Der 18 jährige Deutsch-Iraner David S. ermordet mindestens neun Menschen und begeht anschließend Selbstmord. In einem offiziell bestätigten Video, welches den Täter auf dem Dach eines Parkgebäudes zeigt, ruft dieser »Wegen euch bin ich sieben Jahre lang gemobbt worden. Und jetzt musste ich mir eine Waffe kaufen, um euch alle abzuknallen.« und »Ich bin hier geboren. Ich wurde in meiner Wohngruppe gemobbt. Ich war in Behandlung. Ich bin Deutscher aus einer HartzIV-Gegend!« Der von bürgerlichen Politikern wie Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) gemutmaßte islamistische oder rechtsradikale Hintergrund des Täters wurde revidiert, obwohl aus den Ermittlungen inzwischen bekannt ist, dass David S. ein Sympathisant der AfD und von Anders Breivik fasziniert war. Absurder Weise geht mit dieser Feststellung nachträglich eine neue Bewertung der abscheulichen Bluttat einher, dass dies kein Terror war, sondern lediglich Amok. Wir werden sehen, dass diese Differenzierung der Verwischung eines tiefer sitzenden gesellschaftlichen Problems dient. Schauen wir uns zunächst die Definitionen der bürgerlichen Gesellschaft für Amok und Terror etwas genauer an.
Zur Unterscheidung von Amok und Terror
Das aus dem Lateinischen stammende Wort Terror („Schrecken“) beschreibt eine systematische und oftmals willkürlich erscheinende Verbreitung von Angst und Schrecken zur Gefügigmachung von Menschen mittels ausübender oder androhender Gewalttaten. Der aus der malaiischen Sprache entnommene Begriff Amok („wütend, „rasend“) hingegen beschreibt einen psychischen Ausnahmezustand mit zerstörerischem Verhalten einer Person, welche ausschließlich willkürlich eine Kette von Gewalttaten an Personen ausübt oder androht. Der Unterschied liegt demnach der individuellen Gedankenwelt von Einzelpersonen zugrunde. Daraus geht hervor, dass eine Kategorisierung von Amok und Terror zwangsläufig erst nachträglich und losgelöst von der konkreten materiellen Grundlage der Tat erfolgen kann.
Aufgrund dieser Tatsache – dass der Terror als Tat rational denkender Menschen mit eindeutigen Motiven gilt, während Amok als eine unberechenbare und rein zufällige Sache verklärt wird – werden viele juristische Urteile von Gerichtsprozessen zu Gewaltverbrechen wesentlich unter der Prämisse geführt, ob der Täter geistig gesund oder psychisch krank gehandelt habe. Denn während Gewalttaten von politisch oder religiös motivierten Organisationen oder Einzelpersonen ein gesellschaftspolitischer Nährboden zugeschrieben wird – welcher wiederum politisch beantwortet wird – so gilt selbiges nicht für Gewalttaten von psychisch kranken Menschen. Wir erinnern uns an dieser Stelle an die Gerichtsverhandlungen gegen den faschistischen Massenmörder Anders Breivik, welcher im Sommer 2011 auf der norwegischen Insel Utøya 69 Jugendliche eines sozialistischen Jugendcamps ermordete. Ist Breivik nun ein psychisch kranker Amokläufer oder ein reflektierter und politisch motivierter Terrorist?
Die politische Dimension von Begriffen und ihre Folgen
Inzwischen ist bekannt, dass der Täter von München ein überzeugter Rechtsradikaler war und an psychischen Problemen litt. Nun sprechen die bürgerlichen Medien und Politiker sowie der Staat offiziell von Amok. Am Abend des 22. Juli stimmten sie die Bevölkerung noch unisono auf eine vermeintliche akute Terrorgefahr ein.Ebenfalls gesteht Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) vor dem Hintergrund einer wenige Tage vorher begangenen Bluttat eines 17 jährigen IS-Sympathisanten in Würzburg vom 19. Juli 2016, dass dieser Vorfall »im Grenzgebiet zwischen Amoklauf und Terror« liege. Hier zeigt sich nicht bloß die ganze Dimension der gegeneinander willkürlich austauschbaren Begrifflichkeiten, sondern vor allem, dass Amok und Terror faktisch die gleiche materielle Grundlage besitzen.
