zur Gewalt
Die Behauptung, dass eine Massenbewegung von ausreichender Stärke unter bestimmten Bedingungen zu einem Machtwechsel ohne Bürgerkrieg führen kann, ist keine Erfindung unserer Strömung. Als Zeuge vor Dewey-Kommission wurde Trotzki gefragt, ob die politische Revolution in der UdSSR unvermeidlich einen blutigen Sturz der herrschenden stalinistischen Kaste bedeuten würde. Wir drucken hier seinen Kommentar in voller Länge ab: "Finerty: Mit anderen Worten, selbst in der politischen Revolution und dem Sturz der Bürokratie würden Sie es nicht ins Auge fassen, dass es notwendig wäre, selbst aus defensiven Gründen heraus, die Bürokratie persönlich zu zerstören oder sie persönlich auszulöschen? Trotzki: Ich bin mir sicher, dass wenn die Stunde der Revolution kommt, die politische Revolution, in Russland, dass das dann eine so mächtige Erhebung der Massen sein wird, dass die Bürokratie genauso wie das zaristische Regime in der Februarrevolution sofort ohne Orientierung und unorganisiert sein wird. Finerty: Also, Herr Trotzki, es gehört also nicht zu ihrer politischen Philosophie, gegen die Bürokratie individuelle Terrorakte oder auch Massenterror einzusetzen? Trotzki: Massenterror hängt von den Umständen der Bürokratie selbst ab. Ich wiederhole, ich hoffe, selbst in einem kritischen Moment, wird diese mächtige und schreckliche Bürokratie absolut mitleidsvoll sein, und dann könnte die Revolution sogar unblutiger sein als die Februarrevolution in unserem Land und auch als die Oktoberrevolution. Aber dafür kann ich keine Verantwortung übernehmen. Falls die Bürokratie sich den Massen entgegenstellt, werden diese natürlich scharfe Maßnahmen ergreifen. Aber individuelle Vernichtung, nein. Das ist keine revolutionäre Perspektive. Finerty: Und keine politische Notwendigkeit? Trotzki: Keine politische Notwendigkeit." (The Case of Leon Trotsky, S. 376-7) Wir sollten nicht vergessen, dass wir hier über eine monströse totalitäre Diktatur sprechen, in der alle Rechte unterdrückt wurden, ein Regime, in dem Mord, Folter und Konzentrationslager zum Alltag gehörten. Trotzdem sah Trotzki die Perspektive, dass eine revolutionäre Bewegung derart stark sein könnte, dass sie die Bürokratie paralysiert und hilflos dastehen lässt. War das nun lediglich ein Hirngespenst Trotzkis? Oder "eine fantastische Idee" oder ein "fatalistischer Optimismus"? Im Gegenteil. Schauen wir uns nur an, was in Osteuropa 1989 passierte. Die Massenbewegungen gegen die stalinistischen Regime in der DDR, in Polen und der Tschechoslowakei schockten die demoralisierte Bürokratie derart, dass diese wie ein Kartenhaus zusammenbrachen, obwohl sie in ihren Händen die schrecklichsten Unterdrückungsinstrumente hatten. Natürlich, in Abwesenheit eines subjektiven Faktors führte der Zusammenbruch der Bürokratie zu einer Bewegung in Richtung Kapitalismus. Das ändert aber nichts an der Substanz unseres Arguments. Trotzki erklärte schon vor langem, dass die Gesetze von Revolution und Konterrevolution sehr ähnlich sind. Die Tatsache bleibt, dass der Übergang von einem gesellschaftlichen Regime zu einem anderen friedlich, ohne Bürgerkrieg, durchgeführt wurde. Die herrschende Bürokratie gab auf, ohne auch nur einen Schuss abgefeuert zu haben. Was heißt das nun ganz konkret? Der totalitäre Staat in Russland und in Osteuropa war wahrscheinlich der mächtigste Repressionsapparat in der Geschichte. Er erschien allgemein als unzerstörbar. Selbst die Bourgeoisie sprach von einem "Monolithen", der sich ihrer Meinung nach über Jahrhunderte halten könnte (bis zum Zeitpunkt der Wahrheit teilte die stalinistische Bürokratie diese Illusion). Es ist charakteristisch für eine dem Untergang geweihte herrschende Elite, dass sie eine nahezu abergläubische Hoffnung in die Macht der Polizei, des Geheimdienstes und der Armee setzt. Marxisten gehen aber von realen gesellschaftlichen Beziehungen aus, und nicht von der Anzahl an Polizisten, Spionen und Soldaten, die vom Staat bezahlt werden, oder der Existenz moderner Kampfbomber oder anderem technischen Zerstörungspotential (das ist ein sehr altes Argument und würde, falls es stimmen würde, eine Revolution überhaupt unmöglich machen). All die technischen Zerstörungspotentiale, auf die GO Bezug nimmt, standen der Bürokratie zur Verfügung. Jawohl, und genügend Polizisten und Soldaten, um sie einzusetzen - zumindest auf dem Papier. Im entscheidenden Moment wurden sie aber nicht eingesetzt. In der Bibel fielen die Mauern von Jericho durch einen Trompetenstoß von Josuah. Die stalinistischen Regime brachen selbst ohne eine solche musikalische Begleitung zusammen. Warum setzte die herrschende Elite nicht einfach die Kampfbomber ein, wenn dies doch laut GO die einfachste Lösung gewesen wäre? Oder die Panzer oder irgendwelche anderen ihnen zur Verfügung stehenden Repressionsmittel? Ein einfacher Befehl hätte genügt. Warum wurde dieser Befehl nicht gegeben? Weil die Bürokratie durch die Massenbewegung völlig demoralisiert und gelähmt war. Wie De Gaulle 1968 erkannten sie, dass das Spiel vorbei ist und Widerstand zwecklos war. Wie lässt sich die Paralyse der Bürokratie erklären? Ihre Demoralisierung war das Ergebnis der Ausweglosigkeit des Regimes, das nicht mehr fähig war, die Produktivkräfte weiterzuentwickeln. Schon 1973 sagten wir den Zusammenbruch des Stalinismus voraus, weil die Bürokratie eben aufgehört hat, die Produktivkräfte weiterzuentwickeln. Die Bürokratie wurde somit von einer relativ fortschrittlichen Kraft zu einer absoluten Bremse in der Gesellschaft. Dies gilt nun in zunehmendem Maße für die Bourgeoisie im Westen. Was einer revolutionären Transformation im Wege steht, ist nicht die Stärke der Bourgeoisie oder ihres Staates, sondern die temporäre Trägheit der Arbeiterklasse, die sich erst langsam der Tiefe der sozialen Krise bewusst wird. Die Ereignisse in Frankreich im Dezember 1995/Jänner 1996 zeigen, dass sich diese Situation zu verändern beginnt. In der kommenden Periode, die eine sehr stürmische sein wird, wird es in einem Land nach dem anderen revolutionäre Gelegenheiten geben. Die Ereignisse des Jahres 1968 werden sich auf einer um vieles höheren Ebene wiederholen. Der Staat in den Händen der westlichen Bourgeoisie ist bei weitem nicht so mächtig wie jener der totalitären Regime in Osteuropa im Jahre 1989. Glaubt GO, dass die Bourgeoisie in einer besseren Position sein wird als die Stalinisten, um eine Massenbewegung zu zerdrücken? Lenin erklärte, dass jede Revolution an der Spitze der Gesellschaft mit einer Vertrauenskrise in der herrschenden Klasse beginnt, da sich diese nicht mehr imstande sieht, wie früher weiter zu herrschen. Die zweite Bedingung ist ein Gärungsprozess in den Mittelschichten, die zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat hin- und herschwanken. Die dritte Bedingung ist, dass die Arbeiterklasse bereit ist, für die Transformation der Gesellschaft zu kämpfen. Die Schlussbedingung ist die Existenz einer starken revolutionären Partei mit einer erfahrenen und weitsichtigen Führung.
Ungarn 1919
Unter außergewöhnlich günstigen Bedingungen kann die Krise der herrschenden Klasse, die mit einer ausreichend großen Massenbewegung konfrontiert ist, zu einem kampflosen Zusammenbruch des Regimes führen. In Ungarn konnte ein solcher Prozess beobachtet werden, als die ungarische Bourgeoisie der Kommunistischen Partei, ohne einen Schuss abzufeuern, die Macht übergab. Obwohl die Fehler der unerfahrenen KP in die Niederlage führten. Trotzki dazu: "Die Demütigung von Graf Karolyi vor der Entente endete in einer friedlichen Übergabe der Macht an die Arbeiterparteien ohne jegliche Revolution. Die Kommunisten von der Partei Bela Kuns beeilten sich, mit den Sozialdemokraten zu vereinen. Bela Kun bewies einen völligen Bankrott, vor allem in der Bauernfrage, was rasch zum Zusammenbruch der Sowjets führte." (Trotzki, On France, S.118) Ähnlich schmerzlos ging die Revolution 1918 in Deutschland über die Bühne. Ein Generalstreik, eine Meuterei in der Armee und der Marine, wo die Soldaten die reaktionärsten Offiziere unter Arrest stellten, Arbeiter- und Soldatenkomitees wurden gebildet und die Macht lag in den Händen der Arbeiterklasse. Alles in allem kamen nur 19 Menschen ums Leben. Mehr Menschen sterben normalerweise an einem Wochenende bei Verkehrsunfällen. Wo lag das Problem? Die Masse der Arbeiter und Soldaten, die erst neu zu politischem Leben erwacht sind, wandten sich unvermeidlich an die bestehenden Massenorganisationen. In Deutschland war das die Sozialdemokratie, an deren Spitze die selben reformistischen Führer standen, welche 1914 die Arbeiterklasse verraten hatten. Noske und Scheidemann verrieten die Revolution und händigten die Macht der Bourgeoisie aus. Die deutsche Arbeiterklasse und die gesamte Welt zahlte 15 Jahre später für diesen Verrat mit der Machtübernahme durch Hitler, den Gaskammern und dem Zweiten Weltkrieg einen schrecklichen Preis. Dies ist ein mehr als deutliches Beispiel, wie die Weigerung der reformistischen Führer, die Macht zu übernehmen, selbst wenn es mit friedlichen Mitteln möglich wäre, den Weg für ein Blutbad in der Zukunft ebnet. Das ist die wesentliche Lehre, die wir bei jeder Gelegenheit klar aussprechen müssen.
Portugal 1974
Das eindrucksvollste Beispiel für die Prozesse, die wir hier analysieren, war die Portugiesische Revolution im Jahre 1974. Hier kann man all die Prozesse ganz deutlich sehen. Nach beinahe 50 Jahren der Diktatur, zuerst unter Salazar, dann unter Caetano, fiel die Diktatur wie ein fauler Apfel. Die inneren Widersprüche, welche das Regime unterminierten, spiegelten sich auch im Staatsapparat in Form des Herauskristallisierens einer Oppositionsströmung im Offizierskorps wider. Die nicht enden wollenden und blutigen Kolonialkriege in Angola, Mozambique und Guinea-Bissau spielten dabei eine wichtige Rolle. Die portugiesische Offizierskaste war nicht sehr typisch für die Armee eines imperialistischen Landes. Normalerweise sind die Offiziere Söhne der wohlhabenden Familien, die hinter den Schreibtischen ein ruhiges und sicheres Leben fristen. Hier lag die Sache aber anders. Die Kriege in Afrika bedeuteten, dass der Militärdienst kein bequemer Ruheposten sondern ein gefährliches Geschäft war, das für die Jeunesse dorée wenig Anreize bot. Viele Offiziere kamen aus der Mittelklasse. Sie waren "Studenten in Uniform". Teile dieser Offiziere begannen die Ideen des "Marxismus" zu studieren und wurden dadurch beeinflusst. Aus Ablehnung des Krieges und der korrupten Diktatur wurden sie im geheimen zu Sozialisten, Kommunisten oder Maoisten. Der Putsch vom 25.4.1974 stellte als ein besonders eigenartiges Phänomen dar. Die jungen Offiziere stürzten Caetano und riefen die Revolution aus, ohne wirklich zu verstehen, wohin sie gingen, und öffneten somit die Tore für die Massen. Nach Jahrzehnten der faschistischen und bonapartistischen Herrschaft sahen wir ohne Führung von oben eine wunderbare Bewegung des portugiesischen Proletariats. Am 1.Mai 1974 gingen 3 Millionen Arbeiter auf die Straße, bei einer Gesamtbevölkerung von 8 Millionen. Mit den Arbeitern demonstrierten Soldaten und Matrosen mit der Waffe in der Hand. Unter solchen Bedingungen konnte es absolut kein Gerede von "Bürgerkrieg" geben. Ein Bürgerkrieg setzt voraus, dass es Kräfte gibt, die bereit sind, in Verteidigung der bestehenden Ordnung zu kämpfen. Nach dem 25. April existierten diese Kräfte nicht mehr. Die Formel "bewaffnete Einheiten von Menschen" greift hier nicht mehr. Welche Kräfte wären bereit gewesen, die Arbeiterklasse zu bekämpfen? Die Antwort ist ziemlich klar, wenn man betrachtet, dass die bewaffneten Einheiten von Menschen auf der Seite der Massen standen. Zitieren wir nur ein Beispiel. Als die Arbeiter der großen Lisnave Schiffswerften in Lissabon in den Streik traten und vor das Arbeitsministerium demonstrierten, wurden Truppen zusammengezogen. Angesichts einer kämpferischen Demo von 5000 Werftarbeitern mit Helmen reagierten die Soldaten folgendermaßen: "Vor dem Mittagessen zirkulierte das Gerücht, dass wir raus müssten, und bald schon haben wir gewusst, dass es nach Lisnave gehen soll...Wir formierten uns gegen Mittag und der Kommandant sagte uns, dass er einen Anruf erhalten habe, dass linke Agitatoren eine Demonstration von Lisnave her anführen würden. Unsere Aufgabe sei es, dies zu verhindern. Wir wurden besser bewaffnet als je zuvor, mit G3s und vier Magazinen. ...die Demonstration begann und ein menschlicher Strom rückte an uns heran und skandierte ‘Die Soldaten sind die Söhne der Arbeiter’, ‘Morgen werden die Soldaten Arbeiter sein.’ und ‘Die Waffen der Soldaten dürfen nicht gegen die Arbeiter gerichtet werden.’ Der Kommandant erkannte schon bald, dass wir nicht bereit waren, seinen Befehlen zu gehorchen, so blieb er ruhig. Unsere Waffen ließen wir an unserer Seite baumeln und einige Genossen weinten. Als wir wieder in der Kaserne waren, war der Kommandant zwar nicht sehr verärgert, aber er meinte, in der Zukunft müssten wir den Befehlen gehorchen...am nächsten Tag war es in der Kaserne viel lebendiger als sonst. Schon vor dem Morgenappell waren viel Genossen auf und schrien die Losungen der Demo:’ Die Soldaten sind die Söhne der Arbeiter’, ‘Nieder mit der kapitalistischen Ausbeutung’." (Revolutionary Rehearsals, S.95) Die Kraft, die den Kapitalismus in Portugal nach dem 25. April rettete, war nicht die Armee, sondern in erster Linie die KP-Führung, die sofort erklärte, dass sie es für notwendig erachtet, den sogenannten "progressiven" General Spinola zu unterstützen. Hinter der schützenden Fassade der Provisorischen Regierung bereitete Spinola einen Gegenschlag vor. Ein Jahr später versuchte er einen Putsch. Welche Kräfte befehligte er? Eine kleine Gruppe von Soldaten, die aus dem rückständigsten Teil der Armee zusammen gesammelt wurden, den Fallschirmspringern. Am 11. März umzingelten die Fallschirmspringer die Kaserne eines der radikalsten Regimenter in Lissabon, das RAL-1, konnten aber nicht zum Schießen überredet werden. Die spontane Bewegung der Arbeiter und von anderen Teilen der Armee, die sich mit den Fallschirmspringern verbrüderten und an diese appellierten, beendete schon sehr schnell wieder diese Meuterei. Binnen weniger Stunden erklärten die Fallschirmspringer: "Wir sind keine Faschisten. Wir sind eure Genossen." Die Rebellion der "Sklavenhalter" kollabierte sofort. Marx erklärte einst, dass die Revolution die Peitsche der Konterrevolution benötigt. Spinolas Versuch eines Putsches führte nur zu einer Welle neuerlicher Arbeiterproteste. Die Bankangestellten besetzten die Banken und verlangten, dass die Regierung der MFA die Banken verstaatlicht. Ihrem Beispiel folgten die Angestellten der Versicherungen. Die linken Offiziere nationalisierten daraufhin auch die Banken und Versicherungen, die reale Machtbasis der Reaktion in Portugal, die mehr als 60% der Wirtschaft ihr Eigentum nannten. Das war ein harter Schlag nicht nur gegen die Reaktion sondern gegen das gesamte kapitalistische System in Portugal. Diese Tatsache erkannte auch "The Times", die ein Editorial mit dem Titel "Der Kapitalismus in Portugal ist tot" abdruckte. Mit der Niederschlagung des versuchten Putschs von Spinola lag die Macht in den Händen der Arbeiter und Soldaten. Wieder einmal retteten nur die Feigheit und der Verrat der SP- und KP-Führer das System. Die SP, die ein Jahr vor der Revolution nur 200 Mitglieder hatte und somit sehr schwach war, begann nun rapide zu wachsen. Unter dem Druck der Massen nahmen die SP-Führer sogar ein sehr radikales Programm an - zumindest in Worten. Mario Soares forderte in Reden die "Diktatur des Proletariats". Die sozialistische Zeitung "Republica" druckte Artikel von Trotzki ab. In den ersten demokratischen Wahlen nach 50 Jahren gingen 91,1% der Wahlberechtigten zu den Urnen. Die SP erhielt 37,8%, die KP 12,5%, ihr Verbündeter MDP weitere 4,1% - also 54,4% der Stimmen entfielen auf die Arbeiterparteien. Unter diesen Umständen konnte es keinen Zweifel geben, dass die Revolution in Portugal nicht nur friedlich sondern sogar über das Parlament durchgeführt werden hätte können. Die Bourgeoisie war durch den raschen Zusammenbruch des Putschs vom März völlig demoralisiert. Spinola floh nach Brasilien. Die Arbeiterklasse war aufgestanden. Ohne Führung von oben wurden in den Fabriken Arbeiterkomitees gewählt. Das kulturelle Leben florierte. Arbeitslose Arbeiter halfen in der Landwirtschaft, Kinder lehrten den Erwachsenen das Lesen. Hunderte Fabriken und Farmen waren von den Eigentümern verlassen und von den Arbeitern übernommen worden. Die Arbeiterklasse kam ganz klar zu revolutionären Schlüssen. Ein Aktivist von der Setenave Schiffswerft drückte die Lage so aus: "Selbst in Setenave haben wir keine Arbeiterkontrolle. Wie sollten wir auch, wenn wir nicht die Banken kontrollieren? Unsere Einstellung ist, dass wir alles wissen wollen.... Wir wollen die Entscheidungen kontrollieren, aber wir haben keine Verantwortung. Wir glauben nicht, dass Arbeiterkontrolle alleine ausreicht." (Revolutionary Rehearsals, S.104)
