3. Die Entwürdigung der Frau und der "erste Klassengegensatz" in der Geschichte
"In ihrer ganzen Härte tritt uns die neue Familienform entgegen bei den Griechen" (MEW 21, S.65). Die Frau ist für den Mann nur "die Mutter seiner ehelichen Erbkinder, seine oberste Hausverwalterin und die Vorsteherin der Sklavinnen, die er sich nach Belieben zu Konkubinen machen kann und auch macht. Es ist der Bestand der Sklaverei neben der Monogamie, das Dasein junger schöner Sklavinnen, die dem Mann gehören mit allem, was sie an sich haben, das der Monogamie von Anfang an ihren spezifischen Charakter aufdrückt, Monogamie zu sein nur für die Frau, nicht aber für den Mann. Und diesen Charakter hat sie bis heute" (MEW 21, S.66). "Der Mann hatte seine gymnastischen Übungen, seine öffentlichen Verhandlungen, wovon die Frau ausgeschlossen; er hatte außerdem oft noch Sklavinnen zu seiner Verfügung und zur Blütezeit Athens eine ausgedehnte und vom Staat wenigstens begünstigte Prostitution. Es war gerade auf Grundlage dieser Prostitution, daß sich die einzigen griechischen Frauencharaktere entwickelten, die durch Geist und künstlerische Geschmacksbildung ... über das allgemeine Niveau der antiken Weiblichkeit" (MEW 21, S.67) hervorragten. "Daß man aber erst Hetäre werden mußte, um Weib zu werden, das ist die strengste Verurteilung der athenischen Familie" (ibid).
Die Monogamie "beim zivilisiertesten und am höchsten entwickelten Volk des Altertums" war also "keineswegs eine Frucht der individuellen Geschlechtsliebe ... Sie war die erste Familienform, die nicht auf natürliche, sondern auf ökonomische Bedingungen gegründet war, nämlich auf den Sieg des Privateigentums über das ursprüngliche naturwüchsige Gemeineigentum..." (MEW 21, S.67f).
"So tritt die Einzelehe keineswegs ein in die Geschichte als die Versöhnung von Mann und Weib, noch als ihre höchste Form. Im Gegenteil. Sie tritt auf als Unterjochung des einen Geschlechts durch das andre, ..." (MEW 21, 68). "Und ich kann ... hinzusetzen: Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche. Die Einzelehe war ein großer geschichtlicher Fortschritt, aber zugleich eröffnet sie neben der Sklaverei und dem Privateigentum jene bis heute dauernde Epoche, in der jeder Fortschritt zugleich ein relativer Rückschritt, in dem das Wohl und die Entwicklung der einen sich durchsetzt durch das Wehe und die Zurücksetzung der andern" (ibid).
Warum spricht Engels von dem "ersten Klassengegensatz"? Weil der "Antagonismus von Mann und Frau" mit dem "Antagonismus" zwischen dem "Privateigentum" und den gesellschaftlichen Produktivkräften einhergeht. Und die für das Gattungsleben wesentliche Produktivkraft ist nun einmal die weibliche Fruchtbarkeit. Letztere wird zusammen mit der Fruchtbarkeit des Bodens, der Fortpflanzungsfähigkeit des Viehs und den gesellschaftlichen Produktivkräften hier in "Privateigentum" überführt. Dadurch wird die Klassengesellschaft ins Leben gerufen, die - in jeweils verschiedener Konkretion - bis heute das menschliche Zusammenleben prägt.