Der bürgerliche Staat hat die Definitionsmacht über Begriffe wie Amok und Terror. So werden beispielsweise linke Unterstützer der Bolivarischen Revolution in Venezuela bis heute von westlichen Staaten als Terroristen gebrandmarkt und ihre Führungspersonen nicht selten als geisteskranke Wahnsinnige erklärt. Selbiges gilt für islamistische Terroristen wie Osama bin Laden, welcher noch vor wenigen Jahrzehnten als Freiheitskämpfer tituliert wurde. Während Iran noch vor wenigen Monaten von den USA als Verbrecherregime angesehen wurde, sind beide inzwischen wahre Busenfreunde. Die Interessen der herrschenden Klasse sind also maßgeblich dafür verantwortlich, ob etwas als Terrorismus oder Amok angesehen wird oder nicht. Damit sie ihren Interessen zum Erfolg verhelfen, müssen sie ihre Definition der Gesellschaft vermittels der bürgerlichen Massenmedien injizieren.
Wann spricht die herrschende Klasse nun von Terror oder Amok? Wir haben gesehen, dass der Begriff des Terrors eine politisch oder religiös motivierte Komponente besitzt, was nicht für den Begriff des Amoks zutrifft. Beide Phänomene besitzen allerdings die gleiche materielle – also gesellschaftliche – Grundlage. Daher sind sowohl Terroranschläge als auch Amokläufe tragische Ausdrücke gesellschaftlicher Probleme. Weil aber nur dem Terror eine gesellschaftliche Komponente zugesprochen wird, fungiert der Begriff des Amoks automatisch zur Relativierung bzw. verbalen Negation gesellschaftlicher Probleme. In der Regel werden dann zwar die oberflächlichen Möglichkeiten für Amokläufe angesprochen – beispielsweise die Möglichkeit der Beschaffung von Waffen – aber nicht die wesentlichen und tiefer liegenden gesellschaftlichen Ursachen für Amokläufe. So rechtfertigte der Schütze von München seine Gewalttat mit den oben zitierten Worten, in welcher die soziale Frage direkt zum Ausdruck kommt.
Der Täter beklagte sich über Hartz IV und Mobbing, welches immanente Bestandteile der deutschen Klassengesellschaft sind. Wenn das Geld für ein Leben mit kultureller Teilhabe nicht ausreicht und sozial bedingte Ausgrenzung wie Mobbing die eigene Lage weiter erschweren, dann sind Depressionen oftmals vorprogrammiert. Drogenkonsum – falls vorhanden – verschlimmert die Situation zusätzlich. Dies macht deutlich, dass Amokläufe psychisch kranker Menschen ebenfalls oftmals einen sozial-politischen Background haben, welcher sich im Unterschied zu politisch oder religiös motivierten Terroranschlägen aber nicht unmittelbar äußert. Wir sehen also, dass zwischen Amokläufen und Terroranschlägen nur ein temporärer Unterschied liegt. Vermittels ihrer Kategorisierung bringt die herrschende Klasse ihre eigenen Interessen zum Ausdruck. Wer den terroristischen Charakter von Amokläufen leugnet, verkennt die panische Realität der betroffenen Menschen und macht sich bewusst oder unbewusst zum Helfer der bürgerlichen Reaktion.
Wenn die bürgerlichen und insbesondere rechten Medien und Politiker keineswegs zögern, ihre reaktionäre Linie mit solchen gewalttätigen Vorfällen zu rechtfertigen – deren gesellschaftliche Ursachen sie nicht erkennen können oder wollen – dann darf die politische Linke nicht in Passivität versinken und Abseits stehen. Anderenfalls ist es eine Zwangsläufigkeit, wenn rechtspopulistische Parteien immer weiteren Auftrieb erhalten. Es ist eben keine neue Erkenntnis, dass die politische Rechte solche Vorfälle nicht als Ausdrücke von Klassengegensätzen versteht, sondern als Rassenfrage begreift. In diesem Sinne bringen sie terroristische Handlungen grundsätzlich mit Muslimen in Verbindung, getreu der Logik, dass jene politisch weniger relevante Amokläufe den Deutschen vorbehalten seien.