Revolutionäre Komitees
Was wäre von Nöten gewesen? Die Formierung einer sozialistisch-kommunistischen Regierung mit dem Ziel, die Revolution zu Ende zu führen. Einige Dekrete wären ausreichend gewesen, die Macht der Großgrundbesitzer, Banker und Kapitalisten zu beseitigen und eine demokratische Planwirtschaft aufzubauen. Sofortige Maßnahmen zur Erhöhung der Löhne und Pensionen, eine Verkürzung des Arbeitstages und eine Verbesserung des Lebensstandards der kleinen Bauern und Kleingewerbetreibenden. Ein Appell an die Arbeiter, Bauern und Soldaten, das Land und die Fabriken zu übernehmen, demokratisch gewählte Komitees zu errichten und alle konterrevolutionären Elemente zu verhaften. Mit solchen Maßnahmen - gestützt auf die revolutionäre Bewegung der Massen außerhalb des Parlaments - wären ausreichend gewesen für den friedlichen Übergang. Hätte solch eine Politik unvermeidlich in den Bürgerkrieg geführt? Wie immer hatte die revolutionäre Bewegung innerhalb der Armee einen tiefen Eindruck hinterlassen. Die Idee gewählter Komitees sprang von den Fabriken in die Kasernen über. Der Versuch, ein landesweites Netzwerk "revolutionärer Komitees der Soldaten, Matrosen und Arbeiter" zu errichten erhielt sogar die Unterstützung von Teilen der Offiziere rund um Otelo de Carvalho. Die revolutionären Ideen verbreiteten sich auch in der Armee, was selbst von den konservativen Offizieren rund um die "Gruppe der Neun" anerkannt wurde, die in ihrem Manifest schrieben: "Wir sehen einen fortschreitenden Verfall staatlicher Strukturen. Überall haben ungesetzliche und anarchistische Formen der Machtausübung Schritt für Schritt die Überhand gewonnen und selbst die Streitkräfte erreicht." Eine autonome Soldatenbewegung, die SUV (Soldados Unidos Venceroã - "Die Vereinten Soldaten werden gewinnen") wurden im September gegründet. SUV rief in Porto für den 10. September zu einer Demo auf. "Da die Soldaten in der Öffentlichkeit nicht singen dürfen, begannen wir zu pfeifen. Aber am Ende sangen alle...die ‘Internationale’. Und immer mehr Menschen schlossen sich der Demo an." An diesem Tag marschierten rund 30.000 Arbeiter hinter einem Kontingent von 1500 Soldaten. Die SUV begann auch reaktionäre Offiziere in der Armee zu enthüllen. "Am nächsten Tag, dem Jahrestag des Putsches in Chile organisierte die SUV abermals eine Demo, und wir wollten eine Schweigeminute. Die Offiziere sagten nein. Wir steckten Patronen in unsere Gewehre...und hielten unsere Schweigeminute ab." Die Soldaten erhoben Forderungen, welche die Ungleichheiten zwischen ihnen und den Offizieren aufheben sollten. Sie begannen für Gehaltserhöhungen und Gratistransport zu agitieren. Eine Fahrt heim zur Familie kostete oft einen ganzen Monatslohn eines Soldaten. Hier ist nicht der Platz, um im Detail zu zeigen, wie die Portugiesische Revolution gestoppt wurde. Aber das Vorgehen von Cunhal und Soares war zweifelsohne der entscheidende Faktor. Sie hatten unter den besten Bedingungen jede nur denkbare Möglichkeit, eine friedliche Revolution zum Sieg zu führen, aber sie brachten den Zug der Revolution zum Entgleisen. Das bedeutet, dass neue und schreckliche Hürden der Arbeiterklasse den Weg versperren werden, was dazu führen könnte, dass das nächste Mal der revolutionäre Prozess nicht so friedlich sein wird. Das wird von vielen Faktoren abhängen, aber vor allem von unserer Fähigkeit, in Portugal eine lebendige marxistische Strömung mit einer Massenbasis aufzubauen.
„Wenn Amerika kommunistisch würde"
Sowohl Lenin und Trotzki betonten, dass sich die sozialistische Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern in vielerlei Hinsicht von der Russischen Revolution unterscheiden wird. Einerseits wird sie schwieriger durchzuführen sein. Lenin erklärte, dass er Kapitalismus im zaristischen Russland an seinem schwächsten Glied brach. Der Kapitalismus hat in Nordamerika, Europa und Japan vor allem in den letzten 50 Jahren enorme Fettreserven angehäuft. Lenin hat bereits darauf hingewiesen, dass die herrschende Klasse in Ländern wie Großbritannien eine hohe Kunst im Korrumpieren der Führer der Arbeiterbewegung entwickelt hat. Dies gilt nun in einem noch nie da gewesenen Ausmaß für alle entwickelten kapitalistischen Länder. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind reformistische und stalinistische Führer derart degeneriert, dass selbst der Verrat aus vergangenen Perioden in den Schatten gestellt wird. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sie gerade dann alle "den Markt" preisen, wenn dieser gerade in die Krise stürzt (dies gilt übrigens auch für die ehemals "kommunistischen" Führer in Osteuropa). Trotzki erklärte, dass sich die Krise der Menschheit letztlich auf eine Krise der Führung der Arbeiterorganisationen reduziert werden könne. Das gilt heute mehr denn je. Die Krise des Kapitalismus offenbart auch die Krise des Reformismus. Die nächste Periode wird eine ganze Reihe von inneren Erschütterungen und Spaltungen in den reformistischen Parteien und Gewerkschaften mit sich bringen. Ab einem gewissen Zeitpunkt werden sich linke Massenflügel herausbilden, was für die marxistische Strömung große Möglichkeiten bringen wird. Es ist aber keine ausgemachte Sache, dass wir dann die entscheidenden Teile der fortschrittlichsten Arbeiter und Jugendlichen gewinnen werden. Revolutionäre Politik ist sowohl eine Wissenschaft wie auch eine Kunst. Wir brauchen eine wissenschaftliche Perspektive, die uns dazu befähigt, die allgemeinen Prozesse zu verstehen, um nicht permanent durch rasche Änderungen in der objektiven Situation und Stimmungsumschwünge bei den Massen aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden. Das ist aber nicht genug. Es ist notwendig, die Kader in einer flexiblen Taktik und der Kunst, das fertige wissenschaftliche Programm des Marxismus mit den sich im Fluss befindlichen, oft konfusen Bestrebungen der Arbeiterklasse zu verbinden, zu schulen. Schaffen wir das nicht, würden wir zu einer sterilen und ohnmächtigen Sekte verkommen. Marx zitierte dazu oft den deutschen Poeten Goethe: "Theorie ist grau, mein Freund, aber der Baum des Lebens ist immergrün." Marxisten arbeiten nicht im Vakuum. Die lange Periode des kapitalistischen Aufschwungs nach 1945 hatte große Auswirkungen auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse, einschließlich der fortschrittlichsten Schichten der Klasse. Es gibt keinen automatischen Mechanismus, wodurch die Erfahrung einer Generation an Arbeitern auf die nächste einfach übertragen werden kann. Jede Generation muss die Lehren der Vergangenheit durch eigene Erfahrungen neu erlernen. Die jetzige Generation wird einige besonders schmerzhafte Erfahrungen machen müssen, aber sie wird daraus lernen. Wenn wir mit genügend Kadern präsent sind, wird dieser Lernprozess kürzer und einfacher sein. Es ist notwendig, mit den Arbeitern eine gemeinsame Sprache zu finden, ohne deshalb bei den Prinzipien Abstriche zu machen. Vor dem Krieg wurde eine ganze Generation auf der Grundlage der Russischen Revolution erzogen. Revolution, Krieg und Konterrevolution waren den Arbeitern keine fremden Ideen, zumindest nicht bei den fortschrittlichsten Schichten. Dies ist heute ganz anders. In den entwickelten kapitalistischen Ländern (wenn auch nicht in den ex-kolonialen Ländern) ging das Klassenbewusstsein bis zu einem gewissen Grad zurück, was in gewisser Hinsicht die abgefederten Widersprüche in der Gesellschaft selbst reflektierte. Das wird sich aber wieder ändern. Die neue Periode, vor der wir stehen, wird voller Erschütterungen sein. Die alten Illusionen in den Reformismus werden verloren gehen. Es ist aber notwendig, die Klasse so zu nehmen, wie wir sie vorfinden. Der russische Revolutionär Herzen pflegte seinem Freund Bakunin zu sagen, dass er den zweiten Monat der Schwangerschaft gerne mit dem neunten verwechsle. Das ist die organische Krankheit der Linksradikalen in jeder Periode. Solche Fehler können nur zu einer Abtreibung führen. Unser Ziel ist es, erste Wurzeln in den Arbeiterorganisationen zu schlagen und bei den Aktivisten Gehör zu finden. Unsere Erfolge dabei werden für die Zukunft entscheidend sein.
Trotzki über die USA
Die Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern wird einerseits schwieriger andererseits aber auch einfacher als in Russland sein. Die Russische Revolution, die trotz GO Erwiderungen, kaum auf ernsthaften Widerstand gestoßen war, wurde von 21 imperialistischen Invasionsarmeen überfallen und musste auf den Terror zurückgreifen, um überleben zu können. Trotzki erklärte aber, dass z.B. ein sozialistisches Amerika diese Probleme nicht haben würde. Welchen Ratschlag gab Trotzki seinen Anhängern, wie sie an die amerikanischen Arbeiter vor dem Krieg herantreten sollten? Wir haben ein gutes Beispiel für die Methode Trotzkis in den Akten der Dewey-Kommission dokumentiert: "La Follette: Da gibt es noch eine Frage, die ich gerne stellen möchte: Ich möchte fragen, was sie von der Idee halten, dass der revolutionäre Terror nahezu automatisch zum Terror des Thermidors führen muss. Trotzki: Auch in einer so allgemeinen Form kann ich das nicht akzeptieren aber ich kann es auch nicht bestreiten. Terror in einer Revolution ist ein Symptom der Schwäche, nicht der Stärke. La Follette: Der Schwäche? Trotzki: Der Schwäche - solch schreckliche Mittel. Die Revolution braucht auf einem niedrigen Niveau mehr Terror als eine Revolution auf einem höheren Niveau, weil die Gefahr einer Konterrevolution größer ist." (The Case of Leon Trotsky, S.372) In seinem Dokument sagt GO, dass die "angeblich ‘friedlichen’ Revolution von 1917 dafür herhalten muss, um die Idee zu unterstützen, dass heute eine revolutionäre Partei die Staatsmaschinerie umstürzen kann, ohne auf jeglichen effektiven Widerstand zu stoßen". Wir haben diese Frage von 1917 bereits behandelt. Das endete aber hier noch lange nicht. In etlichen Situationen kehrte Trotzki zu dieser Frage zurück. Auch nur eine oberflächliche Kenntnis seiner Schriften beweist, dass Trotzkis Herangehensweise an die Frage der revolutionären Gewalt mit der unseren deckungsgleich ist. Das sagt Trotzki über dieses Thema in einer kleinen Broschüre mit dem Titel "Wenn Amerika kommunistisch würde": "In Wirklichkeit werden sich amerikanischen Sowjets von den russischen Sowjets genauso unterscheiden, wie sich die Vereinigten Staaten Präsident Roosevelts vom Russischen Reich des Zaren Nikolaus II. unterscheiden. Doch kann der Kommunismus in Amerika nur durch eine Revolution zustande kommen, genauso wie die Unabhängigkeit und die Demokratie in Amerika. Das amerikanische Temperament ist energisch und heftig, und so muss, ehe der Kommunismus fest verwurzelt ist, eine Menge Geschirr zerbrochen und müssen viele Pläne über den Haufen geworfen werden. Die Amerikaner sind zuerst Enthusiasten und Sportsleute, dann erst Spezialisten und Staatsmänner, und es widerspräche der amerikanischen Tradition, eine wichtige Veränderung vorzunehmen, ohne sich vorher für die eine Hälfte des Spielfeldes zu entscheiden und sich die Köpfe zu zerschlagen. Doch wird die amerikanische kommunistische Revolution im Vergleich zur bolschewistischen Revolution in Russland, gemessen am gesellschaftlichen Reichtum und an der Bevölkerung, unbedeutend sein, gleichgültig wie groß ihre relativen Kosten sein werden. Der Grund dafür ist, dass ein revolutionärer Bürgerkrieg nicht von der Handvoll Leute an der Spitze - den fünf oder zehn Prozent, denen neun Zehntel des amerikanischen Reichtums gehören - ausgefochten wird; sie könnte ihre konterrevolutionären Armeen nur aus den unteren Zwischenklassen rekrutieren. Aber auch die Revolution könnte diese mit Leichtigkeit unter ihr Banner scharen, indem sie ihnen zeigt, dass nur die Unterstützung der Sowjets ihnen Aussicht auf Rettung bietet. Jeder unterhalb dieser Gruppe ist wirtschaftlich für den Kommunismus schon vorbereitet. Die Wirtschaftskrise hat unter der Arbeiterklasse gewütet und den Farmern, die bereits durch die lange landwirtschaftliche Flaute des Nachkriegsjahrzehnts geschädigt waren, einen vernichtenden Schlag versetzt. Es gibt keinen Grund, warum diese Gruppen der Revolution entschlossenen Widerstand entgegensetzen sollten; sie haben nichts zu verlieren, vorausgesetzt natürlich, dass die revolutionären Führer ihnen gegenüber eine weitsichtige und gemäßigte Politik einschlagen. Wer wird sonst noch gegen den Kommunismus kämpfen? Die Wachmannschaften Ihrer Milliardäre und Multimillionäre? Ihre Mellons, Morgans, Fords und Rockefellers? Sie werden in dem Augenblick zu kämpfen aufhören, in dem sie niemand mehr finden, der für sie kämpft. Die amerikanische Sowjetregierung wird die Kommandohöhen Ihres Wirtschaftssystems, die Banken, die Schlüsselindustrien und das Transport- und Kommunikationssystem fest in die Hand nehmen. Sie wird dann den Farmern, den kleinen Gewerbetreibenden und Geschäftsleuten eine ausreichend lange Bedenkzeit geben, während deren sie sehen können, wie gut der verstaatlichte Sektor der Wirtschaft funktioniert." (Trotzki, Wenn Amerika kommunistisch würde, in: Trotzki, Denkzettel - Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, hsg. von Deutscher, Novack, Dahmer, S. 245-6) Worin liegt die Bedeutung dieser Zeilen? Während er keinen Augenblick die Notwendigkeit für einen revolutionären Kampf bestreitet (wie könnte ein Marxist dies auch tun?), sagt Trotzki den amerikanischen Arbeitern die offensichtliche Wahrheit, dass die großen Kapitalisten angesichts des überwältigend günstigen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen - gegeben eine seriöse marxistische Führung mit einer korrekten Einstellung gegenüber den kleinen Farmern und dem Kleinbürgertum - einfach isoliert, paralysiert werden. Genau das passierte in Frankreich im Jahre 1968, selbst ohne einer marxistischen Führung, obwohl die Revolution dann später, wie wir noch sehen werden, von den Stalinisten verraten wurde.
