Mit diesen Ereignissen wurde die neue weltgeschichtliche Phase erst eingeleitet. Sie wird geprägt sein von einer trägen wirtschaftlichen Entwicklung mit immer wiederkehrenden Einbrüchen, von politischen Turbulenzen und Instabilität, geopolitischen Machtverschiebungen und Reibungen, von Kriegen und bewaffneten Konflikten. Ebenso kommt es zu sozialen und politischen Kämpfen und dem Widerstand der Massen, die alleine einen Ausweg aus dieser Entwicklung bieten können. In diesem Sinne handelt es sich bei unserer aktuellen Periode um eine ‚organische Krise’, wie sie vom revolutionären Marxisten Antonio Gramsci (1891-1937) in der Zwischenkriegszeit definiert wurde.
Wir möchten deshalb im ersten Teil des Artikels kurz auf das Konzept der organischen Krise eingehen. In einem zweiten Schritt wenden wir uns der marxistischen Krisentheorie zu, mit der sich Krisen als notwendiger Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise erklären lassen. Um aber die aktuelle, spezifische Krise zu begreifen, müssen wir uns in einem dritten Schritt die Entwicklungen anschauen, die zur heutigen Situation geführt haben. Im letzten Teil werden wir schließlich die momentane Krise in ihrem organischen Charakter zu verstehen versuchen. Nur so werden wir in der Lage sein, eine soziale Antwort auf die riesigen Herausforderungen unserer Zeit zu entwickeln.
Das Konzept der organischen Krise
In Weiterentwicklung von Marx benutzt Gramsci den Begriff der ‚organischen’ Krise, um eine Unterscheidung zu ‚konjunkturellen’ Krisen einzuführen, wie sie im Kapitalismus regelmäßig (‚zyklisch’) vorkommen. Eine organische Krise unterscheidet sich von einer konjunkturellen durch ihr größeres Ausmaß ihrer „Breite und Tiefe“. In der Gesellschaftsstruktur tauchen nun „unheilbare Widersprüche“ auf.[1] Sie erfasst den gesamten Gesellschaftszusammenhang in einer Vielzahl von spezifischen Krisen, die sich überlagern, verschränken und gegenseitig verstärken. Eine solche Krise bedeutet immer auch einen Legitimitätsverlust der Herrschenden und deren staatlichen Institutionen, in denen sich die Massen nicht mehr vertreten sehen, was Gramsci mit den Begriffen ‚Hegemoniekrise’ und ‚Autoritätskrise’ weiter ausarbeitet.
Für Gramsci besteht eine organische Krise in der Tatsache, „dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum [hier: Übergangsphase] kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitsrescheinungen.“[2] Eine Neuordnung ist unausweichlich, weil es auf die bisherige Weise nicht mehr weitergehen kann. Um diese Neuordnung finden die sozialen und politischen Kämpfe statt, wobei der Ausgang der Krise von den Kräfteverhältnissen und den Klassenkämpfen abhängig ist. Entweder gelingt es der herrschenden Klasse, den Kapitalismus in veränderter Weise aufrechtzuerhalten; oder aber eine soziale Revolution löst die Krise im Sinne der Unterdrückten. Dieses ‚Interregnum’, mit all seinen Krankheitserscheinungen und seinen Kämpfen, kann sich über eine lange Zeit hinziehen.