Der "Antagonismus von Mann und Frau" ist deshalb nicht als Nebenwiderspruch zu behandeln, sondern er ist der Grundwiderspruch der menschlichen Zivilisation. Und er wird erst dann lösbar, wenn der "Antagonismus" zwischen dem "Privateigentum" und den gesellschaftlichen Produktivkräften beendet wird. Wie? Durch die Aufhebung des "Privateigentums" an den gesellschaftlichen Produktivkräften einschließlich der Fruchtbarkeit der Frau. Wie kann das Letztere, das Privateigentum an der Fruchtbarkeit der Frau, aus der Welt geschafft werden? Durch die Beseitigung "aller Grundlagen der klassischen Monogamie" (MEW 21, S.73). Und wann sind diese beseitigt? Wenn die "wirkliche Regel im Verhältnis zur Frau" die "Geschlechtsliebe" ist. Wann kann dies geschehen? Wenn eine Klasse die Macht ergreift, der alles "Eigentum" fehlt, "zu dessen Bewahrung und Vererbung" die "Monogamie und die Männerherrschaft geschaffen wurden" (ibid). Daher kann die "Geschlechtsliebe" in gesellschaftlich durchgreifender Form, wenn es mit dem "Privateigentum" bricht, nur durch das Proletariat verwirklicht werden. "So ist" denn auch, mein Engels, "die Familie des Proletariers keine monogamische im strengen Sinne mehr, selbst bei der leidenschaftlichsten Liebe und festesten Treue beider ... Daher spielen auch die ewigen Begleiter der Monogamie, Hetärismus und Ehebruch, hier nur eine fast verschwindende Rolle ... Kurz, die Proletarierehe ist monogam im etymologischen Sinn des Wortes, aber durchaus nicht in seinem historischen Sinn" (MEW 21, S.74).
Engels argumentiert also nicht gegen die Monogamie per se, denn als solche ist die Monogamie durchaus ein geschichtlicher Forschritt, insofern sie die individuelle "Geschlechtsliebe" zwischen Mann und Frau ermöglicht. Die ganze Verachtung von Engels gilt stattdessen jener Monogamie, deren Funktion es ist, das "Privateigentum" zu stützen und die Herrschaft der Männer zu befestigen. Er argumentiert also gegen jene Monogamie, für die die "Geschlechtsliebe" an sich selbst nichts gilt und die - da sie die Prostitution fördert - sittliche Versumpfung bedeutet. Er argumentiert also für "Geschlechtsliebe", für jene "leidenschaftlichste Liebe und festeste Treue", die nur zwischen denen entstehen kann, die sich - ohne ökonomischen Zwang - frei wählen. Und die sich wieder voneinander trennen können, ohne den wirtschaftlichen Ruin und tiefen gesellschaftlichen Fall befürchten zu müssen. "Es wird sich dann zeigen, daß die Befreiung der Frau zur ersten Vorbedingung hat die Wiedereinführung des ganzen weiblichen Geschlechts in die öffentliche Industrie, und daß dies wieder erfordert die Beseitigung der Einzelfamilie als wirtschaftlicher Einheit der Gesellschaft" (MEW 21, S.76).
4. Die Entstehung des athenischen Staates als Beispiel für die Staatsbildung
Wiewohl ich kurz auf die "Gentilverfassung" eingehe, lasse ich im Folgenden die eingehenderen Ausführungen von Engels sowohl zur "Gens" der Irokesen als auch zur griechischen "Gens" beiseite und komme gleich zur "Entstehung des Staates bei den Athenern", welche für Engels "ein besonders typisches Muster der Staatsbildung überhaupt" (MEW 21, S.116) ist. In diesem Zusammenhang muss allerdings erklärt werden, wie und aus welchen Gründen sich die "Gentilverfassung" auflöste.
Kurz vorgreifend kann gesagt werden, dass diese Auflösung deswegen mit Notwendigkeit erfolgte, weil die "Gentilverfassung" - wie es am Beispiel der "amerikanischen Rothäute" (MEW 21, S.152) besonders gut abzulesen ist - nur eine "naturwüchsige" "Teilung der Arbeit" (MEW 21, S.155) kannte. Eine Arbeitsteilung bestand nur zwischen den beiden Geschlechtern. "Der Mann führt den Krieg, geht jagen und fischen, beschafft den Rohstoff der Nahrung und die dazu nötigen Werkzeuge. Die Frau besorgt das Haus und die Zubereitung der Nahrung und Kleidung, kocht, webt, näht. Jedes von beiden ist Herr auf seinem Gebiet: der Mann im Walde, die Frau im Hause. Jedes ist Eigentümer der von ihm verfertigten und gebrauchten Werkzeuge: der Mann der Waffen, des Jagd- und Fischzeugs, die Frau des Hausrats. Die Haushaltung ist kommunistisch, ... Was gemeinsam gemacht und genutzt wird, ist gemeinsames Eigentum: das Haus, der Garten, das Langboot" (MEW 21, S.155). Die Herausbildung der Hirtenstämme ist dann die "erste gesellschaftliche Teilung der Arbeit" (ibid). Davon ist schon die Rede gewesen.