Trotzkismus versus Sektierertum
Krieg und Revolutionen sind die Situationen, in denen jede revolutionäre Strömung und ihre Führung auf die Probe gestellt werden. Wir stützen uns fest auf die Politik und die Methode Lenins und Trotzkis. Die Herangehensweise unserer Strömung in allen grundlegenden Fragen blieb in den letzten 50 Jahren unverändert, sie wurde in der Praxis getestet und erwies sich als korrekt. Wir sind stolz auf die Tatsache, dass wir die Ideen, Methoden und Traditionen von Marx, Engels, Lenin und vor allem Leo Trotzki fortführen. Trotzkis Schriften, vor allem in seinen letzten, sind das beste Beispiel, wie die marxistische Methode in destillierter Form auf die konkreten Bedingungen der modernen Epoche angewandt werden kann. Vergleichen wir nur die reiche, kreative, dialektische Herangehensweise Trotzkis beispielsweise in der Frage der proletarischen Militärpolitik im Zweiten Weltkrieg mit den trockenen Schemata der Sekten, die sich als große Revolutionäre fühlen, nur weil sie ein paar Leninzitate von sich geben können, die sie ohnedies nicht verstanden haben. Unsere Strömung machte in der Vergangenheit genügend Erfahrungen in dieser Frage. Während des Zweiten Weltkriegs verteidigte die Workers International League (WIL) in Großbritannien Trotzkis proletarische Militärpolitik gegen die Revolutionary Socialist League (RSL), die angeblich für Lenins Politik des "revolutionären Defätismus" stand. Die RSL folgte der gleichen Methode wie GO und beschuldigte uns einer "ernsthaften Abkehr von der Sichtweise Lenins und Trotzkis", weil nicht Wort für Wort Lenins Argumente aus den Jahren 1914/5 wiederholten, ohne zu verstehen, dass sich die Situation völlig verändert hat. In der Praxis stand die WIL für eine revolutionär-defätistische Position, übersetzte sie aber in eine für die Arbeiter verständliche und unter diesen Bedingungen nachvollziehbare Sprache. Hätten wir zu der Zeit, als Hitler Amok lief und europaweit die Arbeiterorganisationen auszulöschen versuchte, wie ein Papagei Losungen, wie "Der Hauptfeind steht im eigenen Land" und "Machen wir aus dem imperialistischen Krieg einen Bürgerkrieg", wäre das völlig verrückt gewesen. Es ist nicht überraschend, dass die RSL die "rrrrrrrrrevolutionären" Ideen nie in den Arbeiterorganisationen sondern immer nur im eigenen Schlafzimmer vertreten hat! Es war auch besser für sie... Nur in einem Fall verteidigte ein besonders stumpfsinniger Vertreter dieser Gruppe ihre Positionen in der Labour Party. Er brachte in seiner Labour Party-Sektion eine Resolution ein, in der stand, dass "der Sieg Deutschlands das kleinere Übel" wäre, und war dann auch noch überrascht, dass er ausgeschlossen wurde! Wie immer ist die Art von Wortradikalismus nur für den internen Konsum geeignet. Kleine linksradikale Gruppen, die von der Klasse isoliert sind, haben niemanden außer sich selbst, zu dem sie reden können. Da ihnen niemand zuhört, können sie sagen, was sie wollen, auch wenn es noch so bizarr ist. Als typische Sektierer verbrachte die RSL den ganzen Krieg mit Diskussionen in ihrem internen Bulletin. Das war ihre Hauptbeschäftigung. Auf der anderen Seite erhielt die Politik und Methodik unserer Strömung ein nicht zu vernachlässigendes Echo unter den Arbeitern, nicht nur in den Fabriken und Gewerkschaften sondern auch in der Armee. Die WIL machte in der Armee, der Marine und der Luftwaffe eine äußerst erfolgreiche Arbeit. Entgegen den Erwartungen Trotzkis war die britische herrschende Klasse gezwungen demokratische Rechte zuzugestehen, um so die Unterstützung der Arbeiter für den angeblichen "Kampf gegen den Faschismus" zu erhalten. Selbst in den Streitkräften gab es ein überraschendes Ausmaß an Spielraum für revolutionäre Arbeit (im Rahmen der militärischen Disziplin, die unsere Genossen, dem Ratschlag Trotzkis folgend, immer genau befolgten). Einer unserer Genossen wurde auf der Grundlage des Programms der IV. Internationale zum Vorsitzenden des "Armeeparlaments" in Ägypten gewählt. Ein weiterer Genosse erhielt vom Offizier, der für die politische Bildung verantwortlich war, das Angebot, die Truppen politisch zu schulen. Diese Position nutzten wir natürlich, um trotzkistische Ideen zu verbreiten. Ein anderer, der zum Offizier in der Luftwaffe befördert worden war, war derart erfolgreich bei seiner politischen Arbeit unter den Fliegern, dass er mit allen Ehren aus der Royal Air Force verabschiedet wurde. Den Rest des Krieges versuchte er aber zur Truppe zurückzukommen. Diese Arbeit in den Streitkräften war nur möglich auf der Grundlage einer korrekten politischen Linie und Methode. Auf jeglicher anderen Grundlage wäre sie gescheitert. Der schrille Linksradikalismus der RSL, basierend auf ein paar aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten Lenins, lähmte ihre Arbeit völlig. Dieser "rrrrrrrrrevolutionäre" Nonsens konnte die Arbeiter nicht erreichen. Sie wären entweder als Wahnsinnige oder als Verräter angesehen worden. Pierre Frank hatte z.B. die glorreiche Idee, nach dem Fall Frankreichs im Jahre 1940 ein Flugblatt unter den britischen Arbeitern zu verteilen, indem sie aufgefordert wurden, die "Fabriken zu besetzen". Zu der Zeit arbeiteten die britischen Arbeiter aber freiwillig 18 Stunden am Tag, um den - wie sie es sahen - "Krieg gegen Hitler" zu unterstützen. Hier sehen wir einmal mehr denselben Nonsens, denselben unproduktiven Formalismus, der versucht, ein fertiges Schema ungeachtet der Zeit und des Ortes auf die Realität überzustülpen. Es ist eine grundlegend falsche Methode, die Methode abstrakter Politik, die nichts zu tun hat mit der Herangehensweise, wie sie von Trotzki und später unserer Strömung erarbeitet wurde. Was war nun die Position der WIL? Wir sagten den britischen Arbeitern: "Wir stimmen mit Euch überein, dass Hitler unser Feind ist. Wir sind keine Pazifisten. Wir sind dafür, dass man die Nazis besiegt. Wir können uns dabei aber nicht auf Churchill und die herrschende Klasse verlassen, da diese Hitler selber unterstützt und die Zerstörung der deutschen Arbeiterbewegung lautstark begrüßt haben. Die einzige Kraft, die den Nationalsozialismus besiegen kann, ist die Arbeiterklasse. Wir fordern daher, dass die Labour Party die Koalition aufkündigt, die Macht selber ergreift und die Gesellschaft verändert. Dann können wir einen revolutionären Krieg gegen Hitler führen." Diesem Programm entsprechend, formulierten wir Übergangsforderungen entsprechend Trotzkis proletarischem Militärprogramm, wie die Schaffung von Militärschulen zur Ausbildung von Arbeiteroffizieren sowie Kontrolle der militärischen Ausbildung durch die Gewerkschaften. Somit gaben wir der Losung "Bewaffnet die Arbeiter" einen klaren Inhalt. Während die RSL-Sektierer sich im Schlafzimmer gegenseitig revolutionäre Reden hielten, machte die WIL eine wirklich revolutionäre Arbeit in den Fabriken, den Betriebsratskomitees und den Gewerkschaftssektionen. Die WIL kombinierte dabei Prinzipientreue mit der notwendigen taktischen Flexibilität. Dadurch erhielten wir in der Arbeiterbewegung - einschließlich der KP - auch ein großes Echo. Auf dieser Grundlage bauten wir eine der erfolgreichsten Organisationen in der Geschichte des internationalen Trotzkismus, die RCP, während die RSL dahin vegetierte und letztlich gänzlich verschwand. Wie korrekt unsere Herangehensweise an den Krieg und die Militärpolitik war, bewies die Reaktion der herrschenden Klasse. Bei Kriegsausbruch wurde jede WIL-Ortsgruppe von der Polizei gestürmt. Sie erkannten die Gefahr, die sich durch unsere Politik und unsere Taktik ergab. Im Gegenzug wurde die RSL als völlig irrelevant angesehen, was sie auch zweifelsohne war. Worin lag nun der Fehler der RSL? Sie vertrat eine abstrakte Position in Bezug auf die leninistische Position zu Krieg und Revolution und wandte gewisse Losungen und Ideen ungeachtet der realen Lage in der Gesellschaft, der Arbeiterbewegung und des Bewusstseins der Arbeiterklasse an. Die Stalinisten begingen alle nur denkbaren Fehler, linksradikale wie auch opportunistische. Aber selbst sie kann man einer solchen Verrücktheit nicht anklagen. Solch elementare Fehler wären unmöglich für jede Strömung, die wirklich in der Klasse verwurzelt ist. Das ist die Essenz des Problems.
Wie man die Frage nicht stellen darf
Genosse GO betont die Bedeutung, die Kader zu schulen und auszubilden. Wir stimmen mit ihm überein. Aber wie schult man einen marxistischen Kader? Nicht indem man revolutionäre Phrasen über den Bürgerkrieg wiederholt, sondern indem man die Grundlagen des Marxismus erklärt und vor allem erklärt, wie man die Massen gewinnen kann. Lenin und Trotzki haben vor langer Zeit festgestellt, dass 9/10 der Aufgaben der sozialistischen Revolution darin bestehen, die Massen zu gewinnen. Das ist heute wichtiger denn je.<br />Die zunehmende Macht des Proletariats, die nun die entscheidende Mehrheit in den wichtigsten industrialisierten Ländern stellt, schafft zweifelsohne günstige objektive Bedingungen für die sozialistische Gesellschaftsveränderung. Wie wir schon sehr oft erklärt haben, hat die Entwicklung der Produktivkräfte und das Verschwinden der Bauernschaft in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg die Arbeiterklasse enorm gestärkt. Das Problem ist, dass sich die Klasse dessen nicht bewusst ist. Und die reformistischen Führer bemühen sich, die Arbeiter davon zu überzeugen, dass sie schwach sind und der bürgerliche Staat enorm stark ist. Ein Teil ihrer Taktik besteht darin, die Arbeiter damit zu verängstigen, dass Revolution unvermeidlich zu Gewalt, Blutvergießen und Bürgerkrieg führen muss. Interessanter Weise spielen die linksradikalen Sekten immer dasselbe Lied und arbeiten somit den Bürgerlichen und ihren reformistischen Verbündeten voll in die Hände. Vor einigen Jahren, während der Hexenjagd gegen unsere Strömung, wurde Ted Grant vom britischen TV interviewt. Kaum überraschend kam auch eine Frage zu unserer Position in der Gewaltfrage. Ted Grant antwortete folgendermaßen: "Sind sie für die Pest? Natürlich bin ich nicht für Gewalt. Wir stehen für eine Labour-Regierung, die ein Ermächtigungsgesetz zur Verstaatlichung der Banken und großen Monopole verabschieden muss." Natürlich wäre der Interviewer sehr erfreut gewesen, wenn er als Antwort erhalten hätte, dass wir den Staat zerstören wollen, dass ein Bürgerkrieg unvermeidlich ist usw. GO zitiert einen Auszug aus einem Artikel aus unserer Zeitung - übrigens das einzige Zitat in seinem ganzen Dokument. So nebenbei gesagt, behandelt dieser nur zweiseitige Artikel die Staatsfrage aus einer hauptsächlich allgemeinen historischen Sichtweise. Es handelt sich nicht um eine Darstellung unserer Position zur revolutionären Taktik. Dazu würde es genügend Material in den Weltperspektiven geben, die er aber überhaupt nicht zitiert. Aber selbst so blieb GO bei der Darstellung des Inhalts dieses Artikels nicht sonderlich fair. So kritisiert er fälschlicherweise die Verwendung des Wortes "Sabotage" als Beschreibung der Einstellung der herrschenden Klasse zu einer Labour-Regierung. Außerdem unterstellt er, dass der Artikel die Möglichkeit eines Putsches nicht erwähnt. Jedoch können wir einige Absätze vor dem von ihm zitierten folgendes lesen: Die Kapitalisten selbst bevorzugen die Demokratie als billigeres und anpassungsfähigeres System. Wie jedoch der Ex-Tory-Abgeordnete Ian Gilmour einst erklärte, ist dies für die Unternehmer nur ein Mittel zum Zweck. Falls sie den Fortbestand des Kapitalismus dadurch gefährdet sieht, würde die herrschende Klasse keine Minute zögern, dem Ende zu setzen. In den frühen 70ern bereiteten Brigadier Kitson & Co. für den Fall einer Labour-Regierung, die sozialistische Maßnahmen in ihrem Programm umzusetzen versucht, einen Putsch vor. Vor noch nicht so langer Zeit hatten wir die Gladio-Konspiration der Sicherheitskräfte in ganz Europa zur Vorbereitung zukünftiger Militärcoups." Ist das nicht ausreichend klar? Was will man sonst noch verlangen? Eine Wiederholung der grundlegenden Argumente von Marx und Lenin? Selbst das kann man in diesem Artikel finden, einschließlich eines Artikels von Marx an Klugmann: "Wenn Du das letzte Kapitel meines ‘Achtzehnten Brumaire’ nachsiehst, wirst Du finden, dass ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andre zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent." (Brief von Marx an Kugelmann, 12.April 1871) Noch immer nicht genug? Was will der Genosse? Er sagt es uns selbst: "Die Möglichkeit eines Bürgerkriegs wird nicht erwähnt." GO reitet permanent auf dem selben Thema herum. Unser Material muss, so scheint es, darauf beharren, dass der Bürgerkrieg nicht nur eine Möglichkeit sondern eine Unvermeidbarkeit ist. Dies zeigt der folgende Absatz: "Die Frage der Macht wird nicht auf der ökonomischen Ebene sondern auf der militärischen Ebene entschieden. Die Arbeiter müssen bewaffnet werden und schon im vorn hinein auf eine militärische Konfrontation vorbereitet werden, die von jeder revolutionären Partei, die diesen Namen zu Recht trägt, als unvermeidlich bezeichnet werden muss. Sie werden die Macht des kapitalistischen Staates mit Gewalt, mit dem Mittel des bewaffneten Aufstands, eliminieren müssen. Die militärische Macht der herrschenden Klasse muss entschieden gebrochen werden, bevor noch die Gesellschaft auf einer sozialistischen Basis reorganisiert werden kann." So da besteht kein Zweifel. Jede revolutionäre Partei, die diesen Namen zu Recht tragen will, MUSS den Arbeitern sagen, dass der BÜRGERKRIEG UNVERMEIDLICH IST. Ansonsten werden wir einer "zweideutige Herangehensweise" und eine "ernsthafte Abkehr von der Sichtweise Lenins und Trotzkis" beschuldigt, was bedeutet, "dass die Internationale nie imstande sein wird, ihre historische