Auch der russische Revolutionär Leo Trotzki hat in den 1930er Jahren den Begriff der organischen Krise des gesamten kapitalistischen Systems verwendet, um den Unterschied zu einer konjunkturellen oder gar zufälligen Krise klarzumachen.[3] Sowohl Gramsci wie auch Trotzki war damals klar, dass es sich nicht um eine „Endkrise des Systems“ handelt. Der Kapitalismus wird sich immer wieder aufrichten, wenn er nicht durch die bewusste ArbeiterInnenklasse umgestürzt wird. Auch wendeten sich beide Marxisten gegen die Vorstellung, dass eine Wirtschaftskrise und die damit einhergehende Verelendung in mechanischer Weise ein Klassenbewusstsein schafft und die Massen zur siegreichen Revolution treibt: „Ausgeschlossen kann werden, dass die unmittelbaren Wirtschaftskrisen von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen; sie können nur einen günstigeren Boden für die Verbreitung bestimmter Weisen bereiten, die für die ganze weitere Entwicklung des staatlichen Lebens entscheidenden Fragen zu denken, zu stellen und zu lösen.“[4]
Gestützt auf Gramsci und Trotzki meinen wir mit einer organischen Krise eine längere, vielschichtige strukturelle Krise, die die Aufrechterhaltung des gesamten Systems in Frage stellt. Eine solche organische Krise ist also nicht zu verstehen als eine nackte Wirtschaftskrise, da sie untrennbar mit der politischen und ideologischen Krise verbunden ist. So weist uns Gramsci darauf hin, dass eine organische Krise ein komplexer Prozess mit „vielfältigen Erscheinungsformen [ist], in dem Ursachen und Wirkungen sich verkomplizieren und überkreuzen“.[5] Es sei nötig, jeden zu bekämpfen, der eine einzige Ursache der Krise finden will. Um diesen komplexen Prozess der heutigen organischen Krise zu verstehen, müssen wir allerdings, wie Gramsci selbst, von den allgemeinen Bewegungsgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise ausgehen.
Marx’ Erklärung der kapitalistischen Krisen
Im Kapitalismus werden Waren für den Austausch produziert. Geld ist die besondere Ware, mit der sich ein solcher Austausch vollziehen lässt. Das Geld, welches ein Warenbesitzer nach dem Verkauf seiner Ware hat, muss aber nicht zwingend gleich ausgegeben werden. Das bringt die Möglichkeit mit sich, dass der Warenumlauf (‚Zirkulation’) unterbrochen wird und gewisse Waren keine KäuferInnen mehr finden – eine Krise tritt ein.[6] Da in einer solchen Situation mehr Waren vorhanden sind als verkauft werden können, sprechen wir von einer ‚Überproduktionskrise’: eine „Epidemie“, wie Marx und Engels schreiben, „welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre […]. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt.“[7]
Doch weshalb sollte es zu einem Unterbruch im Zirkulationsprozess – und damit zur Krise – kommen? Wir finden die Lösung darin, dass der Prozess, der den Verkauf antreibt und derjenige, der den Kauf ermöglicht, unterschiedlichen Logiken folgen. Im Kapitalismus wird produziert, um profitabel zu verkaufen; konsumiert wird jedoch nur, was mit dem vorhandenem Geld gekauft werden kann. Nun wohnt aber dem Kapitalismus die Tendenz inne, die Produktion von Konsumgütern schneller auszudehnen als die Nachfrage nach denselben: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“[8] Oder in Rosa Luxemburgs Worten: Es besteht ein „Zwiespalt zwischen der unbeschränkten Ausdehnungsfähigkeit der Produktion und den engen Schranken des Absatzmarktes“.[9]
Der Zweck der kapitalistischen Produktion ist nicht der Konsum oder die Bedürfnisbefriedigung, sondern die Geldvermehrung. Kapitalisten investieren Geld, um am Ende des Tages mehr Geld im Sack zu haben. Das geschieht, indem der Kapitalist sich die Ware ‚Arbeitskraft’ kauft, welche die einzigartige Fähigkeit hat, mehr Wert zu schaffen, als sie selbst besitzt. Die Differenz zwischen dem ausgezahlten Lohn und dem Wert des Produktes nennen wir ‚Mehrwert’, wovon der ‚Profit’ ein Teil ist. Dieser Mehrwert muss dann allerdings durch den Verkauf der Ware ‚realisiert’ werden, ansonsten war die Produktion in den Augen des Kapitalisten umsonst. Dieser auf dem Markt realisierte Mehrwert muss dann wieder in die Produktion reinvesitiert werden, damit sich das Kapital ‚verwerten’, sich erweitern und ausdehnen kann. Marx nennt das die ‚Akkumulation (Anhäufung) des Kapitals’.
