Das Manifest ist ein außergewöhnliches Büchlein. Von bürgerlicher Seite ist ihm manches an Ehre widerfahren. Das Pamphlet von Marx und Engels wird nicht selten als „prophetisch“ anerkannt, als „geniale Vorhersage“ der Entwicklung des Kapitalismus, der Globalisierung oder der Konzentration des Kapitals. Jetzt, da spätestens nach dem Zerfall der Sowjetunion die Kräfte des Marxismus stark geschwächt sind, ist es erlaubt, der kommunistischen Literatur eine Bühne zu geben. In ihrem Bestreben, allerdings, die Analysen und Erkenntnisse der beiden zu verharmlosen, beschränken sich die bürgerlichen Kommentatoren nicht nur darauf, ihre Lehren zu verfälschen, sondern gehen so weit, sie für ihre Zwecke zu missbrauchen: Die (teilweise) Umsetzung der zehn Forderungen am Ende des zweiten Kapitels des „Manifests“, deren Charakter 1848 ein ganz anderer war als heute, nehmen sie zum Anlass, zu behaupten, die Ziele von Marx und Engels seien sowieso bereits erreicht, und war das Manifest noch nützlich im Widerstand gegen den „rohen“ Manchesterkapitalismus, so sei es angesichts der Errungenschaften der „sozialen“ Marktwirtschaft längst überholt. Dass Marx und Engels diese Forderungen bereits zu ihren Lebzeiten als (teilweise) überholt ansahen, erwähnen sie nicht.
Wir MarxistInnen sehen den Wert dieses Buchs nicht in der Interpretation einzelner herausgepickter Analysen oder Prognosen. Was uns interessiert, ist nicht die Suche nach der absoluten Wahrheit, einer vollendeten „Bibel des Marxismus“, sondern die dem Werk zugrundeliegende Methode. Die präzisen Vorhersagen der kapitalistischen Entwicklung waren möglich, durch die Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung, der wissenschaftlichen Analyse der Gesellschaft. Diese wurde 1848 durch das Manifest erstmals einem breiten Publikum zugänglich gemacht, und gaben der internationalen Arbeiterklasse das Werkzeug in die Hand, das es ihr ermöglicht, ihre Knechtschaft zu überwinden. Im Manifest zeichnen uns Marx und Engels einen kurzen Abriss über den Kapitalismus als spezifische historische Entwicklungsphase, die vor allem zwei Klassen hervorbringt: Bourgeoisie und Proletariat:
„Unter Bourgeoisie wird die Klasse der modernen Kapitalisten verstanden, die Besitzer der gesellschaftlichen Produktionsmittel sind und Lohnarbeit ausnutzen. Unter Proletariat die Klasse der modernen Lohnarbeiter, die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können.“ Ihre gegensätzliche Stellung und somit Interessen in der Produktion sind der zentrale Widerspruch des Kapitalismus.
Krisenhaftigkeit des Kapitalismus
Die Bürgerlichen behaupten noch heute, die (soziale) Marktwirtschaft habe sich als die der menschlichen Natur entsprechende Wirtschaftsform durchgesetzt. In der kurzen Geschichte des Kapitalismus gab es immer wieder Boom-Phasen, die die Ökonomen übermütig werden ließen und es wurden stets Stimmen laut, die das Ende der kapitalistischen Krisen überhaupt verkündeten. Die längste solche Phase sahen wir nach dem zweiten Weltkrieg, als sich mit dem Wiederaufbau und durch das Erschließen neuer Märkte eine jahrzehntelange Stabilität im Westen aufrecht erhalten ließ. Der Zusammenbruch der UdSSR verschaffte dieser Euphorie noch einmal einen zweiten ideologischen Frühling.
Doch Marx und Engels erklärten bereits zu ihrer Zeit, dass, solange der grundlegende Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit besteht, es immer wieder zu Krisen kommen muss. Bereits in den Rezessionen der 1970er, 80er und ab Mitte der 1990er begann die Fassade zu bröckeln, als die Krisen in Asien und Russland, und das jähe Ende des amerikanischen Booms der 90er dem Aufschwung einen Dämpfer verpassten, um schließlich 2007-2008 völlig zusammenzubrechen. Die Autoren des Manifests sagen dazu:
„In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. [...] Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“
Bereits 1848 finden wir hier die Keimform der marxistischen Krisentheorie. Die Widersprüche des Kapitalismus lassen ein rationales Wirtschaften nicht zu und die globale Wirtschaftskrise, die gerade dabei ist in eine neue Periode der Rezession einzutreten, bestätigt dies voll und ganz. Für eine Ergänzung muss allerdings Platz sein: Nachdem die Aufteilung der relevanten Märkte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger vollständig abgeschlossen war, ist der Bourgeoisie dieser Weg der Krisenbewältigung nicht mehr gangbar, ohne in offenen Konflikt untereinander zu treten. Obwohl der völlige Kollaps der Weltwirtschaft noch durch Konjunktur- und Bankenrettungspakete verhindert werden konnte, legten diese Maßnahmen, wie von Marx und Engels beschrieben, bloß den Grundstein für einen noch gewaltigeren Einbruch.