Mission zu erfüllen". Während wir immer vom Standpunkt Lenins und Trotzkis ausgegangen sind, nämlich die Massen zu gewinnen ("geduldig erklären"), so ist das für GO nicht mehr gut genug. Er meint, dass "die Frage der Macht nicht auf der ökonomischen sondern auf der militärischen Ebene entschieden wird". Was können wir darauf antworten? Was machen wir mit den Forderungen der Bolschewiki aus dem Jahre 1917 - "Frieden, Brot, Land"? Unsere Hauptforderung in Großbritannien ist die nach einer Labour-Regierung auf der Grundlage eines sozialistischen Programms, der Verstaatlichung der Banken und Monopole, eines sozialistischen Produktionsplans usw. Was schlägt GO vor? Dass die "ökonomischen" Forderungen zugunsten der Losung "Unvermeidbarkeit des Bürgerkriegs" fallengelassen wird? Aber jetzt kommt’s...Nachdem so viel Zeit aufgewandt wurde, um die Unvermeidbarkeit von gewaltsamer Revolution und Bürgerkrieg zu beweisen, müssen wir nun lesen: "Bedeutet das, dass ein langer, blutiger Bürgerkrieg unvermeidlich ist? Überhaupt nicht. Was in Bezug auf den abgetriebenen revolutionären Prozess in Frankreich 1968 gesagt wurde, trifft auch auf Großbritannien zu. Das Ausmaß der Leichtigkeit (oder Schwierigkeit), mit der die konterrevolutionären Kräfte zerbrochen werden können, hängt von vielen Faktoren ab, und es wäre reine Scharlatanerie, dies im voraus vorherzusagen. Die bewaffneten Kräfte, die dem Kapitalismus zur Verfügung stehen, könnten desintegrieren und sich als leicht besiegbar herausstellen. Aber selbst in diesem Fall ist die Revolution wahrscheinlich nicht ganz ‘friedlich’." Das erinnert ein wenig an den alten Herzog von York, der in einem alten Gedicht, seine Mannen auf einen Hügel hinauf führte, um sie dann wieder hinunter zu führen. Wenn das alles ist, was uns der Genosse sagen wollte, kann man aber nur schwerlich den Grund für die ganze Debatte erkennen. Wir können dazu nur "Amen" sagen und es dabei belassen. Leider sagt GO aber noch einiges mehr, und vieles von dem, was er sagt, ist ganz einfach widersprüchlich. Ein kleiner Fehler, der nicht korrigiert wird, wird zu größeren Fehlern führen. GO schießt sich auf eine Position ein, die wir nicht haben, und macht somit eine ganze Reihe von Fehlern (einige sind dabei gar nicht so klein), die, weit davon entfernt, die Frage des Staates und der Taktik der Marxisten zu klären, endlose Konfusion verursachen wird, wenn sie nicht korrigiert werden. Nur um ein Beispiel zu geben, nehmen wir das oben angeführte Zitat. Es ist völlig unkorrekt, die sogenannten "ökonomischen Forderungen" der Aufgabe des Sturzes der kapitalistischen Klasse entgegenzustellen. Das widerspricht total dem Geist des Bolschewismus. Die entscheidende Frage ist, wie wir die Frage der Macht so stellen, dass wir die Massen gewinnen und für eine Offensive gegen das Kapital mobilisieren können. Mit GO Methode wird uns das nicht gelingen, sondern nur, wenn wir die Tageskämpfe der Arbeiter ("ökonomische Forderungen") mit der Idee der Enteignung der Banken und großen Monopole verbinden können. Das schafft man nicht durch abstrakte Diskussionen über die Bedeutung eines gewaltsamen Umsturzes des Staates durch "militärische Mittel" sondern nur in Form eines Übergangsprogramms. Wie hat Trotzki diese Frage gestellt?<br />Im "Übergangsprogramm", das eine Art Zusammenfassung der marxistischen Position zur sozialistischen Transformation der Gesellschaft liefert, erklärt Trotzki die genaue Beziehung zwischen "ökonomischen Forderungen" und dem Sturz der Bourgeoisie. Seine Einstellung dazu zeigt sich klar in den Diskussionen zum Übergangsprogramm, die übrigens intern waren, mit dem Ziel, die führenden Kader der trotzkistischen Bewegung zu schulen und weiterzuentwickeln: "Die Losung ‘Enteignung’ im Programm schließt eine Entschädigung nicht aus. In diesem Sinne stellen wir oft die Enteignung der Konfiszierung gegenüber. Die Konfiszierung schließt eine Entschädigung aus, aber die Enteignung kann sie einschließen. Wie hoch die Entschädigung ausfällt, ist eine andere Frage. Wir können zum Beispiel bei unserer Agitation gefragt werden: Was werdet Ihr tun, werdet Ihr die Eigentümer und Machthaber in Landstreicher verwandeln? Nein, wir werden ihnen eine angemessene Entschädigung geben, wie sie sie zum Leben brauchen, sofern sie arbeitsunfähig sind - das gilt für die ältere Generation. Man muss die Russen nicht nachahmen. Sie erlitten eine Intervention von sehr vielen kapitalistischen Nationen; das beraubte sie der Möglichkeit Entschädigungen zu leisten. Wir in den Vereinigten Staaten sind ein reiches Volk, und wenn wir an die Macht kommen, werden wir der älteren Generation eine Entschädigung gewähren. In diesem Sinne wäre es nicht günstig, die Konfiszierung ohne jede Entschädigung zu proklamieren. Es ist besser, den Begriff Enteignung statt Konfiszierung zu verwenden, denn die Enteignung kann einer Konfiszierung gleichkommen, kann aber auch eine gewisse Entschädigung beinhalten. Wir sollten zeigen, dass wir kein rachsüchtiges Volk sind. In den Vereinigten Staaten ist es sehr wichtig aufzuzeigen, dass es eine Frage der materiellen Möglichkeiten ist, dass wir aber die Kapitalistenklasse nicht persönlich zerstören werden." (Trotzki, Übergangsprogramm, S. 200-1) Für einen Sektierer scheint es aus "Prinzip" unzulässig, dass eine revolutionäre Strömung die Entschädigung der Bourgeoisie vorschlägt, genauso wie es ihm unzulässig erscheint, dass die Arbeiter die Macht ohne einen "unvermeidlichen Bürgerkrieg" übernehmen können. Das ist aber der Unterschied zwischen dem wirklichen Marxismus und reinem Formalismus. Trotzki wiederholt die gleiche Methode, die Marx und Engels anwandten, als sie sagten, dass unter bestimmten Bedingungen, das Proletariat die Kapitalisten "rauskaufen" könnte - und zwar unter der Bedingung, dass sie die Fabriken friedlich und ohne Widerstand übergeben. Weder Trotzki noch Marx und Engels hatten jegliche Illusionen darin, dass die Bourgeoisie nicht mit jedem ihr zur Verfügung stehenden Mittel um ihre Macht und ihren Reichtum kämpfen würde. Die entscheidende Frage ist aber, welche Mittel ihr im entscheidenden Moment wirklich zur Verfügung stehen. Und das hängt wiederum sehr stark von der Fähigkeit der revolutionären Partei ab, absolute Prinzipientreue mit einer absoluten Flexibilität und Intelligenz im Bereich der Taktik miteinander zu verbinden.
Mai 1968
In Frankreich im Mai 1968 erlebten wir den größten Generalstreik der Geschichte. Obwohl nur rund 3 Millionen Arbeiter in den Gewerkschaften organisiert waren, bestreikten und besetzten 10 Millionen die Fabriken. Studenten, Lehrer, Bauern, Wissenschafter, Fußballer, ja selbst die Mädchen der Follies Bergères nahmen an den Kämpfen teil. Die rote Fahne wurde über Fabriken, Schulen, Unis, Arbeitsämtern und sogar Sternwarten gehisst. Die Macht lag in den Händen der Arbeiterklasse. Die Regierung war völlig ohnmächtig. Der "starke Staat" des De Gaulle war wie gelähmt. Diese mächtige Bewegung fand am Höhepunkt des langen Nachkriegsaufschwungs statt. GO zufolge kam sie aber nicht so wirklich überraschend. In seinem Dokument schreibt er: "Die Idee, welche manchmal bei uns verbreitet wird, dass die Ereignisse 1968 einfach aus dem heiteren Himmel kamen, ist etwas übertrieben. In Wirklichkeit waren die 60er in Frankreich durch eine ganze Reihe von großen Streiks, Fabrikbesetzungen und besonders durch den unbegrenzten Generalstreik in der Verstaatlichen Industrie 1963 gekennzeichnet. Dies war verbunden mit einem stetigen Anstieg der Mitgliedschaft in den Gewerkschaften und einer zunehmenden Partizipation der Arbeiterklasse in den politischen Organisationen." Was sind nun die Fakten? Die Ereignisse in Frankreich 1968 wurden einzig und allein von unserer Strömung vorausgesagt! Jede andere Strömung wurde völlig überrascht, weil sie allesamt, mit Ausnahme unserer eigenen Strömung, die europäische Arbeiterklasse abgeschrieben hatten. Beginnend mit der Bourgeoisie. Haben sie die Bewegung in Frankreich vorhergesehen? Im Mai 1968 publizierte "The Economist" eine Spezialbeilage zu Frankreich, die von Norman Macrar geschrieben wurde, um den 10. Jahrestag der De Gaullschen Herrschaft zu zelebrieren. Macrae preist die Erfolge des französischen Kapitalismus und wies darauf hin, dass in Frankreich der Lebensstandard höher sei als in Großbritannien; dass der Fleischkonsum höher sei; dass es mehr Autos gäbe usw. Und er betonte den großen Vorteil, den Frankreich gegenüber seinem Nachbarn auf der anderen Seite des Kanals habe: die Gewerkschaften sind extrem schwach. Die Tinte von Macrae’s Artikel war kaum getrocknet, als die französische Arbeiterklasse die Welt mit einem in der modernen Epoche noch nicht da gewesenen sozialen Aufstand erstaunte. Es ist eine Tatsache, dass die Maiereignisse von den Strategen des Kapitals weder in Frankreich noch sonst wo vorhergesehen wurden. Noch weniger wurden sie von den stalinistischen und reformistischen Führern vorhergesehen, die alles getan haben, um die Bewegung von Anfang an wieder abzudrehen, und die nichts unternommen haben, um die Bewegung zu organisieren. Die Dinge standen noch schlimmer, wenn man sich die 57 Variationen der pseudomarxistischen Sekten anschaut, an denen Frankreich so reich ist. Diese intellektuellen Damen und Herren (die so nebenbei Jahrzehnte damit verbracht hatten, vom "bewaffneten Kampf", von Aufstand und all den anderen Sachen zu reden) haben die Bewegung der französischen Arbeiter nicht nur nicht vorhergesehen. Nehmen wir André Gorz, einen ihrer führenden "Theoretiker". Dieses Individuum schrieb in einem Artikel, der am Höhepunkt der Bewegung das Licht der Welt erblickte, dass es "in der vorhersehbaren Zukunft keine Krise des europäischen Kapitalismus geben wird, die so dramatisch sein wird, dass die Masse der Arbeiter zu revolutionären Generalstreiks und bewaffneten Aufständen zur Unterstützung ihrer vitalen Interessen greifen wird." (A. Gorz, Reform and Revolution, in: The Socialist Register, 1968) Gorz stand mit dieser Analyse nicht allein. Der "große Marxist" Ernest Mandel sprach ein Monat vor diesen großen Ereignissen bei einem Treffen in London. Im Zuge seines Referats sprach er über Gott und die Welt, erwähnte aber kein einziges Mal die Lage der französischen Arbeiterklasse. Als einer unserer Genossen aus dem Publikum auf diesen Widerspruch aufmerksam machte, antwortete Mandel, dass es in den nächsten 20 Jahren keine Bewegung der französischen Arbeiter geben würde. Die Autoren dieser Antwort können beide aus Erfahrung sprechen, da sowohl Ted Grant wie auch Alan Woods im Mai 1968 in Paris waren. Alan Woods ging zur Sorbonne und versuchte mit der mandelistischen Jugendorganisation JCR Kontakte zu knüpfen, nachdem sich Ted Grant’s Versuche, die Führer dieser Gruppe ausfindig zu machen, als ergebnislos herausstellten. Die Uni war natürlich von den Studenten besetzt worden. Im zentralen Hof standen die Infotische mit den Zeitungen der ganzen linken Gruppen. Das waren damals alles Monatszeitungen, und es war nicht möglich nach Beginn des Streiks eine neue Ausgabe zu produzieren. Ohne Ausnahme behandelten alle Titelseiten Themen à la Vietnam, Bolivien, Kuba, Che Guevara, Mao Zedong - in der Tat schrieben sie über alles, nur nicht über die französische Arbeiterklasse! Hat man diese Fakten, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass der Mai 1968 für jede andere Strömung aus heiterem Himmel kam. Die anderen Strömungen haben diese Ereignisse nicht erwartet, weil sie in Wirklichkeit die Arbeiterklasse in den entwickelten kapitalistischen Ländern als "korrupt", "amerikanisiert" und "verbürgerlicht" abgeschrieben hatten. Es ist kein Wunder, dass sich viele von ihnen in den Cafès von Paris endlosen Diskussionen über den "bewaffneten Kampf" hingegeben haben, was sie der Notwendigkeit entbunden hat, mit der realen Welt und den Problemen der französischen Arbeiter Kontakt aufzunehmen. Hätten sie das gemacht, wäre ihnen sicher nicht entgangen, dass sich eine soziale Explosion schon längst ankündigte. Leider hatten wir damals in Frankreich keine Gruppe, die imstande gewesen wäre, effektiv in diesen Ereignissen zu intervenieren. Die wichtigste Lehre sowohl aus dem Mai 1968 wie auch aus der Streikbewegung im Dezember 1995 ist, dass es für uns zu spät ist, sobald die Massen einmal auf der Straße sind. Man kann eine revolutionäre Organisation nicht aus dem Nichts schaffen. Sie muss schon vorher aufgebaut werden. Wir produzierten ein Flugblatt mit der zentralen Losung nach demokratisch gewählten Aktionskomitees, die auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene verbunden werden sollten, um so die Grundlage für eine alternative Arbeiterregierung bilden zu können. Wir standen außerdem für die Organisierung der Arbeiter in Verteidigungskomitees, beginnend mit der Bewaffnung der Streikposten. Diese Losung korrespondierte damals mit den Bedürfnissen, die sich aus der Situation ergaben, als gegen Ende des Streiks die Regierung in einigen Gebieten Sondereinheiten der Polizei gegen die Streikenden einsetzte. Vielleicht fällt das auch unter "fantastische Ideen", "falscher Optimismus" oder "verschwommene und zweideutige Herangehensweise" an eine Revolution. Alan Woods versuchte eines der Aktionskomitees davon zu überzeugen, dieses Programm anzunehmen und erhielt von einigen der Arbeiter ein sehr positives Echo. Die Studenten, die dieses Komitee aber dominierten, waren mit anarchistischen Vorurteilen infiziert und drehten uns freundlich aber doch ab. Was konnten wir machen? Es ist eine Tatsache, dass das Programm auch zu 100% richtig sein kann, das man damit aber nur wenig anfangen kann, wenn man keine Organisation hat, die fähig ist, in der Bewegung der Arbeiter zu intervenieren.