Die Kapitalakkumulation ist das treibende Motiv des Kapitalismus. Fügt sich der Kapitalist dem Zwang zur Reinvestition und Akkumulation nicht, so geht er in der Konkurrenz unter. Um mithalten zu können oder gar einen Vorsprung gegenüber seinen Mitstreitern zu erlangen, muss er die Produktivität steigern, indem er in arbeitssparende Methoden, in neue Maschinen und neue Technologie investiert. Gelingt es ihm, produktiver und billiger zu produzieren als seine Konkurrenz, so kann er auf dem Markt einen ‚Extra-Profit’ einstreichen. Die Suche nach solchen Extra-Profiten führt zur permanenten Entwicklung der Produktivkräfte, zur ständigen Revolutionierung der Technologie – daher die ganze Dynamik und die fortschrittliche Seite des Kapitalismus. Da blind gegenüber den möglichen Grenzen der Absatzmärkte immer und immer mehr produziert wird, folgt daraus aber auch die ganze Krisenhaftigkeit und Zerstörungskraft des Kapitalismus.
Überproduktion und Überakkumulation
Wenn die Nachfrage stets mit dieser kontinuierlichen Ausweitung der Produktion Schritt halten könnte, bestünde höchstens ein ökologisches Problem. Doch tatsächlich ist in den zuvor beschriebenen Produktionsverhältnissen auch die Tendenz angelegt, die Konsumfähigkeit des Großteils der Bevölkerung zu beschränken. Wenn der Lohn immer kleiner ist als der Wert der neugeschaffenen Waren und zur Steigerung des Mehrwerts die Löhne stets gedrückt werden müssen, dann können die ArbeiterInnen niemals die Waren zurückkaufen, die sie geschaffen haben. Dass trotz dieses Umstandes dennoch nicht permanent eine Überproduktionskrise herrscht, liegt daran, dass die kapitalistische Produktion sich selbst neue Märkte schaffen kann.
Da die Kapitalisten einen Teil ihres Mehrwerts in Produktionsmittel investieren (Rohstoffe, Maschinen, Infrastruktur, aber auch Luxusgüter für Kapitalisten haben eine ähnliche Funktion), entsteht ein ganzer Teil der Wirtschaft, der nur über Umwege von der Kaufkraft der Massen abhängig ist. Somit entstehen neue Märkte für das Kapital und der Widerspruch zwischen der schrankenlosen Produktion und der beschränkten Konsumtionsfähigkeit kann für eine gewisse Zeit überwunden werden. Nur: mit den Investitionen in Produktionsmittel wurden jetzt noch größere Produktionskapazitäten geschaffen. Die Schranken des Absatzmarktes werden die Produktion auf einer höheren Stufenleiter wieder einholen.
Wenn die Märkte gesättigt sind, tritt eine Krise ein. Die Produkte können nicht mehr verkauft und der Mehrwert nicht realisiert werden. Die Unternehmen produzieren unter ihren Möglichkeiten oder gar nicht mehr, setzen ihre ArbeiterInnen auf die Straße oder gehen ein. Da so oder so zu hohe Produktionskapazitäten vorhanden sind, investieren sie nicht mehr in die Wertschöpfung. Diese Überproduktion von Kapital, das nirgends profitabel reinvestiert werden kann, nennen wir ‚Überakkumulation’.
„Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen?“, fragen Marx und Engels und geben eine knappe Antwort gleich selbst: „Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“[10]
Der Weg in die organische Krise…
Diese Beschreibung der allgemeinen Bewegungsgesetze des Kapitalismus und seiner Tendenz zur Überakkumulation, die letztlich in einer Überproduktionskrise endet, passt mustergültig für die momentane organische Krise. Genauso trifft sie aber auf konjunkturelle Krisen zu. Diese können in ihrer Intensität und in ihrer geographischen Ausdehnung beschränkt sein oder nur bestimmte Wirtschaftssektoren erfassen, ohne dass sie sich zu einer allgemeinen Krise ausdehnen. Solche konjunkturellen Krisen bringen auch die kapitalistische Akkumulation und die Art und Weise der Herrschaftsausübung nicht zwingend an ihren Anschlag, sondern können auf diese umgekehrt sogar dynamisierend Wirken: „So hart diese Krisen sich auch auf die Lebensverhältnisse vieler Menschen auswirken, vermindert die Vernichtung und Entwertung von Kapital die Tendenz zur Überakkumulation, schafft Bedingungen zur Umverteilung des Mehrwerts zugunsten der Profite, verbessert die Verwertungsbedingungen des Kapitals, zwingt zur Anpassung der gesellschaftlichen Regulation.“[11]
Um die heutige, konkrete Situation der Krise zu verstehen, reicht also die obige allgemeine Erklärung nicht. Marx bemerkt: „Die reale Krisis kann nur aus der realen Bewegung der kapitalistischen Produktion, Konkurrenz und Kredit, dargestellt werden.“[12]
Es ist klar, dass über zyklische Krisen hinweg über kurz oder lang eine generalisierte Krise entstehen muss. Das Kapital muss sich kontinuierlich ausdehnen – mehr exponentiell denn linear – und die Verwertungsmöglichkeiten hinken zwangsläufig hinterher. Folglich verallgemeinert sich die Tendenz zur Überakkumulation und erfasst stets größere Teile der gesamten Wirtschaft. In eine solche generalisierte Krise schlitterten die Industrienationen und die Weltwirtschaft in der Phase rund um die Ölkrise 1973. Der Ausgang dieser Krise, die trotz ihrer ganzen Verschiedenheit zur heutigen Krise ebenfalls als organische Krise bezeichnet werden kann, bildet den Schlüssel für das Verständnis der heutigen Situation. Denn „[d]er Ursprung der aktuellen Krise liegt in den Maßnahmen, die zur Überwindung der Krise in den 1970er Jahren ergriffen wurden“, wie David Harvey uns treffend erinnert.[13]
Nachdem diese Krise mit keynesianischen Maßnahmen nicht gelöst werden konnte, blies die Bourgeoisie ab Anfang der 1980er-Jahre zum „neoliberalen“ Angriff: zur „Wiederherstellung der Profitrate mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“.[14] Ganz grob lassen sich die Maßnahmen der herrschenden Klasse in vier Überkategorien einteilen: 1. Erfolgreiche Zerschlagung der Macht der ArbeiterInnenbewegung und der Gewerkschaften (weltweite Senkung der Löhne und Sozialleistungen, Intensivierung der Arbeit, gleichzeitig Steuersenkungen für die Unternehmen), 2. Privatisierungen des vormals Öffentlichen, 3. Aufbrechen der Märkte und Liberalisierung des Welthandels (Globalisierung), 4. Deregulierung der Finanzmärkte und Verschuldung über Kredit.
Doch obwohl die gesamten brutalen Maßnahmen der neoliberalen Phase die Profitraten für die Kapitalisten auf Kosten der Lohnabhängigen wiederherstellten, vermochten sie dennoch in keinem Moment, das Problem der Überakkumulation zu lösen. Bereits seit den 80ern wurde es schwierig, profitable Anlagemöglichkeiten für das überschüssige Kapital zu finden – und dies obwohl mit der Marktöffnung Chinas und dem Zusammenbruch der UdSSR nochmals riesige Absatz- und Arbeitsmärkte geschaffen wurden.[15]
…und die Rolle des Kredits
Die fehlenden Investitionsmöglichkeiten in der Realwirtschaft hatten zur Folge, dass immer größere Teile des Kapitals in die unproduktiven Sektoren der Finanzwirtschaft, sowie den Immobilien- und Versicherungssektor gesteckt wurden, was durch die Deregulierung der Finanzmärkte zusätzlich staatlich gefördert wurde. Ohne jedoch einen Mehrwert zu schaffen, wird der Gewinn dort vielmehr durch Spekulation erzielt, was notwendigerweise zur Bildung von Blasen führt, die irgendeinmal platzen müssen.