Es ist aber "das Großartige, aber auch das Beschränkte der Gentilverfassung" gewesen, "daß sie für Herrschaft und Knechtung keinen Raum" hatte. "Nach innen gibt es noch keinen Unterschied zwischen Rechten und Pflichten: die Frage, ob Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, Blutrache oder deren Sühnung, ein Recht oder eine Pflicht sei, besteht für die Indianer nicht; die würde ihm ebenso absurd vorkommen wie die: ob Essen, Schlafen, Jagen ein Recht oder eine Pflicht sei. Ebensowenig kann eine Spaltung des Stamms und der Gens in verschiedene Klassen stattfinden" (MEW 21, S.152f). Kurzum: Sowohl Sklaverei als auch Geldwirtschaft sind in den Grenzen der "Gentilverfassung" undenkbar.
"Die Irokesen waren noch weit entfernt davon, die Natur zu beherrschen, aber innerhalb der für sie geltenden Naturgrenzen beherrschten sie ihre eigne Produktion. Abgesehn von schlechten Ernten in ihren Gärtchen, von Erschöpfung des Fischvorrats ihrer Seen und Flüsse, des Wildstandes ihrer Wälder, wußten sie, was bei ihrer Art, sich ihren Unterhalt zu erarbeiten, herauskam. Was herauskommen mußte, war der Lebensunterhalt, ob er kärglicher oder reichlicher ausfiel; was aber nie herauskommen konnte, das waren unbeabsichtigte gesellschaftliche Umwälzungen, Zerreißung der Gentilbande, Spaltung der Gentil - und Stammgenossen in entgegengesetzte, einander bekämpfende Klassen. Die Produktion bewegte sich in den engsten Schranken; aber - die Produzenten beherrschten ihr eignes Produkt. Das war der Vorzug der barbarischen Produktion, der mit dem Eintritt der Zivilisation verlorenging ... " (MEW 21, S.110).
Wie ist es nun bei den Griechen? "Der aufgekommene Privatbesitz an Herden", Arbeitsmitteln und "Luxusgerät führte zum Austausch zwischen einzelnen, zur Verwandlung der Produkte in Waren. Und hier liegt der Keim der ganzen folgenden Umwälzung. Sobald die Produzenten ihr Produkt nicht mehr direkt verzehrten, sondern es im Austausch aus der Hand gaben, verloren sie die Herrschaft darüber. Sie wußten nicht mehr, was aus ihm wurde, und die Möglichkeit war gegeben, daß das Produkt dereinst verwandt werde gegen die Produzenten, zu seiner Ausbeutung und Unterdrückung" (ibid).
"Mit der Warenproduktion kam die Bebauung des Bodens für eigne Rechnung, damit bald das Grundeigentum einzelner. Es kam ferner das Geld, die allgemeine Ware, gegen die alle andern austauschbar waren" (MEW 21, S.111).
Die "alte Gentilverfassung" musste sich notwendig "ohnmächtig" erweisen "gegen den Siegeszug des Geldes". " ... sie war ... absolut unfähig, innerhalb ihres Rahmens ... Raum zu finden für so etwas wie Geld, Gläubiger und Schuldner, Zwangseintreibung und Schulden" (ibid). Dagegen halfen auch keine frommen Wünsche nach der "Rückkehr der guten alten Zeit" (ibid).