1968 war eine Revolution
In seinem Dokument akzeptiert GO, dass das Kräfteverhältnis gegenüber der Vergangenheit viel günstiger gewesen ist: "In Frankreich, z.B.", schreibt er, "zur Zeit der revolutionären Krise von 1936, verdiente die Hälfte der Bevölkerung ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, wohingegen heute nur 6% der Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft tätig sind. Die Klasse der Lohnabhängigen ist nicht nur zahlenmäßig gewachsen, sondern auch in Bezug auf ihre Kampfstärke. Ein gut organisierter Generalstreik würde die Ökonomie eines gegebenen Landes unter modernen Bedingungen zum völligen Stillstand bringen, besonders in den ökonomisch entwickelten Regionen der Welt." Nebenbei ist es aber nicht nur eine Frage des Verschwindens der Bauernschaft. Die Entwicklung der Industrie bedeutet, dass das Proletariat selbst viel stärker als in den 30ern ist, ganz abgesehen von den Zeiten der Pariser Kommune, als nahezu alle Arbeiter in kleinen Betrieben arbeiteten. Selbst 1931 beschäftigten fast 2/3 aller Industriebetriebe überhaupt keine Lohnarbeiter, und ein weiteres Drittel beschäftigte weniger als 10. Nur 0,5% der Industriebetriebe beschäftigte mehr als 100 Arbeiter. Dass sich dies 1968 grundsätzlich geändert hat, zeigt, dass die Schlüsselrolle von den riesigen Fabriken wie die Renault-Werke in Flins eingenommen wurde. Bei Renault Flins nahmen bei einer Gesamtbelegschaft von 10500 Arbeitern circa 1000 an den Streikposten teil, und mindestens 5000 besuchten die täglichen Streikversammlungen alleine in diesem Werk. 1936 war das Kräfteverhältnis bei weitem ungünstiger, die Situation war viel weniger weit entwickelt. Trotzdem meinte Trotzki, dass die KP die Macht übernehmen hätte können, und zwar, um GO’s Worte zu verwenden, "ohne auf effektiven Widerstand zu stoßen". "Falls die Partei von Leon Blum wirklich sozialistisch gewesen wäre, hätte sie, sich auf den Generalstreik stützend, die Bourgeoisie im Juni nahezu ohne Bürgerkrieg, mit nur einem Minimum an Aufruhr und Opfern stürzen können. Die Partei von Blum ist aber eine bürgerliche Partei, der jüngere Bruder des verfaulten Radikalismus." (Leo Trotzki, On France, S.178) Das Kräfteverhältnis war 1968 weit günstiger. Eine friedliche Transformation war möglich, falls die KP-Führer so gehandelt hätten, wie Marxisten handeln sollten. Es ist wichtig, das zu betonen. Durch den Verrat der Stalinisten aber, die sich weigerten, unter solch günstigen Bedingungen die Macht zu übernehmen, müssen die französischen Arbeiter unter Umständen in der Zukunft mit einem Bürgerkrieg bezahlen. Die Ereignisse im Mai 1968 waren weit mehr als ein Generalstreik. Das war eine Revolution, die von den Stalinisten verraten wurde. Wer das nicht versteht, versteht nichts. Jeder Teil der Arbeiterklasse war in die Kämpfe verwickelt. Die kolossale Reichweite der Bewegung, ihr Schwung und ihr Elan, zeigen, dass diese Bewegung in den besten revolutionären Traditionen der französischen Arbeiterklasse stand. Und dies war ohne Führung von den Spitzen der KP und der SP möglich. Was ist eine Revolution? Nirgends in seinem Dokument stellt GO diese Frage, noch beantwortet er sie. Im Gegenteil, ständig macht er den Fehler, Revolution mit dem Aufstand zu vermischen. In Wirklichkeit ist der Aufstand nur ein kleiner Teil der Revolution. Trotzki erklärt, dass eine Revolution eine Situation darstellt, wenn die Masse der normalerweise apathisch lebenden Männer und Frauen beginnt, aktiv am Leben der Gesellschaft teilzuhaben, wenn sie ein Bewusstsein ihrer eigenen Stärke erlangt und beginnt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Genau das macht eine Revolution aus. Und genau das passierte in einem unvorstellbaren Ausmaß in Frankreich im Mai 1968. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen drückte sich hier nicht in einem abstrakten Potential oder in einer reinen Statistik aus, sondern als wirkliche Macht in den Straßen und den Fabriken. Die französischen Arbeiter zeigten ihre Muskeln und wurden sich ihrer eigentlichen Macht bewusst. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, zitieren wir hier einen Bericht von der Demo vom 13. Mai in Paris, an der rund eine Million Menschen teilnahm: "Unaufhörlich zogen sie vorbei. Da waren ganze Sektionen von Gesundheitspersonal in weißen Mänteln, einige trugen Poster mit der Aufschrift ‘Où sont les disparus hopitaux?’ (‘Wo sind die verschwundenen Verletzten?’). Jede Fabrik, jeder große Arbeitsplatz schien vertreten zu sein. Es gab unzählige Gruppen von Eisenbahnern, Postlern, Druckern, Metro-Angestellten, Metallarbeitern, Flughafenarbeitern, Märkverkäufern, Elektrikern, Rechtsanwälten, Bankangestellten, Kellnern, Gemeindebediensteten, Malern und Anstreichern, Angestellten der Gaswerke, Verkäuferinnen, Versicherungsangestellte, Straßenkehrern, Leute aus den Filmstudios, Busfahrer, Lehrer, Arbeiter aus der neuen Plastikindustrie, eine Reihe nach der anderen, das Fleisch und Blut der modernen kapitalistischen Gesellschaft, eine nicht mehr aufhörende Masse, eine Macht, das alles vor sich herschieben konnte, wenn es sich nur dazu entschlossen hätte." (zitiert in "Revolutionary Rehearsals", S.12) Einmal im Kampf begannen die Arbeiter selber die Initiative zu übernehmen, die weit über einen gewöhnlichen Streik hinausging. Die Drucker und Journalisten übten über die Presse eine Art Arbeiterkontrolle aus. Bürgerliche Zeitungen mussten ihre Editorials einer Überprüfung unterziehen und hatten die Erklärungen der Arbeiterkomitees abzudrucken. De Gaulles Plan, ein Referendum abzuhalten, wurde durch die Aktionen der Arbeiter verhindert. Der General konnte nicht einmal Wahlzettel für das Referendum auftreiben, weil die französischen Drucker streikten und die belgischen Kollegen sich weigerten, als Streikbrecher einzuspringen. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen ist nicht nur eine Sache der relativen numerischen Stärke der Arbeiterklasse im Vergleich zur Bauernschaft und zum Kleinbürgertum. Beginnt die Arbeiterklasse einmal, entschieden zu kämpfen und sich als mächtige Kraft in der Gesellschaft zu präsentieren, zieht sie sehr schnell die ausgebeutete Masse an Bauern und kleinen Geschäftsleuten an, die sonst von den Banken und großen Monopolen zerdrückt werden. Dies zeigte sich 1968 ganz deutlich, als die Bauern rund um Nantes Straßenblockaden errichteten und Essen gratis an die Streikenden verteilten. Arbeiter kontrollierten die Benzinverteilung in Nantes und gaben nur Benzin aus, wenn jemand von den Streikkomitees dazu autorisiert war. Ein Streikposten wurde bei der einzig funktionierenden Benzinpumpe der Stadt positioniert, um sicherzustellen, dass nur an Ärzte Benzin ausgegeben wurde. Man nahm Kontakt mit den Bauernorganisationen in den umliegenden Gebieten auf und arrangierte mit ihnen die Nahrungsmittelversorgung, wobei die Preise von den Arbeitern und Bauern fixiert wurden. Um Profitmacherei zu verhindern, mussten Geschäfte an den Schaufenstern Aufkleber anbringen mit der Aufschrift "Dieses Geschäft ist autorisiert, offenzuhalten. Seine Preise sind unter permanenter Aufsicht durch die Gewerkschaften". Der Aufkleber wurde von CGT, CFDT und FO unterschrieben. Ein Liter Milch, der vorher 80 centimes kostete, wurde nun für 50 centimes verkauft. Der Preis für 1 Kilo Kartoffel wurde von 70 auf 12 centimes gesenkt. Für 1 Kilo Karotten von 80 auf 50 Centimes usw. Da die Schulen geschlossen blieben, organisierten Lehrer und Schüler Kindergärten, Spielgruppen, freies Essen und besondere Aktivitäten für die Kinder der Streikenden. Komitees streikender Frauen wurden errichtet und spielten eine zentrale Rolle bei der Organisierung der Nahrungsmittelversorgung. Nicht nur die Studenten sondern auch alle möglichen Gruppen von Akademikern wurden durch den revolutionären Virus angesteckt. Die Astronomen besetzten eine Sternwarte. Es gab einen Streik in einem Nuklearforschungszentrum bei Saclay, wo die Mehrheit der 10.000 Beschäftigten Forscher, Techniker, Ingenieure oder sonstige Akademiker waren. Selbst die Kirche wurde angesteckt. Im Quartier Latin besetzten junge Katholiken eine Kirche und forderten statt einer Messe Diskussionen.
Der Mythos des "starken Staates"
Im Teil über 1968 versteift sich GO vor allem auf die These von der kolossalen Macht des bürgerlichen Staates, der Stärke der Armee, des unvermeidlichen Widerstands der herrschenden Klasse etc. Er informiert uns, dass De Gaulle den "wirklichen Charakter der KP voll verstanden hat" und deshalb nicht besorgt war, falls diese die Macht übernommen hätten. Gleichzeitig hatte er die Armee einsatzbereit und bereitete eine "chilenische Lösung" vor, sprich eine blutige Militär-Polizei-Diktatur, eine Operation, die "De Gaulle kurz vor seinem Beginn noch einmal verschoben hat". Diese Pläne der französischen Regierung sind ähnlich den Plänen einer jeden herrschenden Klasse in der Geschichte, wenn sie sich einer revolutionären Situation gegenüber sah. Die Regierung von Zar Nikolaus (sie nannten ihn "den Blutigen") hatte nicht wenige militärische Einsatzpläne vor dem Februar 1917. Ob diese Pläne dann auch in der Realität umgesetzt werden können, ist eine andere Sache - wie Nikolaus schmerzlich erkennen musste. Dass eine Regierung militärische Notstandsprogramme hat, sagt noch gar nichts aus. Es würde uns vielmehr erstaunen, wenn es solche Pläne nicht geben würde, nicht nur in Frankreich! In einer Revolution sind aber nicht die Pläne des Regimes sondern das reale Kräfteverhältnis in der Gesellschaft der entscheidende Punkt. Nebenbei bemerkt, war sich De Gaulle, der ein sehr schlauer Bürgerlicher war, der realen Situation durchaus bewusst (auch wenn er anfangs die Lage unterschätzte und daraus resultierend einen schweren Fehler beging; gemeinsam mit allen anderen erwartete er ebenfalls keine große Bewegung der französischen Arbeiter). Tatsächlich wurden die herrschende Klasse und die Regierung von der Bewegung völlig überrascht. Sie waren von der Bewegung der Studenten total eingeschüchtert worden, wie Premierminister Pompidou in seinen Memoiren offen zugibt: "Einige Leute...haben gedacht, dass ich mit der Wiedereröffnung der Sorbonne und der Entlassung der Studenten Schwäche gezeigt hatte und so der Agitation weiteren Aufwind gegeben hätte. Ich würde dies ganz einfach so beantworten: Angenommen die Sorbonne wäre am 13. Mai unter Polizeischutz geschlossen geblieben. Wer kann sich vorstellen, dass die Menge, die auf Denfert-Rochereau zuströmte, es nicht geschafft hätte, da durchzubrechen und alles wie ein reißender Fluss vor sich her zu tragen? Ich zog es vor, die Sorbonne für die Studenten zu öffnen, bevor sie sie mit Gewalt genommen hätten." (G. Pompidou, Pour Rétablir une Verité, S.184-5) An einer anderen Stelle fügt er hinzu: "Die Krise war unendlich ernster und tiefer; das Regime würde stehen oder gestürzt werden, aber es konnte nicht durch eine reine Umbesetzung im Kabinett gerettet werden. Es war nicht meine Position, die in Frage gestellt wurde. Es war General De Gaulle, die Fünfte Republik und zu einem beträchtlichen Ausmaß die republikanische Herrschaftsform selbst, die in Frage gestellt wurden." (a.a.O., S.197) Was meinte Pompidou, wenn er sagt, dass die "republikanische Herrschaftsform selbst" in Frage gestellt worden war? Er meint, dass der kapitalistische Staat selbst zu stürzen drohte. Und damit hatte er vollkommen Recht. Nachdem Pompidou versucht hatte, die Krise zu entschärfen, indem er die Sorbonne wieder öffnen ließ, bekam die Bewegung nur neuen Auftrieb mit einer Demo von 250.000! Aus Angst vor einer Vereinigung der Studenten mit den Arbeitern zum Sturm des Elysée-Palastes wurde der Präsidentschaftspalast evakuiert. Wie auch GO sagt, stimmt es, dass De Gaulle anfangs auf die stalinistischen Führer setzt. Er sagte zu Francois Flohic, dem Marinegeneral: "Keine Sorge, Flohic, die Kommunisten werden sie schon im Zaum halten." (Philippe Alexandre, L’Elysée en peril, S. 299) Was beweisen diese Worte? Nicht mehr und nicht weniger als die Tatsache, die wir betonten, dass das kapitalistische System ohne die Unterstützung der reformistischen (und stalinistischen) Arbeiterführer nicht existieren könnte. Diese Unterstützung ist viel mehr wert als Panzer und Polizisten. De Gaulle, wie gesagt ein intelligenter Bürgerlicher, verstand das total. In einer Revolution greifen aber eben die Massen aktiv in die Ereignisse ein, sie beginnen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Das Vertrauen des Generals hielt nicht lange an. Er war gezwungen, seinen Staatsbesuch in Rumänien abzukürzen, weil sich die Lage in Paris immer mehr zuspitzte. Sein Biograph, Charles Williams, beschreibt sehr bildlich De Gaulles Zustand am Vorabend seiner Rede an die Nation vom 24. Mai: „Es gibt keinen Zweifel, dass der General nach der Heiterkeit in Rumänien bei seiner Rückkehr von dem, was er vorfinden musste, schwer getroffen war. Während der folgenden drei Tage erschien er Besuchern, die ihn länger nicht gesehen hatten, als alt und unentschlossen. Es schien ihm alles über den Kopf zu wachsen. Der Fernsehauftritt vom 24. Mai war ein völliger Flop. Der General schaute und klang falsch und verängstigt. Es stimmt, er kündigte ein Referendum an, aber es war nicht klar, wie der genaue Wortlaut der Frage sein würde. (...) Er sagte, es wäre die Pflicht des Staates, die öffentliche Ordnung sicherzustellen, aber seiner Stimme fehlte der alte Nachhall, und die Sätze, obwohl immer noch in der selben ernsten Sprache, überzeugte irgendwie nicht mehr. Er kam wie ein alter Mann rüber, müde und verletzt. Er wusste es selbst. ‘Ich habe das ziel verfehlt’, sagte er an diesem Abend. Pompidou konnte im nichts Besseres sagen als: ‘Es hätte schlechter sein können.’" (C.Williams, The Last Great Frenchman. A life of General De Gaulle, S.463-4) Aber De Gaulle’s Stimmung wurde am Morgen des 25.noch schlechter. Er war, den Worten eines seiner Minister zufolge, ‘niedergeschmettert - gekrümmt und gealtert’. Ein anderer Minister fand einen ‘alten Mann, der kein Gefühl für die Zukunft hatte’. Der General ließ seinen Sohn Philippe holen, der seinen Vater ‘müde’ vorfand, und er bemerkte, dass er kaum geschlafen hatte. Philippe schlug vor, dass sein Vater zum Atlantikhafen von Brest - Schatten von 1940 - aufbrechen sollte, aber dieser antwortete, dass er nicht aufgeben würde. Vom 25. bis zum 28. Mai blieb De Gaulle in diesem Zustand tiefer Schwermut. Pompidous Verhandlungen mit den Gewerkschaften war eine Farce. Er gab ihnen einfach alles, was sie forderten: deutliche Erhöhungen bei den Löhnen und den Sozialleistungen, eine Erhöhung der Mindestlöhne um 35 Prozent. Der einzige Haken war, dass selbst als der Deal unterschrieben war, die CGT darauf bestand, dass er von der Mitgliedschaft erst ratifiziert werden müsse. George Seguy, der CGT-Führer, eilte in den Pariser Vorort Billancourt, wo 12000 Renault-Arbeiter streikten. Als ihnen das Abkommen vorgelegt wurde, erniedrigten sie Seguy, indem sie es einfach ablehnten. Die Abkommen von Grenelle, wie sie genannt wurden, waren eine Totgeburt. Der Ministerrat traf am 27. Mai um 3 Uhr nachmittags zusammen, gleich nachdem die Renault-Arbeiter die Grenelle-Abkommen abgelehnt hatten. Der General saß dem Ministerrat vor, aber es war auffällig, dass sein Herz und seine Gedanken woanders waren. Er starrte auf seine Minister ohne sie zu sehen, seine Arm stützte er auf den Tisch vor ihm, seine Schultern hängten hinunter, er schien ‘völlig indifferent’ gegenüber dem, was rund um ihn vorging. Es gab eine Diskussion über das Referendum: Der General hörte anscheinend nur Teile davon." (a.a.O., S.464-5) Diese Auszüge aus einer ihm positiv gestimmten Biographie zeigen ein gutes Bild der völligen Desorientierung, Panik und Demoralisierung. Was passierte mit dem Mann, der "voll den wirklichen Charakter der Führung der KP erkannt hatte"? Dieser selbe Mann, sagte, dem US-Botschafter zufolge: "Das Spiel ist zu Ende. In einigen Tagen werden die Kommunisten an der Macht sein." Warum? Ganz einfach, weil De Gaulle den Schwung der revolutionären Bewegung erkannt hatte, und er glaubte nicht mehr, sich halten zu können - selbst mit Unterstützung der stalinistischen Führer.