Damit verbunden bestand eine wichtige Methode, um die Wirtschaft trotz Überakkumulation in Gang zu halten, im riesigen Ausbau des Kreditwesens und der damit einhergehenden öffentlichen und privaten Verschuldung. Wie schon Marx erkannte, bietet das Kreditsystem die Möglichkeit, den Konsum über die Grenzen des Marktes auszudehnen. Die Krise wird so hinausgezögert, nur um an einem späteren Punkt umso stärker einzuschlagen. Durch das Verleihen von billigen und risikobehafteten Krediten, gerade im Immobiliensektor, wurde künstlich eine Nachfrage geschaffen. So konnte weiter produziert und gebaut und auf Pump gekauft werden.
Das Resultat dieser Entwicklung kennen wir. Im Sommer 2007 ist die Blase auf dem US-Immobilienmarkt geplatzt und hat die Finanzindustrie, die Banken und schliesslich die Weltwirtschaft mit sich gerissen. Die Spekulationsblasen als Auslöser können aber nicht kaschieren, dass die Gründe für die Krise in der Realwirtschaft zu suchen sind: Wir sind in einer globalen Überproduktionskrise.
Die organische Krise unserer Zeit…
Heute existieren massive Überkapazitäten in der produktiven Industrie. Gleichzeitig bestehen enorme Massen an Kapital, die nirgends profitabel investiert werden können. Mit anderen Worten: In den meisten Teilen der Industrie kann nicht annähernd soviel produziert werden, wie produziert und verkauft werden müsste, damit ein für die Kapitalisten akzeptabler Profit entstünde. Wenn die Unternehmen soviel produzierten, wie sie mit ihren momentan vorhandenen Kapazitäten könnten, vermöchten sie ihre Produkte nicht mehr abzusetzen. Das liegt wiederum zu einem grossen Teil daran, dass die Löhne und damit die Kaufkraft seit den 80ern gedrückt werden mussten, um die Profite der Unternehmen zu retten. Wenn aber niemand Geld hat, um etwas zu kaufen, fehlt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und die Unternehmen bleiben auf ihren Produkten sitzen.
Anders als in konjunkturellen Krisen verfügt die Bourgeoisie heute über keine Mittel, diese strukturelle Krise zu lösen. So können auch die bürgerlichen Ökonomen ihren Pessimismus inzwischen nicht mehr verbergen und sprechen von „säkularer Stagnation“ (Larry Summers)[16] und Jahrzehnten ohne signifikantem Wirtschaftswachstum (OECD).[17] Die Verlangsamung des Wachstums der chinesischen Wirtschaft und die damit verbundene tiefe Krise der aufstrebenden Märkte (BRICS-Staaten) seit 2013 bedrohen mittlerweile die gesamte Weltwirtschaft. China konnte die Krise mit einem keynesianischen Nachfragestimulierungsprogramm zuvor ungekannten Ausmaßes einige Jahre hinauszögern. Die enormen Investitionen in die Infrastruktur und Industrie haben jedoch die Überakkumulation und die Überproduktion nur weiter angeheizt. Unter diesen Umständen ist es nur eine Frage der Zeit, bis der nächste globale Absturz droht. Allerdings ist die gesamte Munition an wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Regierungen und Zentralbanken nun bereits verschossen: Die Leitzinsen sind quasi bei Null oder gar negativ, die überbordende Staatsverschuldung erschwert staatliche Interventionen zur Nachfrageankurbelung und die Politik des billigen Geldes (‚Quantitative Easing’) greift nicht mehr. Die Sparpolitik und der Angriff auf die Arbeitsbedingungen werden indes weitergeführt werden, können aber das Problem nicht lösen und befördern soziale Konflikte und Widerstand.