Hinzu kam, dass die mit der "Warenproduktion" einhergehende "Teilung der Arbeit zwischen den verschiednen Produktionszweigen: Ackerbau, Handwerk, im Handwerk wieder zahllose Unterarten, Handel, Schiffahrt usw.", "sich immer vollständiger entwickelte" (ibid). Die Folge war, dass sich "die Bevölkerung "nach ihrer Beschäftigung" "in ziemlich feste Gruppen" aufteilte, "deren jede eine Reihe neuer, gemeinsamer Interessen hatte, ..." (ibid). Für diese gab es in der "Gens" kein Platz. Zu ihrer "Besorgung" mussten neue "Ämter" geschaffen werden. Sicher ist diese Entstehung von "Ämtern" zur "Besorgung" dieser "gemeinsamen Interessen" ein gewichtiger Grund zur Staatsbildung gewesen. Denn es bedurfte ganz offensichtlich einer Organisationsform jenseits der "Gentilverfassung".
Der gesellschaftliche Druck in die Richtung dieser Organisationsform nahm auch noch bedeutend zu durch die deutliche Vermehrung sowohl der Zahl der Sklaven als auch der Menge derjenigen, die der Handel nach Athen brachte, ohne dass sie irgendeiner der ansässigen "Gentes" zugehörten.
"Kurz, mit der Gentilverfassung ging es zu Ende. Die Gesellschaft wuchs täglich mehr aus ihr heraus; ... (ibid). "Die neuen, durch die Teilung der Arbeit zuerst zwischen Stadt und Land, dann zwischen den verschiedenen städtischen Arbeitszweigen geschaffnen Gruppen hatten neue Organe geschaffen zur Wahrnehmung ihrer Interessen; Ämter aller Art waren eingerichtet worden. Und dann brauchte der junge Staat vor allem eine eigne Macht, die bei den seefahrenden Athenern zunächst nur eine Seemacht sein konnte, zu einzelnen kleinen Kriegen und zum Schutz der Handelsschiffe" (MEW 21, S.11f).
Was sind also die Grundlagen der Staatsbildung? Erstens die "weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts" und die Durchsetzung der patriarchalischen Familie auf Kosten der "Gentes", zweitens die Einführung der "Warenproduktion" mitsamt der sich aus ihr entwickelnden Geldwirtschaft, drittens die der "Warenproduktion" und der Geldwirtschaft zugrundeliegenden drei Schritte der gesellschaftlichen Arbeitsteilung: nämlich die Entwicklung der Viehwirtschaft, die die Lebensmittelbeschaffung durch die kommunistische Hauswirtschaft zurückdrängt, die Trennung von Ackerbau und Handwerk mit dem sich festigenden Widerspruch zwischen Stadt und Land und die Herausbildung der "Kaufleute" als "eigene Klasse" (MEW 21, S.161), jener "Klasse" also, die nicht mehr mit der Produktion beschäftigt ist, sondern mit dem Austausch der Produkte.
Und welche Funktion hat die Staatsbildung? Sie hat die Interessen all dieser neu entstandenen Klassen so unter einen Hut zu bringen, dass diese sich nicht antagonistisch widersprechen, sondern dass sie so weit wie möglich einer Regulation unterworfen werden.
Was macht das erforderlich? Die Schaffung von "Ämtern" jenseits der "Gentilverfassung" und die Schaffung einer Kriegsmacht, die insbesondere die Interessen der im ökonomischen Sinne fortgeschtrittensten Klasse - der Handeltreibenden und Kaufleute - kriegerisch gegenüber äußeren Feinden durchsetzen kann. In Athen kommt selbstverständlich noch ein eigenes Polizeikorps hinzu, um auch im Innern für Ruhe zu sorgen.
Bei alle dem darf nicht vergessen werden, wozu die Kriege, die geführt werden, auch noch - und das ganz wesentlich! - dienen: Der Beschaffung von Sklaven. Ohne Sklaven funktioniert die gesamte Ökonomie der Antike nicht!