Widerspruch
Da gibt es einen offensichtlichen Widerspruch. Einerseits vertraut De Gaulle überaus in die Fähigkeit der KP-Führer, die Massen unter Kontrolle zu halten. Und in der nächsten Minute wird er von der "erschreckenden Vorstellung" ergriffen, dass die KP-Führer "gegen ihren eigenen Willen an die Macht kommen". Aber, laut GO gibt es da gar nichts, warum De Gaulle "erschreckt" sein sollte, da er ja die Armee kontrolliert, die Generäle sind loyal, die Fußballstadien warten nur darauf, mit politischen Gefangenen gefüllt zu werden. Wo ist dann das Problem? Offensichtlich gibt es da ein Problem, und was für eines! Nicht nur, dass unzählige Zeugen bestätigen, dass De Gaulle völlig gebrochen und demoralisiert ist, sondern dass er in zumindest zwei Situationen erwog, das Land zu verlassen. Sein eigener Sohn drängte ihn dazu, via Brest zu fliehen, und andere Quellen geben an, dass er überlegte, in Westdeutschland zu bleiben, wo er General Masseu besuchte. De Gaulle war ein cleverer und kalkulierender Politiker, der niemals aus einer Regung heraus agierte und der nur selten die Nerven verlor. Wenn er dem US-Botschafter sagte, dass "das Spiel vorüber sei, und in ein paar Tagen die Kommunisten an der Macht sein werden", dann glaubte er das wirklich. Und nicht nur er, sondern die Mehrheit der herrschenden Klasse. An diesem Punkt angelangt, bricht GO’s Argumentation völlig zusammen. Warum soll die herrschende Klasse Frankreichs verzweifelt gewesen sein, wenn sie, so GO, über eine gewaltige Repressionsmaschinerie verfügte? Wie gewaltig? Schauen wir einmal. Es gab rund 144.000 (bewaffnete) Polizisten verschiedenster Einheiten, einschließlich 13500 der berühmt berüchtigten Polizeisondereinheit CRS, und ungefähr 261.000, die in Frankreich und Deutschland stationiert waren. Nähert man sich dem Problem von einem rein quantitativen Gesichtspunkt aus, dann muss man natürlich die Möglichkeit einer friedlichen Transformation, ja vielmehr eine Revolution im Allgemeinen, ganz einfach als unmöglich bezeichnen. Nicht nur im Mai 1968. So gesehen, hätte keine einzige Revolution in der Geschichte jemals erfolgreich sein können. Aber die Frage kann so nicht gestellt werden. In jeder Revolution werden Stimmen erhoben, welche die unterdrückten Klassen mit dem Gespenst der Gewalt, des Blutvergießens und der "Unvermeidbarkeit des Bürgerkriegs" verängstigen wollen. In seinem Dokument malt GO ein wahrlich beängstigendes Bild von der Stärke der konterrevolutionären Kräfte in Frankreich, von der CRS bis zu den Plänen, Tausende Revolutionäre in den Fußballstadien zu vertilgen. Kamenev und Sinowjew sprachen am Vorabend des Oktoberaufstandes mit ähnlichen Worten: "Die Gegner des Aufstandes in den Reihen der bolschewistischen Partei selbst fanden immerhin Grund genug für pessimistische Schlussfolgerungen. Sinowjew und Kamenev warnten vor Unterschätzung der gegnerischen Kräfte. ‘Es entscheidet Petrograd, in Petrograd aber besitzen die Feinde...bedeutende Kräfte: 5000 Junker, vorzüglich bewaffnet und im Schlagen geübt, dann der Stab, dann die Stoßbrigadier, dann die Kosaken, dann ein bedeutender Teil der Garnison, dann eine sehr beträchtliche, fächerartig um Petrograd gruppierte Artillerie. Ferner werden die Gegner bestimmt versuchen, mit Hilfe des Zentral-Exekutiv-Komitees Truppen von der Front heranzubringen...’ Die Aufzählung klingt imposant, es ist aber nur eine Aufzählung. Ist die Armee als Ganzes ein Abbild der Gesellschaft, so stellen, tritt der Fall ihrer offenen Spaltung ein, beide Armeen Abbilder der kämpfenden Lager dar. Die Armee der besitzenden Klasse trug in sich den Wurmstich der Isoliertheit und des Zerfalls." (Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, zweiter Teil: Oktoberrevolution (2), S.853) Dem viel zitierten Aphorismus von Mao zufolge, erwächst die Macht aus den Gewehrläufen. Gewehre müssen aber von Soldaten geführt werden, und Soldaten leben nicht im Vakuum, sondern stehen unter dem Einfluss der Stimmungen unter den Massen. In jeder Gesellschaft ist die Polizei rückständiger als die Armee. In Frankreich breitete sich aber in der Polizei "Unzufriedenheit" aus, wie "The Times" am 31. Mai titelte: "Es brodelt vor lauter Unzufriedenheit über die Behandlung durch die Regierung. Und die Abteilung, die damit beschäftigt ist, Informationen über die Aktivitäten der Studenten zu sammeln, gibt bewusst keine Informationen an die Regierung über die Studentenführer mehr weiter. Auch war die Polizei vom Verhalten der Regierung seit Ausbruch der Schwierigkeiten nicht gerade beeindruckt. ‘Sie haben Angst, unsere Unterstützung zu verlieren’, sagte ein Mann. Solch eine Unzufriedenheit ist eine der Gründe für die augenscheinliche Inaktivität der Pariser Polizei in den letzten Tagen. Letzte Woche verweigerten bei verschiedenen lokalen Polizeistationen die Männer den Einsatz an den Kreuzungen und Plätzen der Hauptstadt." (The Times, 31.5.1968) Am 13. Mai verabschiedete ein Gremium der Polizistengewerkschaft, das 80 Prozent des uniformierten Personals repräsentierte, eine Erklärung, die besagt, dass es "das Statement des Premierministers alles Anerkennung dessen betrachtet, dass die Studenten im Recht sind, und als völlige Nichtanerkennung der Aktionen der Polizeikräfte, welche die Regierung selbst angeordnet hatte. Unter diesen Umständen ist es überraschend, dass ein effektiver Dialog mit den Studenten nicht schon vor diesen bedauerlichen Konfrontationen gesucht worden war." (Le Monde, 15. Mai 1968) Wenn das die Position der Polizei war, muss der Effekt der Revolution auf die Basis der Armee noch viel größer gewesen sein. Auch wenn uns weitgehend Informationen fehlen, so muss man doch sagen, dass es Berichte von einer Gärung in den Streitkräften gibt, ja dass es in der Marine sogar zu einer Meuterei gekommen war. Der Flugzeugträger Clemenceau, der gerade auf dem Pazifik zu einem Atomtest unterwegs war, kehrte plötzlich ohne Angabe von Gründen nach Toulon zurück. Es gab Berichte von einer Meuterei an Bord, und mehrere Seeleute sollen dabei "auf hoher See verloren gegangen sein". (Le Canard Enchainé, 19. Juni, ein genauerer Bericht wurde in "Action" am 14. Juni veröffentlicht, diese Ausgabe wurde aber von den Behörden konfisziert) Ein Flugblatt, das von Mitgliedern der in Mutzig bei Straßburg stationierten RIMECA (Infanterieregiment) herausgegeben wurde, zeigt, dass Teile der Armee bereits von der Stimmung unter den Massen angesteckt waren. Darin können wir lesen: "Wir werden darauf vorbereitet, als Unterdrückungsorgane zu intervenieren. Die Arbeiter und Studenten müssen allerdings wissen, dass die Soldaten dieses Kontingents NIE AUF ARBEITER SCHIESSEN WERDEN. Wir sind, koste es was es wolle, gegen das Umzingeln von Fabriken durch Soldaten. Morgen sollen wir eine Waffenfabrik umzingeln, welche die 300 dort beschäftigten Arbeiter besetzen wollen. WIR WERDEN UNS MIT IHNEN VERBRÜDERN. Soldaten dieser Einheit, bildet Eure Komitees!" (zitiert nach "Revolutionary Rehearsals", S.26) Die Herausgabe eines solchen Flugblatts war ganz klar ein außergewöhnliches Beispiel für die revolutionärsten Elemente unter den Soldaten. Aber mitten in einer Revolution von solchem Ausmaß, ist es da möglich, daran zu zweifeln, dass die Basis der Armee vom "Revolutionsvirus" angesteckt worden wäre? Die Strategen des internationalen Kapitals zweifelten daran nicht. Auch nicht ihre französischen Kollegen. In einem Zustand der Panik, den wir bereits ausreichend dokumentiert haben, verschwand De Gaulle plötzlich. De Gaulle ging nach Deutschland, um sich mit General Masseu abzusprechen. Man braucht nicht viel Phantasie, um zu wissen, welche Frage er stellte - "Können wir uns auf die Armee verlassen?". Die Antwort ist natürlich in keiner schriftlichen Quelle zu finden. "The Times" schickte einen Korrespondenten nach Deutschland, um französische Soldaten zu interviewen. Die meisten dieser Soldaten waren Kinder von Arbeiterfamilien. Ein interviewter Soldat antwortete auf die Frage, ob er auf die Arbeiter schießen würde: "Niemals! Ich denke, ihre Methoden sind vielleicht ein wenig hart, aber ich bin selber ein Arbeiterkind." In einem Editorial stellte "The Times" die Schlüsselfrage: "Kann De Gaulle die Armee einsetzen?" und beantwortete diese Frage selbst und meinte, dass er sie vielleicht einmal einsetzen könnte. Mit anderen Worten, ein einziger blutiger Zusammenstoß würde ausreichen, um die Armee aufzubrechen. Das war die Einschätzung der realistischsten Strategen des internationalen Kapitals jener Zeit. Es gibt keinen Zweifel an ihren Worten zur Beschreibung der damaligen Lage.
Wer rettete De Gaulle?
Es war alles andere als die Armee oder die Polizei (die so demoralisiert war, dass selbst die reaktionäre Geheimdienstabteilung, wie wir gesehen haben, die Zusammenarbeit mit der Regierung gegen die Studenten verweigerte), die den französischen Kapitalismus retteten. Es war der schreckliche Verrat durch die Stalinisten und die Gewerkschaftsführer. Zu diesem Schluss kommen nicht nur wir, sondern sogar - man mag es gar nicht glauben - in der Encyclopaedia Britannica, die zum Mai 1968 folgendes schreibt: "De Gaulle schien unfähig, die Krise zu bewältigen oder sie auch nur zu verstehen. Die Kommunisten und die Gewerkschaftsführer aber versorgten ihn mit der nötigen Atempause; sie lehnten weiteren Aufruhr ab, da sie offensichtlich Angst hatten, ihre Anhängerschaft an ihre extremsten und anarchistischsten Rivalen zu verlieren.“ Was war die wichtigste Waffe, mit der die Stalinisten die Arbeiter von der Machtübernahme abzuhalten versuchten? Dass der Staat so stark sei, dass es zu Gewalt und Bürgerkrieg kommen würde. Lassen wir sie selber zu Wort kommen. Dem Generalsekretär der Partei, Waldeck-Rochet, zufolge: In Wirklichkeit hatten wir im Mai die Wahl zwischen: - Entweder so zu agieren, dass der Streik die wesentlichsten Forderungen der Arbeiter befriedigen würde, und gleichzeitig auf der politischen Ebene eine Politik mit dem Ziel verfolgen, die notwendigen demokratischen Veränderungen mit den Mitteln der Verfassung herbeizuführen. Das war die Position unserer Partei - Oder ganz einfach eine Kraftprobe provozieren, in anderen Worten auf einen Aufstand zuzusteuern: Dies würde einen Rückgriff auf den bewaffneten Kampf mit dem Ziel, das Regime mit Gewalt zu stürzen, mit einschließen. Das war die abenteuerliche Position gewisser linksradikaler Gruppen." (L’Humanité, 10.Juli 1968) Man beachte wie geschickt dieser stalinistische Bürokrat mit den Ängsten der Massen spielt. Wie die Bürokraten überall sonst auch, weiß er, dass viele Arbeiter die Perspektive von Gewalt und Blutvergießen fürchten. Diese Tatsache bleibt für die linksradikalen Sekten aber ein Buch mit sieben Siegeln. Im Endeffekt gehen sie den Bürokraten und den Bürgerlichen immer wieder auf den Leim. Das ist einer der Gründe, warum sie die Massen auch in tausend Jahren nicht für sich gewinnen werden. Die Art von Wortradikalismus, die diese Sektierer auszeichnet, ist rein das Gegenstück zu ihrem fehlenden Vertrauen in die Arbeiterklasse, zu ihrem Aberglauben vom "starken Staat" und vor allem ihre absolute Unfähigkeit, die Arbeiterklasse zu verstehen, geschweige denn eine gemeinsame Sprache mit den Arbeitern zu finden. Die Mandelisten betonten in Frankreich vor 1968 ständig die Rolle des angeblich so "starken Staates". Diese Kleinbürger dachten, dass die Arbeiter ohne sie ohnedies nichts machen könnten, und dass sie der Klasse das "sozialistische Bewusstsein" aus dem Nichts heraus bringen müssten. In einem ihrer Flugzettel aus dem Mai, der noch dazu in einer völlig unverständlichen und abstrusen Sprache geschrieben war, erklärten sie den französischen Arbeitern, dass sie auf sich allein gestellt lediglich ein "gewerkschaftliches Bewusstsein" erlangen könnten. Von allen Schriften Lenins, die sie auswählen konnten (und da gibt es nicht gerade wenige!), suchten sie eine Passage aus "Was tun?" aus, die Lenin selbst später als Fehler bezeichnet hat. "Nur ein gewerkschaftliches Bewusstsein" - mit 10 Millionen Arbeitern, die die Fabriken besetzen! Diese Leute haben nichts vorhergesehen, nichts verstanden und blieben konsequenterweise von der Klasse völlig isoliert. Sie spielten Revolution, erbauten Barrikaden und kämpften mit der Polizei. Das sind unter gewissen Umständen alles ganz wichtige Aktivitäten, sie sind aber völlig nutzlos, wenn es nicht gelingt, die Massen zu gewinnen. Hätte es in dieser Situation eine wirklich marxistische Strömung mit einigen hundert Kadern gegeben, die in den Massenorganisationen (in diesem Fall die KP sowie CGT und CFDT) verankert gewesen wären, hätte alles ganz anders laufen können. Selbst der bürgerliche Autor des Artikels in der Encyclopedia Britannica verstand, dass die stalinistischen Führer Angst davor hatten, dass ihnen die Bewegung außer Kontrolle gerät (er spricht von "extremistischen und anarchistischen Rivalen"). Die "trotzkistischen" Gruppen hatten damals aber nichts verstanden. Gegen unseren Ratschlag spalteten sich die Mandelisten von der Kommunistischen Jugend ab und gründeten mit der JCR ihre eigene, unabhängige Jugendorganisation. Sie bewiesen großen Mut auf der Straße, aber außerhalb der traditionellen Massenorganisationen blieben sie völlig isoliert von der Arbeiterklasse. Außerdem trennten ihre ganze Herangehensweise, ihre Sprache, ihre Methoden und ihre Taktik sie von den organisierten Arbeitern, was sie zu einfachen Zielscheiben für die Bürokratie machte. Letztere ließen keine Gelegenheit aus, sie (und das nicht einmal ohne Grund) als unverantwortliche kleinbürgerliche Abenteurer zu porträtieren. Wie hätte eine wirklich marxistische Strömung unter solchen Umständen gehandelt? Indem sie Aufstand und Bürgerkrieg propagiert hätte? Genau das machten die Sekten. Ja, sie wollten es sogar in die Tat umsetzen (aber ohne die Massen!). Das ist in destillierter Form kleinbürgerlicher Linksradikalismus und Abenteurertum, und beide spielen immer wieder in die Hände der Rechten. Nein. Wir wären wie Lenin vorgegangen. Wir hätten schon in der vorangegangenen Periode in der KP, der Kommunistischen Jugend und den Gewerkschaften systematische Arbeit geleistet, um uns dort zu verankern. Während der Maiereignisse wäre unser wichtigster Slogan jener nach dem Aufbau von gewählten Komitees zur Koordinierung und Führung des Kampfes gewesen. Diese Komitees hätten auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene miteinander verbunden werden müssen. Gleichzeitig hätten wir die KP aufgefordert, die Macht zu übernehmen, die Kapitalisten zu enteignen und die Gesellschaft zu verändern. Wäre dies friedlich gegangen? GO leugnet dies beharrlich. Wie wir aber gesehen haben, hat Trotzki schon 1936 gemeint, dass die sozialistischen Führer ohne großes Aufsehen den Widerstand der herrschenden Klasse hätte brechen können. Was hätten wir in einer Situation wie dieser gesagt, die unendlich günstiger war? Auf die Versuche von Waldeck-Rochet & Co., die Arbeiter mit dem Gespenst eines Blutvergießens zu verängstigen, hätten wir - ähnlich wie Lenin 1917 oder Trotzki 1936 - darauf hingewiesen, dass die reformistischen (stalinistischen) Führer mit der überwältigenden Unterstützung durch die Massen, auf friedlichem Wege, ohne Bürgerkrieg die Macht erobern hätten können. Dies wäre der einzige Weg gewesen, Gewalt zu vermeiden. Und das stimmte 1968 in Frankreich tausendmal mehr als 1917 in Russland. Das und nicht der schrille Linksradikalismus der Sekten wäre der einzige Weg gewesen, um die kommunistischen Arbeiter zu erreichen, den Einfluss der stalinistischen Führer zu brechen und die Massen für die Idee der Revolution zu gewinnen.