Das globale Mindestwachstum zur Aufrechterhaltung des Kapitalismus wird gemeinhin bei drei Prozent angesetzt. Um dieses zu erreichen, müssten nach Harveys Rechnung „auf globaler Ebene neue und profitable Investitionsmöglichkeiten für 1,6 Billionen US-Dollar im Jahr 2010 gefunden werden, und bis 2030 würde diese Summe auf knapp 3 Billionen anwachsen. Im Gegensatz dazu wurden 1950 neue Investitionen in Höhe von 0,15 Billionen und 1973 von 0,42 Billionen benötigt (in inflationsbereinigten Dollar).“[18] Dabei ist nicht ersichtlich, wo heute derart umfassende neue Märkte entstehen könnten. Auch die Auswege aus den letzten beiden organischen Krisen scheinen heute verschlossen: Die organische Krise der Zwischenkriegszeit, rund um den Börsencrash 1929, wurde erst durch den 2.Weltkrieg gelöst (physische Zerstörung von Kapital und Produktivkräften; Kriegsindustrie). Eine solche kriegerische globale „Lösung“ ist jedoch unter den Umständen der heutigen Technologie und den heutigen globalen Kräfteverhältnissen auszuschließen. Der Weg aus der 70er-Krise bietet heute ebenfalls keine Möglichkeit mehr: Die Märkte sind bereits global und nahezu alle Weltregionen sind mehr oder weniger umfassend in die Weltwirtschaft integriert, die Macht der traditionellen ArbeiterInnenbewegung ist gebrochen und die Löhne entsprechend tief, und die Staaten und Haushalte sind in ungekannter Höhe verschuldet. Derweilen spekulieren die Geldkapitalisten zwar munter weiter, was das Überakkumulationsproblem aber gewiss nicht im Geringsten löst.
…und die Notwendigkeit des Sozialismus
So beschreiben Gramscis Worte vortrefflich unsere heutige organische Krise: „[D]iese Krise zu kontrollieren ist nicht möglich gerade wegen ihrer Breite und Tiefe, die ein solches Ausmaß angenommen hat, dass die Quantität zur Qualität wird, das heißt zu organischer und nicht mehr konjunktureller Krise.“[19] Die Produktivkräfte haben sich so weit entwickelt, dass der Kapitalismus an seine eigenen Grenzen stößt. Entsprechend hat diese umfassende strukturelle Krise heute alle Ebenen erreicht: ökonomisch, finanziell, sozial, politisch, ideologisch, diplomatisch, militärisch und kulturell. Die gesellschaftlichen Widersprüche treten nun in allen Bereichen offen hervor, die verschiedenen Krisenerscheinungen verschränken und verstärken sich gegenseitig in einer organischen Krise.
Die neoliberale Ideologie, dieser quasi-religiöse Glauben an den (freien) Markt und an die individuelle Freiheit, die vor der Krise die Gesellschaft einigermaßen zusammenhielt und Widerstand durch Zustimmung zum herrschenden System fast verstummen liess, verliert bei sinkendem Lebensstandard und wachsender Unsicherheit zunehmend ihre Glaubwürdigkeit. Die Massen sehen sich nicht mehr vertreten im politischen „Establishment“ und suchen einen neuen politischen Ausdruck. Parteien, die über Jahrzehnte staatstragend waren, werden von links und rechts herausgefordert – die Gesellschaft polarisiert sich. Der Staat tritt wieder offen als repressive Gewalt in Erscheinung, wo immer sich die krisengebeutelten Lohnabhängigen und Unterdrückten zur Wehr setzen. Nationalstaaten werden wieder wichtiger und treten in Gegensatz zueinander – die EU driftet auf Grund eigener innerer Widersprüche auseinander. Gleichzeitig hat die Entwicklung des Kapitalismus mit seinem notwendigen imperialistischen Expansionsdrang mehr Menschen auf die Flucht getrieben als je seit dem Zweiten Weltkrieg, hat die ökologische Krise zugespitzt, hat religiösen Fundamentalismus geschürt und damit Barbarei und kulturellen Niedergang befördert.