"Zur Zeit der höchsten Blüte bestand die ganze athenische freie Bürgerschaft, Weiber und Kinder mit eingeschlossen, aus etwa 90 000 Köpfen, daneben 365 000 Sklaven beiderlei Geschlechts. und 45 000 Schutzverwandte . Fremde und Freigelaßne. Auf jeden erwachsnen männlichen Bürger kamen also mindestens 18 Sklaven" (MEW 21, S.116). "Mit der Entwicklung des Handels und der Industrie aber kam Akkumulation und Konzentration der Reichtümer in wenige Hände, Verarmung der Masse der freien Bürger, denen nur die Wahl blieb, entweder der Sklavenarbeit durch eigne Handwerksarbeit Konkurrenz zu machen, was für schimpflich, banausisch galt und auch wenig Erfolg versprach - oder aber zu verlumpen. Sie taten, unter den Umständen mit Notwendigkeit, das letztere, und da sie die Masse bildeten, richteten sie damit den ganzen athenischen Staat zugrunde. Nicht die Demokratie hat Athen zugrundegerichtet, wie die europäischen, fürstenschweifwedelnden Schulmeister behaupten, sondern die Sklaverei, die die Arbeit der freien Bürger ächtete" (ibid).
5. Der Staat
" ... die Gentilverfassung" war "aus einer Gesellschaft" "herausgewachsen, die keine inneren Gegensätze kannte, ... Sie hatte kein Zwangsmittel außer der öffentlichen Meinung". Jetzt "aber war eine Gesellschaft entstanden, die kraft ihrer ... ökonomischen Lebensbedingungen sich in Freie und Sklaven, in ausbeutende Reiche und ausgebeutete Arme hatte spalten müssen, eine Gesellschaft, die diese Gegensätze nicht nur nicht wieder versöhnen konnte, sondern sie immer mehr auf die Spitze treiben mußte. Eine solche Gesellschaft konnte nur bestehn entweder im fortwährenden offenen Kampf dieser Klassen gegeneinander oder aber unter der Herrschaft einer dritten Macht, die, scheinbar über den widerstreitenden Klassen stehend, ihren offenen Konflikt niederdrückte und den Klassenkampf höchstens auf ökonomischem Gebiet, in sogenannter gesetzlicher Form, sich ausfechten ließ. Die Gentilverfassung hatte ausgelebt. Sie war gesprengt durch die Teilung der Arbeit, und ihr Ergebnis die Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Sie wurde ersetzt durch den Staat" (MEW 21, S.164).
"Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungene Macht: ebensowenig ist er 'die Wirklichkeit der sittlichen Idee', 'das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft', wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einem unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der 'Ordnung' halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat" (MEW 21, S.165).
"Gegenüber der alten Gentilorganisation kennzeichnet sich der Staat erstens durch die Einteilung der Staatsangehörigkeit nach dem Gebiet". Er richtet sich nicht nach den vorhandenen Blutsbanden. Zweitens kennzeichnet ihn "die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht ... zusammenfällt mit der sich als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung. Diese besondre, öffentliche Gewalt ist nötig, weil eine selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung unmöglich geworden ist seit der Spaltung der Klassen" (ibid). "Diese öffentliche Gewalt existiert in jedem Staat; sie besteht nicht bloß aus bewaffneten Menschen, sondern auch aus sachlichen Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller Art ... "(MEW 21, S.166). "Um diese öffentliche Macht aufrechtzuerhalten, sind Beiträge der Staatsbürger nötig - die Steuern". Die Erhebung von Steuern ist somit das dritte Charakteristikum des Staates. "Im Besitz der öffentlichen Gewalt und des Rechts der Steuereintreibung, stehn die Beamten nun da als Organe der Gesellschaft" (ibid). Die Entstehung eines eigenen Beamtenapparats ist also das vierte Charakteristikum des Staates. Es gibt noch ein fünftes Charakteristikum, das den Staat auszeichnet. Denn da "der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittels seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse. So war der antike Staat vor allem Staat der Sklavenbesitzer zur Niederhaltung der Sklaven, wie der Feudalstaat Organ des Adels zur Niederhaltung der leibeignen und hörigen Bauern und der moderne Repräsentativstaat Werkzeug der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital" (MEW 21, S.166f).
