Die Arbeitswerttheorie
Was vereint diesen doppelten Charakter des Geldes – was verbindet die Beispiele des „fei“, die Kerbhölzer und das antike Münzsystem und unterscheidet es vom primitiven Kommunismus oder den hierarchisch geplanten Ökonomien Mesopotamiens, die vorher erwähnt wurden – ist in erster Linie seine Rolle als Maßeinheit – oder Repräsentant – von Wert. Die entsprechende Frage, die daraus entsteht, lautet deshalb: Was bedeutet Wert?
Wie vorher schon beschrieben wurde, liegen die Ursprünge des Geldes in der Entwicklung der Warenproduktion und des –austausches; solche Waren wurden für den Markt hergestellt. Marx beginnt im Kapital sich mit dieser Frage zu befassen und er erklärt, dass Waren unter doppelten Gesichtspunkten zu betrachten sind. Einerseits haben alle Waren einen Gebrauchswert, die Nützlichkeit eines Dings für die Gesellschaft und andererseits müssen solche Waren einen Tauschwert haben – ein quantitatives Verhältnis zu anderen Waren (das allgemein als Warenwert bezeichnet wird).
Zur gleichen Zeit bemerkte Marx, besteht eine deutliche Trennung zwischen diesen beiden Eigenschaften einer Ware; die erste bedingt die letzte nicht, d. h. die Nützlichkeit eines Produktes hat wenig mit Tauschwert zu tun. Ein Füller kann z.B. nützlich sein, ein Auto ebenfalls, aber es ist klar, dass ein Durchschnittsauto den vieltausendfachen Wert eines (normalen) Füllers hat. Diamanten werden mittlerweile als höchst wertvoll angesehen und trotzdem haben sie nur einen geringen sozialen Gebrauch.
Das Rätsel, das die klassischen Ökonomen wie Smith und Ricardo lösen wollten – und der Ausgangspunkt für Marx bei seiner Analyse des kapitalistischen Systems – war: Was bestimmte das Tauschverhältnis zwischen verschieden Waren? Warum wurde eine bestimmte Menge einer speziellen Ware für eine bestimmte Menge einer anderen Ware gehandelt? Mit anderen Worten: Was ist die Quelle des Werts?
Um an diese Frage heranzugehen fragte Marx zuerst: Was haben all diese Waren gemeinsam? Welcher Aspekt einer Ware existiert, der sowohl allgemein als auch vergleichbar ist? Welche Qualität verbindet die Vielfalt der Waren, die für den Markt produziert werden, mit der Vielzahl von Anwendungen, Eigenschaften und physischen Merkmalen? Die Antwort, zu der Marx gelangte, war Arbeit.
Alle Waren sind letztendlich Produkte der Arbeit; und es ist die Arbeit, die im Endeffekt die Quelle sämtlicher Werte ist. Der Tauschwert (oder einfach Wert), so Marx, wird durch die relative Menge von Arbeit, die verschiedene Waren enthalten, ausgedrückt – sowohl in Bezug auf „lebendiger“ Arbeit durch den Produzenten als auch der „toten“ Arbeit durch die Rohstoffe und Werkzeuge, die im Produktionsprozess enthalten sind.
Marx war aber nicht der erste, der erklärte, dass Arbeit die Quelle des Werts darstellt. Eine solche Vorstellung war von den klassischen Ökonomen (und auch schon von denen in der Antike) aufgeworfen worden. Marx entwickelte die „Arbeitswerttheorie“, wobei er jedoch die Frage nicht vom Standpunkt des einzelnen Arbeiters/der einzelnen Arbeiterin betrachtete, sondern von der Arbeit der Gesellschaft im Allgemeinen:
„Mit dem nützlichen Charakter der Arbeitsprodukte verschwindet der nützlicher Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die verschiedenen konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit. (Das Kapital, Bd. 1 S. 52)
Die Frage des Werts ist nach Marx nicht die nach der Arbeit, die vom Individuum aufgewendet wird. Im Kapitalismus, wo die Warenproduktion und der –austausch vorherrschen und allumfassend sind, werden Waren nicht nur einfach zwischen Individuen ausgetauscht, sondern sie werden auf den Markt gebracht und dort verkauft. Die Produzenten und die Konsumenten treffen sich nie oder kaum. Auf diese Weise geht der individuelle Charakter jeder Ware verloren und wird stattdessen einfach ein Beispiel für eine Vielzahl von ähnlichen Gebrauchswerten.