Auf all diese Krisenerscheinungen haben die Repräsentanten der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft notwendigerweise keine Antworten zu bieten, weil deren eigene Dynamik diese Krisen überhaupt erst hervorgebracht hat – es ist die Krise dieser Gesellschaftsformation selbst. Wir sind in einer Übergangsphase, in der die alte Ordnung ihren progressiven Charakter verloren hat und im Sterben begriffen ist, während sich noch nicht abzeichnet, was als Neues geboren werden kann.
Das heißt nicht, dass sich das System in einer Endkrise befindet und der Kapitalismus von selbst zusammenbrechen wird. Es heißt aber, dass die Herrschenden keine anderen Möglichkeiten haben, als ihre Macht mit immer extremeren und autoritäreren Methoden aufrechtzuerhalten. Die globale Angleichung der Löhne gegen unten und die Gewaltherrschaft basierend auf Polizei- und Militärapparat erleben Lohnabhängige bereits jetzt zunehmend überall auf der Welt. Es ist klar, dass wir für die Krise mit Unsicherheit und wachsendem Elend bezahlen müssen.
Der Ausgang dieser organischen Krise entscheidet sich im Klassenkampf. Ist unsere Klasse nicht fähig, sich zu erheben und eine neue, menschliche Gesellschaft aufzubauen, so wird die Neuordnung von den Herrschenden gestaltet werden. Der soziale Preis dieser „Lösung“ wäre wohl weit höher als uns lieb sein kann.
Was die heutige Linke vergessen hat, was dem Marxismus immer bekannt war, dass der Sozialismus nicht einfach eine Idee neben anderen politischen Einstellungen ist. Er ist für die Lohnabhängigen und Unterdrückten eine Notwendigkeit: der einzige Ausweg vor der sich verschärfenden Knechtschaft und Barbarei des Kapitals. Uns zu organisieren und für die Überwindung des Kapitalismus zu kämpfen, ist die schwere Aufgabe unserer Generation. Eine Aufgabe, die doch wunderbar ist, weil wir eine historische Rolle spielen und über das Schicksal der Menschheit entscheiden werden.
[1] Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Heft 8, §216, Argument-Verlag, 1991ff., s.1070. [2] Gramsci, H.3,§34, s.354 [3] Vgl. Rob Sewell, „The Organic Crisis of Capitalism“, aufrufbar unter: http://www.marxist.com/the-organic-crisis-of-capitalism-part-one.htm[4] Gramsci, H.13, §17, s.1563f. [5] Gramsci, H.14.,§58, s.1682 [6] Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Band 1, MEW23, Dietz-Verlag, s.127f. [7] Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW4, s. 468. [8] Karl Marx, Das Kapital, Band 3, MEW25, s. 501. [9] Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, BMV 2009, s.45. [10] Marx, Engels, op.cit., MEW4, s.468. [11] Mario Candeias, „Wenn das Alte stirbt… – Organische Krise bei Antonio Gramsci“, in: Michael Brie (Hrsg.): «Wenn das Alte stirbt…», Die organische Krise des Finanzmarktkapitalismus, 2013, Rosa-Luxemburg-Stiftung, s.15. [12] Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW26.2, s.715. [13] David Harvey, Kapitalismuskritik – die urbanen Wurzeln der Finanzkrise, den antikapitalistischen Übergang organisieren, VSA, 2012, s. 63. [14] Josef Falkinger, „Jenseits von Hayek und Keynes: Eine marxistische Interpretation der wirtschaftlichen Entwicklung seit 1945“, aufrufbar unter: http://www.derfunke.de/index.php/rubriken/wirtschaft/558-jenseits-von-hayek-und-keynes-eine-marxistische-interpretation-der-wirtschaftlichen-entwicklung[15]Harvey, op.cit., s.67. [16] Lawrence H. Summers, „The Age of Secular Stagnation: What It Is and What to Do About It“, aufrufbar unter: https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/2016-02-15/age-secular-stagnation[17] OECD, „Policy challenges for the next 50 years“, aufrufbar unter: http://www.oecd.org/economy/lookingto2060.htm[18] Harvey, op.cit., s.67. [19] Gramsci, H.8, §216, s.1070.
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