"In den meisten geschichtlichen Staaten werden außerdem die den Staatsbürgern zugestandnen Rechte nach dem Vermögen abgestuft und damit direkt ausgeprochen, daß der Staat eine Organisation der besitzenden Klasse zum Schutz gegen die nichtbesitzende ist. So schon in den athenischen und römischen Vermögensklassen. So im mittelalterlichen Feudalstaat, wo die politische Machtstellung sich nach dem Grundbesitz gliederte. So im Wahlzensus der modernen Repräsentativstaaten. Diese politische Anerkennung des Besitzunterschieds ist indes keineswegs wesentlich. Im Gegenteil, sie bezeichnet eine niedrige Stufe der staatlichen Entwicklung. Die höchste Staatsform, die demokratische Republik, die in unsern modernen Gesellschaftsverhältnissen mehr und mehr unvermeidliche Notwendigkeit wird und die Staatsform ist, in der der letzte Entscheidungskampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie ausgekämpft wird - die demokratische Republik weiß offiziell nichts mehr von Besitzunterschieden. In ihr übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus. Einerseits in der Form der direkten Beamtenkorruption ...., andrerseits in der Form der Allianz von Regierung und Börse ... Und endlich herrscht die besitzende Klasse mittelst des allgemeinen Stimmrechts. Solange die unterdrückte Klasse, also in unserm Fall das Proletariat, noch nicht reif ist zu seiner Selbstbefreiung, solange wird sie, der Mehrzahl nach, die bestehende Gesellschaftsordnung als die einzig mögliche erkennen und politisch der Schwanz der Kapitalistenklasse, ihr äußerster linker Flügel sein" (MEW 21, S.168).
"Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesellschaften gegeben, die von Staat und Staatsgewalt keine Ahnung hatten. Auf einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwicklung, die mit der Spaltung in Klassen notwendig verbunden war, wurde durch diese Spaltung der Staat eine Notwendigkeit. Wir nähern uns jetzt mit raschen Schritten einer Entwicklungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hindernis der Produktion wirtd. Sie werden fallen, ebenso unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird; ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt" (ibid).
Den Staat hat es eben so wenig schon immer gegeben wie die Familie, die seine Brutzelle ist. Beide haben ihren Ursprung in der Durchsetzung des Privateigentums auf ganzer Linie. Und das Letztere - mit der Produktion von Waren verbunden - brachte die Geldwirtschaft hervor. Alles dies zersetzte die "Gentilverfassung" und führte zur Klassenspaltung. Im gleichen Zuge, da das "Mutterrecht" abgeschafft wurde und ein großer Teil der Menschen zu Vieh degradiert wurde, erlitt das "weibliche Geschlecht" eine "welthistorische Niederlage", deren Folgen bis heute wahrzunehmen sind.
Somit macht Engels klar, dass eine radikale (= bis an die Wurzeln gehende) Aufhebung des Staates nur durch eine "freie und gleiche Assoziation der Produzenten" bewerkstelligt werden kann, durch eine Assoziation, die die gesellschaftliche Produktion und Konsumtion der gemeinsam hergestellten Gebrauchsgüter solidarisch plant und Schritt für Schritt mit der Umwandlung ihrer Produkte in Waren Schluss macht. Was aber auch heißt, dass all dies - was man nach Marx und Engels unter einer sozialistischen Produktionsweise zu verstehen hat - nur möglich sein wird, wenn der Grundwiderspruch der menschlichen Zivilisation überwunden wird: der mit der Entstehung durch das Privateigentum an der weiblichen Fruchtbarkeit verbundene Antagonismus zwischen Mann und Frau. Engels nennt ihn nicht umsonst den "ersten Klassengegensatz".
Teil I
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