Die Organisation des Proletariats zur Klasse
Die Krise ist kein abstrakter Fehler im System, sondern bedeutet eine konkrete Verschlechterung der Lebenssituation der arbeitenden Menschen und die Verelendung größerer Schichten der Gesellschaft. Doch diese lassen nicht einfach mit sich umspringen, sondern beginnen sich zu wehren – und zu organisieren.
„Die [...] Handelskrisen machen den Lohn der Arbeiter immer schwankender; [...] immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem einzelnen Bourgeois den Charakter von Kollisionen zweier Klassen an. Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren.“
Das Proletariat als Klasse konstituiert sich durch seine Stellung im Produktionsprozess. Als Lohnabhängige produzieren sie allen Reichtum der Gesellschaft, ohne über diesen frei verfügen zu können. Durch ihre ähnlichen Lebensbedingungen entwickeln sie ähnliche materielle Interessen, die sie nur durch ihren gemeinsamen Kampf durchsetzen können.
Aus dieser notwendigen Vereinigung entstanden die traditionellen Gewerkschaften und Arbeiterparteien, die allerdings in Zeiten der stabilen wirtschaftlichen Entwicklung eine zehrende Bürokratie entwickelten, und sich von der kämpferischen Führung der Arbeiterklasse in plumpe Gehilfen der Bourgeoisie verwandelten. Zu keiner anderen Funktion mehr als der Systemerhaltung fähig, können wir in ganz Europa die Frustration der arbeitenden Massen mit den FührerInnen der traditionellen Arbeiterorganisationen beobachten. Dieser Widerspruch muss sich auf die eine oder andere Art entladen.
In dieser Situation sucht und testet das Proletariat verschiedenste neue Führungen, wie z.B. die Kampagne um Jeremy Corbyn (Großbritannien) im Kampf gegen die Konservativen innerhalb und außerhalb der Labour Party, oder der Aufstieg von SYRIZA im Kampf gegen die Kürzungspolitik der EU, zeigten.
Wo sich noch keine überzeugende linke Alternative bietet, verstehen es geschickte Demagogen, wie die rechten Parteien in Österreich, Deutschland und Frankreich (FPÖ, AfD, FN), die Enttäuschung der ArbeiterInnen zu nutzen, um sie in Widerspruch zu ihren eigentlichen Interessen kurzfristig an sich zu binden. Doch da sie auf Basis ihrer bürgerlichen Politik keine Lösung für die sozialen Probleme der ProletarierInnen bieten werden, können dies nur temporäre Erscheinungen sein:
„Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger“, schreibt dazu Marx.
Das Scheitern des Reformismus beweist letztlich den Wert der im Manifest ausgearbeiteten Methode. Zu Marxens Zeiten hatte er noch keine Gelegenheit, sich als klare Strömung in der Arbeiterbewegung zu zeigen, doch vieles was sie damals über die s.g. Utopisten schrieben, könnte man auch den heutigen ReformistInnen mit auf den Weg geben:
„Sie wollen die Lebenslage aller Gesellschaftsglieder, auch der bestgestellten, verbessern. Sie appellieren daher fortwährend an die ganze Gesellschaft ohne Unterschied, ja vorzugsweise an die herrschende Klasse. […] Sie verwerfen daher alle politische, namentlich alle revolutionäre Aktion, sie wollen ihr Ziel auf friedlichem Wege erreichen und versuchen, durch kleine, natürlich fehlschlagende Experimente, durch die Macht des Beispiels dem neuen gesellschaftlichen Evangelium Bahn zu brechen. […] In demselben Maße, worin der Klassenkampf sich entwickelt und gestaltet, verliert diese phantastische Erhebung über denselben, diese phantastische Bekämpfung desselben allen praktischen Wert, alle theoretische Berechtigung. Waren daher die Urheber dieser Systeme auch in vieler Beziehung revolutionär, so bilden ihre Schüler jedesmal reaktionäre Sekten. Sie halten die alten Anschauungen der Meister fest gegenüber der geschichtlichen Fortentwicklung des Proletariats. Sie suchen daher konsequent den Klassenkampf wieder abzustumpfen und die Gegensätze zu vermitteln. […] Sie treten daher mit Erbitterung aller politischen Bewegung der Arbeiter entgegen.“
So verwechseln manche ReformistInnen die zehn Forderungen am Ende des zweiten Kapitels mit ihrem Minimalprogramm, und rechtfertigen so ihre Strategie des schrittweisen Wegs zum Sozialismus, während sie den revolutionären Charakter dieser, heute vielleicht milde anmutenden, Übergangsforderungen, „die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind“, ignorieren.
Das Manifest bleibt also in zweierlei Hinsicht interessant. Einerseits im Kontext seiner Geschichte, als Wegbereiter der organisierten Arbeiterbewegung. Andererseits aufgrund seines tatsächlichen Inhalts: Der Darlegung der marxistischen Methode und ihre Aktualität in der heutigen Situation. Das Manifest ist und bleibt, trotz seines hohen Alters, eine der besten Einführungen in den Marxismus und ein hervorragender Einstieg für alle, die ihrem Streben nach einer besseren Welt eine feste theoretische Grundlage geben wollen.
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