Defensive und Offensive
In seinem Dokument schreibt GO: "In unserem öffentlichen Material legen wir die historische Verantwortung für jegliche Gewalt dorthin wo sie auch hingehört, nämlich auf die Schultern der herrschenden Klasse. Jegliche Gegenmaßnahmen, welche die Arbeiterklasse ergreifen muss, hätten rein defensiven Charakter. Abseits des Propagandawerts eines solchen Arguments, ist die Frage der ‘Verantwortung’ für eventuelle Gewalt oder Blutvergießen nicht wirklich relevant. Sollten wir wirklich mit der Gewalt beginnen? Wäre es nicht besser, abzuwarten, um zu sehen, dass die herrschende Klasse damit beginnt? Auf diese Art und Weise würde die Verantwortung für jegliches Blutvergießen eindeutig bei den Kapitalisten liegen. Die Tatsache, dass viele Genossen, und nicht nur neue Genossen, diese Art von Argumentation verwendet haben, ist eine Konsequenz der falschen Herangehensweise der Führung. Der Einsatz von Gewalt ist keine abstrakte moralische Frage. Und jeder der schon einmal einen ‘showdown’ in einem guten Western gesehen hat, wird das verstehen. Es ist nicht immer vorteilhaft, die Verantwortung für den ersten Schuss auf die Schultern des Gegners zu legen. Unsere erste Verantwortung ist es, einen Sieg zu sichern." Und weiter heißt es: "Von einem friedlichen Transitionsprozess zu plaudern und einfach zu warten, ob der Feind wirklich zuerst schießen wird, ist das beste Rezept für eine blutige Niederlage." Diese Zeilen zeigen ein völliges Unverständnis der Regeln der Kriegskunst im Allgemeinen und des Klassenkampfes im speziellen. Aus der Sicht der formalen Logik sind Defensive und Offensive unveränderliche Gegenstücke. In der Realität gehen sie aber nicht selten in einander über. Ein Defensivkampf kann unter bestimmten Bedingungen leicht in einen Offensivkampf verwandelt werden und umgekehrt. Es gibt viele Vergleichspunkte zwischen Kriegen zwischen Nationen und Kriegen zwischen den Klassen. Es gibt aber auch etliche Unterschiede. Ein bürgerliches stehendes Heer wird über Jahrzehnte auf einen Krieg vorbereitet, finanziert und bewaffnet. Der Generalstab kann auswählen, wann und wo die Feindseligkeiten beginnen. Natürlich haben wir nicht einmal hier eine rein militärische Frage. Clausewitz erklärte, dass "der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" ist. Die militärischen Aktionen bürgerlicher Regierungen werden durch die Klasseninteressen der Bourgeoisie bestimmt. Aus diesem Grund haben Marxisten immer aufgezeigt, dass die Frage, wer nun den ersten Schuss abgegeben hat, völlig sekundär ist, und den konkreten Charakter des Krieges absolut nicht beeinflusst. Diese allgemeine Feststellung ist korrekt. Aber bedeutet sie, dass die Frage der Verantwortung für den Ausbruch von Feindseligkeiten wirklich völlig unwesentlich ist? Wer das denkt, hat nichts vom Krieg verstanden. Warum versucht jede Regierung in jedem Krieg, die Verantwortung dem Feind in die Schuhe schieben will? Zufall? Im Gegenteil. Krieg ist nicht nur eine militärische Frage, sondern auch eine politische. Die Mobilisierung der öffentlichen Meinung, im In- wie im Ausland, zur Unterstützung des Krieges ist eine ganz grundlegende Frage, die nur auf der politischen Ebene gelöst werden kann. Engels erklärte, dass in Kriegshandlungen die Moral der Truppe dreimal so wichtig ist wie das Physische. Die grundlegende Aufgabe der Diplomatie liegt nun darin, die "öffentliche Meinung" davon zu überzeugen, dass die eigene Armee nur aus Selbstverteidigung heraus handelt und auf eine untolerierbare Provokation, auf eine "feindliche Aggression" usw. antwortet. Eine Regierung, die nicht dementsprechend agiert, würde einen nicht zu verzeihenden Fehler begehen und sich selbst ins Knie schießen. Das gilt tausendmal mehr in der sozialistischen Revolution. Trotz aller Anmerkungen GO’s zur Notwendigkeit "der militärischen Vorbereitung des Aufstandes" usw., bleibt es eine Tatsache, dass das Proletariat, anders als die herrschende Klasse, keine Armee besitzt und auch niemals eine Streitkraft haben wird, die es mit den Kräften des bürgerlichen Staates wirklich aufnehmen wird können - vorausgesetzt letzterer bleibt intakt. Während in einem herkömmlichen Krieg hauptsächlich die militärische Frage überwiegt, wobei die Diplomatie zwar eine bedeutende aber letztlich doch untergeordnete Rolle spielt, stehen wir bei der sozialistischen Revolution in erster Linie vor einer politischen Aufgabe. Es gilt die Massen und die Streitkräfte für sich zu gewinnen. Es ist eine Tatsache, dass der überwiegende Großteil der Kämpfe der Arbeiterklasse als Defensivkämpfe beginnen: Kämpfe zur Verteidigung des Lebensstandards, der Arbeitsplätze, demokratischer Rechte usw. Unter gewissen Umständen, speziell mit einer korrekten Führung, können diese Defensivkämpfe den Weg für eine Offensive der Arbeiterklasse, einschließlich eines Generalstreiks, der die Machtfrage stellt, bereiten. Aber selbst im Laufe einer Revolution ist es notwendig, die ganze Verantwortung für Gewalt auf die Schultern der herrschenden Klasse zu legen, um so die Massen (nicht nur die proletarischen, sondern auch die kleinbürgerlichen) zu gewinnen. Es ist daher nicht nur korrekt sondern auch absolut unerlässlich, dass wir die Bewegung in einem defensiven Licht darstellen. GO besteht auf dem offensiven Charakter des Aufstandes. Noch einmal, als abstrakter allgemeiner Lehrsatz stimmt das. Danton wies darauf hin, dass die Losung des Aufstandes "De l’audace, de l’audace, et encore de l’audace!" ("Kühnheit, Kühnheit und noch mehr Kühnheit!") lauten muss. Die Frage der revolutionären Taktik ist damit aber noch lange nicht erschöpft. Die Wahrheit ist immer konkret. Im Klassenkampf, wie im herkömmlichen Kriegsgeschehen, ist es entscheidend, abzuklären, unter welchen Bedingungen es möglich ist, in die Offensive zu gehen und wann es notwendig ist, eine defensive Position einzunehmen. Die Kriegführung wäre ein einfaches Geschäft, wenn es nur darum gehen würde, eine stinknormale, unter allen Bedingungen anwendbare Regel anzuwenden. Ein General aber, der nur den Befehl "Attacke!" kennt, würde seine Armee sehr schnell in den Untergang geführt haben. Es ist wichtig, zu lernen, wie man angreift. Ähnlich wichtig ist es aber auch, zu wissen, wie man einen geordneten Rückzug antritt, wie man geschickt manövriert, wie man eine Schlacht unter ungünstigen Bedingungen vermeidet usw. Die gesamte Geschichte des Bolschewismus ist voller Beispiele flexibler Taktiken, was sich in den Schriften Lenins widerspiegelt und in seinem Werk "Der ‘linke Radikalismus’ - Die Kinderkrankheit des Kommunismus" zusammengefasst ist. Das Problem nach 1917 war, dass die jungen und unerfahrenen Führer der Kommunistischen Parteien in den ersten fünf Jahren der Komintern nicht die Zeit dazu fanden, die Lehren und Erfahrungen der Geschichte des Bolschewismus und der Russischen Revolution aufzunehmen und zu verarbeiten. Sie hatten "Staat und Revolution" und Lenins Schriften aus der Zeit des Ersten Weltkrieges gelesen und waren fähig, mechanisch die Losungen von der Notwendigkeit, den bürgerlichen Staat zu zerschlagen, von Bürgerkrieg, von Kritik an Reformismus und Parlamentarismus, von der Unzulässigkeit einer Vereinigung mit der Sozialdemokratie zu wiederholen. Sie haben aber nichts von dem verstanden, was sie gelesen hatten. Sie verstanden die Methode Lenins nicht. In der ganzen Periode von 1917 bis zu seinem Tod kämpfte Lenin gegen diese Fehler und erklärte sogar demonstrativ, dass er "rechts" sei, falls sie "die Linken" darstellen würden. Die "linken" Kommunisten warfen Lenin und Trotzki opportunistische Abweichungen vor. In der Realität sahen sie in den Methoden und der Taktik der beiden eine "sehr ernsthafte Abkehr von der Sichtweise Lenins und Trotzkis", was bedeuten würde, dass "die Internationale niemals ihre historische Mission erfüllen wird können". Der klarste Ausdruck dessen war die "Theorie der Offensive", die von den Führern der KPD propagiert wurde. Ausgehend von der Tatsache, dass die Kommunistischen Parteien noch nicht die entscheidende Mehrheit der Klasse repräsentierten, betonte Lenin die Notwendigkeit der Losung einer Einheitsfrontpolitik, einer geduldigen Arbeit in den Massenorganisationen, einer Beteiligung an den bürgerlichen Parlamenten, um auf diesem Wege die Massen zu gewinnen. Das war die Grundvoraussetzung für die sozialistische Revolution. Die "Linken" waren dadurch aber nicht zufriedenzustellen. Sie wiesen Lenins Ratschläge, sich "an die Massen zu wenden" verächtlich zurück und beharrten darauf, dass die einzig mögliche revolutionäre Politik für eine revolutionäre Partei in der "revolutionären Offensive" bestehen könne. Lenin und Trotzki kämpften verbissen gegen diese "Theorie", die im März 1921 zu einer blutigen Niederlage führte. Das war ein extremes Beispiel für die linksradikale Strömung, die damals große Verbreitung hatte und die mehrere Male in der Geschichte der Bewegung wieder an der Oberfläche auftauchte. Diese Strömung wurde immer wieder von Lenin und Trotzki, und zuvor schon von Marx und Engels, bekämpft. Auch wenn dieser Standpunkt auch noch so "revolutionär" erscheinen mag, so hat er doch nichts mit den wirklichen Methoden der Bolschewiki gemeinsam, er stellt vielmehr eine abstrakte Karikatur dessen dar. Wir haben bereits die Verteidigungsrede im Gerichtsverfahren von Minneapolis erwähnt. Einer der wichtigsten Kritikpunkte des Linksradikalen Munis war eben, dass Cannon die Frage der Gewalt rein als Frage der Selbstverteidigung darstellte. Munis stellte die Frage, warum man die Arbeiter nicht dazu auffordern sollte, damit sie ihre eigene Gewalt gegen die reaktionäre Gewalt organisieren. Cannon antwortete darauf: "Warum nicht? Weil es weder notwendig noch ratsam war, zu dieser Zeit, die Stimme zu erheben und zu Aktionen aufzurufen. Wir sprachen in erster Linie für den unerfahrenen Arbeiter, der die Verteidigungsrede in der Zeitung oder in Broschürenform lesen würde. Wir brauchten eine ruhige und vorsichtige Erklärung, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Dieser Arbeiter wartet keinesfalls ungeduldig auf unseren Aufruf zu gewalttätigen Aktionen. Gerade im Gegenteil glaubt er innig an die sogenannte Demokratie, und die erste Frage, die er stellen wird, wenn er sich für den Sozialismus zu interessieren beginnt, wird sein: ‘Warum können wir das nicht auf friedlichem Wege, durch Wahlen, erreichen?’ Es ist notwendig, dass wir ihm dann geduldig erklären, dass wir diesen Weg ebenfalls bevorzugen würden, dass die Bosse das aber nicht zulassen werden, dass sie gegen die Mehrheit mit Gewalt vorgehen werden, und dass sich die Arbeiter selbst und ihr Recht, die Dinge zu verändern, verteidigen müssen." (Munis and Cannon, What policy for revolutionists - Marxism or Ultra-leftism, S.25) Und weiter heißt es: Dass ‘Gewalt die Geburtshelferin einer jeden Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger ist’ - das ist ein Axiom, das jedem, der den Marxismus studiert, wohlbekannt ist. Es ist falsch, auf diesem Gebiet Illusionen zu nähren, und dementsprechend sie wir bei der Verhandlung vorgegangen. Es wäre aber ein großer Fehler, daraus zu schließen, dass die Gewalt und das Gerede von Gewalt der revolutionären Avantgarde zu allen Zeiten und unter allen Bedingungen uneingeschränkt Vorteile bringt. Im Gegenteil, friedliche Bedingungen und demokratische, legale Formen sind äußerst nützlich in Zeiten, in denen die Partei noch immer Kräfte sammelt, und wenn die größere Stärke und die größeren Ressourcen, einschließlich der Ressource der Gewalt, bei der gegnerischen Seite liegen. Lenin bemerkte, dass Engels völlig korrekt handelte, indem er darauf drängte, die bürgerliche Legalität zu nutzen, und 1891 der herrschenden Klasse in Deutschland sagte: ‘Schießt zuerst, Messrs. Bourgeois!’ Unsere Partei, die erst bei der noch indifferenten amerikanischen Arbeiterklasse ein Gehör finden muss, hat am wenigsten Grund, die Gewalt zu betonen oder zu propagieren. Diese Einstellung ist bestimmt durch den gegenwärtigen Stand der Entwicklung der Klasse und des Kräfteverhältnisses in den USA." (a.a.O., S. 30-31) Auch nur die geringste Kenntnis der Geschichte der Russischen Revolution, vor, während und nach dem Oktober sollte genügen, um dies zu beweisen. Am Vorabend der Oktoberrevolution gab es eine Meinungsverschiedenheit zwischen Lenin und Trotzki betreffend des Datums, wann der Aufstand durchzuführen sei. Lenin wollte bereits im September losschlagen, während Trotzki mit dem Aufstand bis zum Sowjetkongress warten wollte. Warum nahm Trotzki diese Position ein? Mangelte es ihm etwa an Kühnheit? Absolut nicht. Trotzki verstand nur, dass selbst in einer Revolution die Frage der Legalität für die Massen extrem wichtig ist. Die Bolschewiki waren sicher, dass sie beim Kongress die Mehrheit bekommen würden und konnten so gegenüber den Massen als legitime Macht in der Gesellschaft auftreten. Das war keine zweitrangige Frage sondern ein lebenswichtiger Faktor auf dem Weg zu einer friedlichen Machtübernahme. Einmal mehr war das politische Element entscheidender als das militärische. Die Bolschewiki präsentierten auch den Oktoberaufstand als defensive Aktion, um ein Abdriften Russlands in Chaos und Bürgerkrieg zu verhindern. Und das ist kein Zufall. Selbst wenn man in einer Position ist, aus der man heraus in die Offensive gehen kann (was nicht immer der Fall ist, im Gegenteil), ist es immer notwendig, so zu agieren und zu sprechen, als ob man einen Defensivkampf führen würde, indem man die ganze Verantwortung auf den Feind schiebt. Schauen wir uns ein weiteres Beispiel an. 1918 hing das Schicksal der Revolution an einem seidenen Faden. Die Armeen des deutschen Imperialismus waren zur Invasion bereit. Die den Bolschewiki zur Verfügung stehenden militärischen Kräfte waren völlig unzureichend, um wirklich ernsthaften Widerstand leisten zu können. Aus Angst, die Revolution könnte völlig aufgerieben werden, trat Lenin für die sofortige Unterzeichnung eines Friedens mit Deutschland ein - selbst wenn dies mit territorialen Zugeständnissen verbunden wäre. Bucharin, der zu der Zeit eine ultralinke Position vertrat, war für einen revolutionären Krieg gegen Deutschland, ein äußerst "kühner" Standpunkt, der unter den gegebenen Umständen bestimmt zum Untergang der Revolution geführt hätte. Trotzki, der damals die sowjetische Delegation bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk anführte, versuchte, in der Hoffnung auf eine Erhebung der deutschen Arbeiter, die Gespräche so lange wie möglich hinauszuzögern. In der Tat geschah dies einige Monate später, dies wäre aber zu spät gekommen, um eine schwere Offensive der deutschen Truppen zu verhindern. Als die deutschen Imperialisten ein letztes Ultimatum stellten, weigerte sich Trotzki, der die ganze Zeit hindurch sehr geschickt die Verhandlungen für revolutionäre Agitation nutzte (was auch in Deutschland und Österreich große Auswirkungen hatte), den Vertrag zu unterschreiben und brach demonstrativ die Verhandlungen ab. Und dies obwohl er wusste, dass die Deutschen nun angreifen würden. Trotzkis Position hatte aber nichts mit der ultralinken Linie von Bucharin zu tun. Er argumentierte sein Vorgehen damit, dass er auf diesem Wege die französischen und britischen Arbeiter davon überzeugen wollte, dass die Bolschewiki Opfer einer Aggression sind, was im Gegensatz zur Hetzkampagne der herrschenden Klasse in diesen Ländern stand, die Lenin als deutschen Agenten darstellte. Er wollte klarstellen, dass der Raubfrieden von Brest-Litowsk nur unter Zwang unterschrieben wurde, da es sonst keine Alternative gab. Es gibt keinen Zweifel, dass der neue Vertrag nun noch ungünstiger war als vor der deutschen Offensive. Dies ist ein weiteres Beispiel, dass das Handeln von Lenin und Trotzki immer durch die Interessen der Weltrevolution beeinflusst war. Das Kräfteverhältnis machte eine revolutionäre Offensive unmöglich. Die Bolschewiki waren gezwungen, eine defensive Position einzunehmen. Um zu überleben, machten sie gegenüber dem deutschen Imperialismus schmerzhafte Zugeständnisse. Sie setzten all ihr Vertrauen in ihre internationalistischen Positionen und riefen die Arbeiter der ganzen Welt dazu auf, ihnen zu Hilfe zu kommen. Selbst später als Trotzki die Rote Armee aufbaute, hatte er keine Illusion, dass die Revolution lediglich durch militärische Mittel gerettet werden könnte. Der Grund, warum die Revolution gegen die 21 ausländischen Interventionsarmeen bestehen konnte, lag nicht im heldenhaften Kampf der Roten Armee, so wichtig der auch gewesen sein mag, sondern im Widerstand der Arbeiter in Großbritannien, Frankreich und in anderen Ländern gegen die Pläne der Imperialisten sowie in der Tatsache, dass die Truppen der nach Russland geschickten ausländischen Armeen meuterten. Der britische Premierminister Lloyd George erklärte den Rückzug der britischen Truppen damit, dass die britischen Truppen "mit der bolschewistischen Grippe infiziert" seien. Die wichtigste Waffe bei der Verteidigung der Revolution lag in einer revolutionär-internationalistischen Politik. Das war die "Geheimwaffe", mit der man die militärische Schwäche der Revolution wettmachte. Aus militärischer Sicht hätten die Bolschewiki niemals die Macht übernehmen können, und noch viel weniger wären sie imstande gewesen, sich an der Macht zu halten. In einer Revolution werden die Truppen immer von der allgemeinen Stimmung in der Gesellschaft beeinflusst. Dies gilt vor allem für die Wehrpflichtigen, warum Marxisten auch nicht die kleinbürgerliche, pazifistische Forderung nach Abschaffung des Militärdienstes unterstützen. Wir sind dafür, dass junge Arbeiter im Umgang mit der Waffe ausgebildet werden, jedoch müssen sie gewerkschaftliche Rechte haben und unter der Kontrolle der Arbeiterorganisationen. Die reaktionäre Natur dieser kleinbürgerlichen Forderung zeigt das Beispiel Frankreich, wo Chirac nun die allgemeine Wehrpflicht abschaffen will, die seit der französischen Revolution eine nationale Institution darstellte. Dafür soll eine Berufsarmee eingeführt werden, obwohl dies mehr Geld kosten wird (dies gilt auch für Spanien). Warum verfolgt Chirac diese Linie? Weil er versteht, was noch kommen wird. Eine soziale Explosion ist in Frankreich unvermeidlich, was sich durch die großartigen Streiks und Demos im Dezember und Jänner zeigte. Wie wir in den letzten "Weltperspektiven" zeigten, fürchtet die französische Bourgeoisie eine Wiederholung der Ereignisse von 1968. Ab einem bestimmten Punkt ist das unvermeidlich. Die herrschende Klasse versucht sich darauf vorzubereiten und glaubt, dass eine Berufsarmee eher ihren Interessen dienen wird. Ihr Vertrauen ist aber völlig fehl am Platze. Unter modernen Bedingungen stammt die überwältigende Mehrheit der Berufssoldaten aus Arbeiterfamilien. Sie gehen nur deshalb zur Armee, weil sie so der Arbeitslosigkeit entfliehen können. Wenn es zu einer großen Bewegung der Klasse kommt, werden auch sie davon beeinflusst werden, wie auch die Polizei 1968 beeinflusst worden war.