Diese rassistische Denkweise ist sogar in Teilen der politischen Linken angekommen. Auf Facebook kommentierte ein nicht unbekanntes Mitglied der Linksjugend Hamburg unsere Stellungnahme Terror in München – Solidarität mit der Bevölkerung vom 23. Juli 2016 zum Münchener Blutbad dahin gehend, es sei »schön das der Migrationshintergrund keine Rolle spielt, glauben tut ihr das aber offensichtlich nicht, sonst hättet ihr nicht bevor irgendwelche Informationen feststanden von Terror gesprochen.« Nach dieser perversen Logik sei die Verwendung des Wortes Terror also deswegen verfrüht, weil zu jenem Zeitpunkt ein möglicher Migrationshintergrund noch nicht geklärt wurde.
Worum geht es wirklich?
Vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus spielt es keine Rolle, ob ihre Angehörigen nun durch einen Terroranschlag oder einen Amoklauf ihr Leben verloren haben. In letzter Instanz sind auch nicht die subjektiven Gedanken der individuellen Täter für die anschließenden gesellschaftlichen Bewegungen entscheidend, sondern die objektiven politischen Schlussfolgerungen der herrschenden Klasse und die praktischen Konsequenzen des Überbaus. Während die weniger intelligenten Teile der herrschenden Klasse wie der bayrische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) jetzt den Einsatz der Bundeswehr im Inneren fordern, wird dies von den intelligenteren Vertretern der Bourgeoisie ausdrücklich abgelehnt. Dies vorallem deswegen, weil staatliche Repression – die mit einem Einsatz der Bundeswehr einhergeht – die Unzufriedenheit in weiten Teilen der Gesellschaft weiter anheizen könnte und akuten Klassenkampf provoziert.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse sollen aber im Sinne der Herrschenden stabil bleiben. Thomas de Maizière – der zum intelligenteren Kader der herrschenden Klasse gehört – fordert hingegen eine Aufwärmung der vor Jahren von Günther Beckstein (CSU) geführten Debatte um sogenannte Killerspiele und beschäftigt sich einfach mit der Frage, wie ein psychisch kranker Amokläufer überhaupt an Waffen gelangen konnte. Zeitgleich besänftigt er die Bevölkerung, dass die Münchener Polizei einen ausgezeichneten Job geleistet habe und das Münchener Organisationsmodell für die gesamte Bundesrepublik geprüft werden solle. Wir sehen hier ganz deutlich die beschwichtigende Haltung der herrschenden Klasse. Wir erinnern erneut daran, dass selbiger Bundesinnenminister weder eine klare Kategorisierung zur blutigen Attacke in Würzburg abgeben wollte, noch dabei irgendwelche praktischen Konsequenzen angedeutet hat.
Wir haben erklärt, dass der Kategorisierung von Gewalttaten in Amok und Terror auch die Interessen der herrschenden Klasse widerspiegelt. Es wäre aber eine falsche Annahme, den politischen Handlungsspielraum der herrschenden Klasse einzig aus der Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten abzuleiten. Der Handlungsspielraum für gesellschaftliche Einschnitte ist letztlich von den konkreten materiellen Umständen abhängig – und die herrschende Klasse in Deutschland überlegt sich derzeit sehr gut, ob sie weitreichende Veränderungen in der Struktur von Gesellschaft und Staat vornehmen möchte. Einige Linke argumentieren allerdings damit, dass die Kategorisierung der Münchener Bluttat enorm stärkere Bewegungen in der Gesellschaft ausgelöst hätte, wenn von einem Terroranschlag des Islamischen Staats (IS) die Rede gewesen wäre.
Diese Perspektive ist eine mögliche Spekulation, aber in keinem Fall eine Zwangsläufigkeit. Der blutige Angriff von Würzburg – welcher von einem Anhänger des IS ausgeführt wurde – zeigt, dass diese Kalkulation kein Automatismus ist. In der Regel liegen sämtlichen gesellschaftlichen Bewegungen nicht die individuellen Gedanken der von in Gewaltakte verwickelte Individuen oder ihrer formal-juristischen Deklarationen zugrunde, sondern die konkreten Reaktionen des Staats auf solche Vorkommnisse. Wir möchten diese These anhand welthistorischer Ereignisse verdeutlichen.
Mohamed Bouazizi war ein tunesischer Gemüsehändler, dessen öffentliche Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010 die tunesische Revolution und in dessen Folge den arabischen Frühling auslöste. Dieses Vorkommnis war der Funke, der ein Feuer entfachte. Die Gründe für seine Selbsttötung sind allerdings umstritten. Während manche sagen, dass dies eine Reaktion auf die mehrfache Schließung seines Ladens wegen einer fehlenden staatlichen Genehmigung gewesen sei, so behaupten seine Familienangehörigen, dass dies ein Unfall gewesen sei oder private Gründe gehabt habe. Entscheidend für den Ausbruch der tunesischen Revolution waren nicht die rein spekulativen Gedanken der Einzelperson Mohamed Bouazizi, sondern der tunesische Staat, welcher die spontanen Demonstrationen in Gedenken an Mohamed Bouazizi mit aller Gewalt niederschlug. Weil dieser seit Jahrzehnten repressive Staatsapparat so handelte und bei der Bevölkerung schon lange verhasst war, kam es zur Revolution gegen den Machthaber Ben Ali.
In Marokko und Algerien fanden sich mehrere Nachahmungen von Mohameds Selbsttötung, aber keine führte zu revolutionären Prozessen in den beiden Ländern, obwohl Marokko eine reaktionäre Monarchie und Algerien ein nicht minder reaktionäres Präsidialsystem ist. Der Grund dafür liegt ganz einfach darin, dass die herrschende Klasse in Marokko und Algerien aufgrund der Szenarien in Tunesien – und später Libyen, Ägypten und Syrien – eine panische Angst vor revolutionären Erhebungen im eigenen Lande hatten, sodass sie die Bevölkerung vermittels Reformen zu besänftigen versuchten. Wir sehen also, dass revolutionäre Situationen maßgeblich vom Verhalten des Staates abhängig sind. Wenn aber die Widersprüche zu stark ausgeprägt sind, können auch die besten Reformen eine Revolution nicht mehr aufhalten.
Im Zuge des Massakers von Utøya vom 22. Juli 2011 hatte die herrschende Klasse Norwegens tatsächlich eine für sie intelligente Antwort auf das grausame Verbrechen von Anders Breivik formuliert. Anstelle einen Überwachungsstaat zu installieren, sagten diese ganz einfach, dass ihre Antwort auf faschistische Gewalt ein sozialeres Miteinander in der Bevölkerung sein sollte. Ob Pazifismus gegenüber Faschisten sinnvoll ist, sollte an anderer Stelle diskutiert werden, aber zwecks dieser relativ verständnisvollen Reaktion des bürgerlichen Staats kam es anschließend auch zu keinerlei regierungskritischen Bewegungen in Norwegen – und wenn, dann spielte der Massenmord von Anders Breivik dabei keine Rolle. Ob Anders Breivik übrigens ein reflektierter und politisch motivierter Terrorist oder ein psychisch kranker Amokläufer ist – was sein rassistisches und faschistisches Menschenbild vollständig relativiert – wird bis heute diskutiert. Peter Altmaier (CDU) nannte ihn am Abend des 22. Juli 2016 gegenüber dem ZDF jedenfalls nur einen »norwegischen Bürger«. Unsere LeserInnenschaft darf nun selbst überlegen, warum Peter Altmaier ausgerechnet dieses Fazit zieht.
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