Wie wir die Frage stellen
Wie die Frage der Gesellschaftsveränderung gestellt wird, hängt ganz von der Situation ab. Genau das ist die Bedeutung des Übergangsprogramms. Das ist keine Frage abstrakter Formeln, die wir jederzeit, unabhängig von Zeit und Ort, vorbringen müssen. Das Programm muss das aktuelle Bewusstsein der Klasse in Betracht ziehen und ergibt sich aus den realen Bedürfnissen in der jeweiligen Situation. Nehmen wir einen konkreten Fall her. In Nordirland waren wir mit einer sehr schwierigen und komplizierten Situation konfrontiert. Das Hauptproblem lag in der nationalen Frage, die sich in einer besonders monströsen Form darstellte. Die Gesellschaft war entlang religiös-sektiererischer Linien polarisiert. Unsere Politik wurde durch die Notwendigkeit bestimmt, die Arbeiter als Klasse zu vereinen. Unsere zentrale Forderung war der Aufbau einer Labour Party, die sich auf die Gewerkschaften stützt. In einer Situation des Terrors und des Mordens durch die verrückten Paramilitärs war dies völlig unzureichend. Über Jahrzehnte war unsere Strömung die einzige Kraft, die die Forderung nach gewerkschaftlichen Selbstverteidigungstruppen zur Verteidigung der Arbeiter gegen die sektiererischen Angriffe aufstellten. Diesen Slogan, der an Trotzkis Forderung nach Bewaffnung der Streikposten anknüpft, haben wir uns nicht aus den Fingern gesogen. 1969 bildeten die hauptsächlich protestantischen Arbeiter der größten Werft in Belfast, Harland and Wolfs, Patrouillen unter der Kontrolle des Betriebsratskomitees, um die katholischen Arbeiter gegen Einschüchterungen zu verteidigen. Unter diesen Umständen musste eine Arbeiterverteidigungstruppe auch bewaffnet werden. Ohne Waffen wäre man gegen die Paramilitärs machtlos. In der Tat war es die IRA, die diese Bewegung schon im Anfangsstadium zerschlug, indem sie einige der daran beteiligten protestantischen Arbeiter ermordete. War diese Forderung nach eigenen Selbstverteidigungskräften der Arbeiter unter den konkreten Umständen in Nordirland korrekt? Zweifelsohne. Das gesamte Kräfteverhältnis zwischen den Klassen hätte dadurch verändert werden können. Anfangs eine Losung mit defensivem Charakter hätte sie zum Ausgangspunkt für eine offensive Bewegung der Arbeiterklasse werden können. Wir wiederholen, dass die meisten Bewegungen der Klasse als Defensivkämpfe beginnen. Mit einer korrekten Führung können kleine Erfolge in Defensivkämpfen leicht zu größeren Dingen führen. Ohne die tagtäglichen Kämpfe für bessere Bedingungen im Kapitalismus wird die sozialistische Revolution völlig unmöglich sein. Diese Idee, welche für Trotzkisten ganz zentral ist, fehlt in GO’s Dokument gänzlich. Stellen wir die Frage einmal anders. Wäre es korrekt gewesen, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees der Arbeiter (ein Slogan, der in Nordirland, wie gesagt, absolut notwendig war) in England, Schottland oder Wales aufzustellen? Nein, das wäre ein grundlegender Fehler gewesen. Die Arbeiter hätten uns - nicht ohne Grund - als echt Wahnsinnige betrachtet. Warum? Weil unter den konkreten Umständen in Großbritannien solch eine Forderung in keinem Verhältnis zur realen Lage der Arbeiterklasse und der Gesellschaft steht. Und hier kommen wir zum eigentlichen Problem. Für einen Marxisten besteht Politik eben nicht aus einigen abstrakten Lehrsätzen, die wie mathematische Axiome unabhängig von der wirklichen Situation angewandt werden können. Wäre das der Fall, wäre unsere Arbeit ganz schön einfach! Wir müssen einen Weg finden, wie wir die Wissenschaft des Marxismus kreativ in einer gegebenen Situation anwenden können, damit wir mit unseren Ideen in der Arbeiterklasse ein Echo finden. Die Bildung von Kadern besteht genau darin, dass sie diese Kunst erlernen. In Großbritannien war der Hauptpunkt unserer Propaganda über die gesamt letzte Periode die Forderung, dass eine Labour-Regierung die Schalthebel der Wirtschaft übernimmt. Natürlich versuchen wir die fortschrittlichsten Arbeiter und Jugendlichen für die Ideen des Marxismus zu gewinnen. Aber 99% der britischen Arbeiter sind keine Marxisten. Das ist das Hauptproblem. Die überwältigende Mehrheit jener Arbeiter, die ein politisches Bewusstsein haben, unterstützen die Labour Party. Gegenwärtig unterstützt eine kleine Minderheit davon die Linksreformisten, obwohl sich das in der nächsten Periode, vor allem unter einer Blair-Regierung, ändern wird. Eigentlich sagen wir zu den britischen Arbeitern: "Wir haben euch noch nicht von der Notwendigkeit einer Revolution überzeugt? Na gut. Lasst uns zumindest darin übereinstimmen, dass wir gegen die Bosse und ihre Regierung kämpfen müssen. Kämpfen wir auf alle Fälle gemeinsam für die Wahl einer Labour-Regierung. Das allein ist aber nicht genug. Eine Labour-Regierung muss eine Politik im Interesse der Arbeiterklasse umsetzen. Wie kann sie das aber tun, wenn sich die Banken und Monopole in den Händen unserer Feinde befinden. Wie gehen wir damit um? Einmal gewählt, muss Labour sofort Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Obdachlosigkeit und all der anderen Probleme setzen. Es muss sofort ein Ermächtigungsgesetz zur Überführung der Banken und Monopole in Gemeinbesitz verabschiedet werden. Wir werden dafür eine faire Entschädigung zahlen. Darunter verstehen wir eine minimale Entschädigung auf der Grundlage bewiesener Bedürftigkeit. Wird die herrschende Klasse das einfach zulassen? Die gesamte Geschichte spricht dagegen, dass sie kampflos aufgibt. (1966 sagte das selbst der rechte Labour-Führer George Brown) Sie wird versuchen, das House of Lords und die Monarchie dafür einzusetzen, um fortschrittliche Gesetze zu verzögern und zu blockieren. Deshalb müssen wir diese reaktionären und undemokratischen Institutionen beseitigen. Die Herrschenden werden die Massenmedien einsetzen und Lügen und Panik verbreiten. Der Kontrolle der Medien durch einige wenige Tory-Millionäre muss ein Ende gesetzt werden, verstaatlichen wir die Presse, Radio und TV und garantieren wir für jede Strömung, Partei oder Organisation (einschließlich der Gewerkschaften, denen eine Stimme verwehrt wird, obwohl sie Millionen Menschen repräsentieren) den freien Zugang zu den Massenmedien je nach ihren Mitgliedszahlen bzw. der Anzahl an Stimmen, die sie bei Wahlen erhalten. Das "Big Business" wird alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um die Wirtschaft zu sabotieren, um so eine Labour-Regierung, die eine sozialistische Politik umsetzt, zum Rücktritt zu zwingen. Das haben wir schon in der Vergangenheit gesehen. Wenn sie eine Politik nicht gutheißen, organisieren sie Verschwörungen, Spekulation gegen die Währung usw. Daher muss Labour die Arbeiterklasse außerhalb des Parlaments mobilisieren, in jedem Arbeitsplatz demokratisch gewählte Komitees errichten, in der verstaatlichten Industrie Arbeiterkontrolle und -verwaltung etablieren und auf diesem Wege die Sabotage durch die Kapitalisten verhindern. Es ist notwendig, einen Appell an die Mitglieder von Polizei und Armee zu richten, damit sie demokratisch gewählte Regierung unterstützen (viele von ihnen sind ohnedies Labour-Unterstützer), Gesetze zur Anerkennung von Gewerkschaftsrechten und des Streikrechts für Soldaten und Polizisten zu verabschieden und dass sie jegliche Offiziere, die gegen die Regierung putschen wollen, sofort verhaften. Außerdem bedarf es Maßnahmen, damit die Mittelklassen, die kleinen Selbständigen, die vom Großkapital und den Banken ruiniert werden, eine Labour-Regierung unterstützen. Wir sollten ihnen aufzeigen, dass die Verstaatlichung der Banken und die Beseitigung einer ganzen Reihe von Mittelsmännern die Kredite verbilligen und die Kosten allgemein senken wird. Und vor allem wird eine verstaatlichte Planwirtschaft unter demokratischer Arbeiterkontrolle und -verwaltung uns in die Lage versetzen, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, den 6-Stunden-Tag und die 4-Tage-Woche einzuführen und gleichzeitig die Produktion auszuweiten und die Löhne zu steigern. Durch Massenmobilisierungen der Arbeiterklasse könnte Labour der Reaktion sehr schnell den Teppich unter den Füßen wegziehen. Jeder Versuch, eine konterrevolutionäre Verschwörung zu organisieren, würde so beiseite geschoben werden. Unter diesen Umständen wäre eine friedliche Transformation der Gesellschaft absolut möglich. Außerdem hätte das Beispiel eines demokratischen Arbeiterstaates in einem entwickelten Industrieland wie Großbritannien (oder jedem anderen entwickelten Land) eine noch größere Vorbildwirkung als das Russland von 1917. Angesichts der enormen Stärke der Arbeiterklasse und der überall auftretenden Ausweglosigkeit des Kapitalismus würden die bürgerlichen Regime in Europa sehr schnell fallen, was die Grundlage für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa und schlussendlich der ganzen Welt legen würde. Das ist die Perspektive, die wir euch anbieten. Es erscheint schwierig, dies umzusetzen? Aber was ist die Alternative dazu? Die Erfahrung einer jeden Labour-Regierung in der Vergangenheit gibt uns darauf die Antwort. Falls die Labour-Führer keine drastischen Aktionen setzen, um die Macht der Banken und Monopole zu brechen, werden sie sich schon sehr rasch als Geisel der City of London wiederfinden. Sie werden gezwungen sein, selbst Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiter, der Armen, der Arbeitslosen durchzuführen. Dann, wenn die Labour-Regierung den Bossen nicht mehr ins Konzept passt, wird gegen sie mit Hilfe der Presse und des Fernsehens eine Verschwörung organisiert, bis sie zurücktreten muss. Gefolgt von einer noch reaktionäreren Tory-Regierung. In Wirklichkeit ist das, was wir anbieten, gar nicht so schwierig umzusetzen. Würden die Labour-Führer auch nur ein Zehntel ihrer Energien, die sie zur Verteidigung des Kapitalismus aufwenden, dafür einsetzen würden, um die Kraft der Arbeiterklasse zur Veränderung der Gesellschaft zu mobilisieren, könnte die sozialistische Transformation schnell und schmerzlos vollbracht werden. Wir warnen aber davor, dass sie - für den Fall, dass sie dabei versagen - auf der Grundlage eines schrecklichen Zusammenbruchs des britischen Kapitalismus für die Arbeiterklasse den Weg in eine Katastrophe bereiten. In der kommenden Periode ist es leicht möglich, dass in Großbritannien eine linke Labour-Regierung kommt. Wir hätten grundsätzlich dieselben Positionen wie sie. Der einzige Unterschied ist, dass unter dem Druck der Arbeiterklasse die Linksreformisten Maßnahmen gegen die Bourgeoisie setzen könnten, die, sofern sie nicht zu einer völligen Transformation der Gesellschaft führen, ein normales Funktionieren des Kapitalismus unmöglich machen und so die Bedingungen für Verschwörungen der Bourgeoisie schaffen würden. Dies könnte nicht nur zum Sturz der Regierung sondern sogar zu einem bonapartistisch-royalistischen Putsch durch führende Köpfe aus den Streitkräften führen. In den 70ern erklärte Ted Grant in einer Debatte mit Tony Benn vor etwa 2000 Jungsozialisten, dass es - solange eine linke Labour-Regierung nicht die Arbeiterklasse zur Transformation der Gesellschaft mobilisiert - die Gefahr einer Reaktion gibt, was sogar den Weg zu einem Bürgerkrieg eröffnen könnte. Die Verantwortung dafür würde dann voll und ganz bei den Führern der Labour Party und der Gewerkschaften liegen, weil sie die Gesellschaft nicht zeitgerecht radikal verändert haben. In seinem "Tagebuch" verdrehte Benn die Tatsachen und warf Ted Grant vor, er hätte sich für einen Bürgerkrieg ausgesprochen! In dem wir an die Frage so herangegangen sind, bekamen wir die fast einstimmige Unterstützung der LPYS für eine sozialistische Revolution und unsere Politik, was auf einer anderen Grundlage nicht möglich gewesen wäre. Wir könnten noch vieles mehr zu diesem Thema sagen. Diese Zeilen werden aber ausreichen, um zu beweisen, dass die generelle Herangehensweise unserer Strömung an diese Frage aus marxistischer Sichtweise die einzige korrekte ist. Wir sind keinen Zentimeter von der Position abgewichen, die wir bereits im Zweiten Weltkrieg hatten. Diese Position ist die Fortsetzung und Entwicklung der von Trotzki ausgearbeiteten Herangehensweise, die sich wiederum von der Position von Marx, Engels und Lenin ableitet. Sie erwies sich immer wieder als korrekt - besonders in der Periode nach 1945, vor allem in der Portugiesischen Revolution und in Frankreich 1968. Hier handelt es sich nicht nur um eine Frage der Theorie sondern um die eigentliche historische Erfahrung des internationalen Proletariats. Es ist für alle GenossInnen essentiell, die marxistische Staatstheorie zu studieren, jedoch nicht nur in den klassischen Texten des Marxismus, die noch immer ihre volle Gültigkeit besitzen, sondern auch in der lebendigen Erfahrung des Klassenkampfes über die letzten 100 Jahre, die in der Methode, dem Programm, den Taktiken und der allgemeinen Herangehensweise unserer internationalen Strömung zusammengefasst ist. Falls diese Polemik dazu beigetragen haben, hatte sie auch einen Sinn.
|