Im Gegenzug geht der individuelle Charakter der Arbeit, den jede Ware enthält, verloren. KäuferInnen auf dem Markt interessiert die Arbeit nicht, die verwendet wurde, um jede einzelne Ware herzustellen, sondern nur die Menge Arbeit, die benötigt wird, um diese oder jene Ware im Allgemeinen durchschnittlich zu produzieren. VerkäuferInnen auf dem Markt – heute einem echten Weltmarkt – müssen deshalb gegen das Durchschnittsniveau an Fähigkeit, Technologie und Organisation, die in ihrem Industriebereich vorgefunden werden, in Konkurrenz treten. Das zwingt die Unternehmen durch die Investition in neue Maschinen und neue Methoden zu konkurrieren, um die Produktivität zu steigern und so ihre Produkte unter dem allgemeinen Durchschnitt der Mitbewerber zu verkaufen.
Der Wert von Waren wird deshalb nicht durch die Untersuchung der verrichteten Arbeit für eine einzelne Ware bestimmt, sondern indem man sich die Arbeit anschaut, die nötig ist, um eine vorgegebene, relativ homogene Ware im Allgemeinen zu produzieren. In diesem Sinne erklärte Marx, dass der Wert einer Ware nicht nur einfach aufgrund der Arbeit besteht, wie die klassischen Ökonomen angenommen hatten, sondern aufgrund der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. „Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen.“ (Das Kapital, Bd. 1 S. 53)
In einer relativ unterentwickelten Marktwirtschaft kann es einen Flexibilitätsgrad bezüglich der Menge einer Ware, die gegen eine andere in einem individuellen, isolierten Tauschakt getauscht wird, geben. Die unterschiedliche Menge an Arbeitszeit, die in einem bestimmten Produkt steckt, ist scheinbar zufällig und in diesem Sinne, wie oben angegeben, scheint auch der Wert einer Ware zufällig zu sein. Sobald der Warenaustausch verallgemeinert wird, verliert jeder Tausch jedoch seinen individuellen Charakter und die verschiedenen „zufälligen“ Werte, d. h. die Arbeitszeiten, die in diesen konkreten Handlungen zu beobachten sind, belaufen sich auf den Durchschnitt und ein allgemeiner, objektiver Wert, d. h. die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, entsteht. Der Tauschakt ist mittlerweile der einzige Beweis für gesellschaftliche Notwendigkeit jeglicher Arbeit.
Die allgemeine Form des Werts kommt deshalb historisch an einen Punkt an, wenn der Prozess der Warenproduktion und des –austausches so allgemein geworden sind, dass die relativen Werte, d.h. die verrichtete Arbeitszeit, der Waren sich selbst den Käufern und Verkäufern auf dem Markt nicht als Zufall, sondern als objektive Fakten präsentieren.
Wir sehen aus diesem Grund, wie das Wertgesetz – wie jedes Gesetz in der Natur, der Geschichte und der Gesellschaft – nicht etwas Zeitloses ist, das von außen auferlegt wurde, sondern etwas dialektisches, das aus den inneren Wechselwirkungen entsteht. Notwendigkeit drückt sich selbst durch Zufall aus. Im Falle des Wertgesetzes, tritt das Gesetz nur an einem historischen Punkt, an dem die Warenproduktion und der –austausch verallgemeinert werden, auf und setzt sich durch.
Geld wiederum ist der ultimative Ausdruck dieser Verallgemeinerung des Wertgesetzes; die logische Schlussfolgerung der Entwicklung der Warenproduktion und des –austausches, die einen universellen Maßstab, ein Standardmaß, benötigt, gegen den der Wert aller anderen Waren ausgedrückt werden kann.
Wo die Warenproduktion und der Warenaustausch in der Gesellschaft noch nicht Fuß gefasst haben, ist der Wertbegriff bedeutungslos und es besteht kein soziales Bedürfnis nach Geld. Zum Beispiel hatte „die immense Perfektion der bürokratischen Kommandowirtschaft Mesopotamiens keinen Bedarf nach irgendeinem universellen ökonomischen Wertbegriff… Deshalb entwickelte sie auch nicht den ersten Bestandteil des Geldes: eine Einheit von einem abstrakten, universell anwendbaren ökonomischen Wert“, so Felix Martin.
“Die einfache Warenform ist daher der Keim der Geldform.” (Das Kapital, Bd. 1, S. 85)
Soziale Beziehungen und Entfremdung
Das wichtige Argument, dass Marx betonte, ist, dass der Wert – und deshalb auch das Geld in Form von Preisen – letztendlich eine soziale Beziehung ist: eine Beziehung zwischen der Arbeit von verschiedenen Individuen, die unter einem System der allgemeinen Warenproduktion und des allgemeinen Warenaustausches, sich selbst als Beziehung zwischen Dingen ausdrückt. „Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische (bizarre) Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.“ (Das Kapital, Bd. 1, S. 86)
Geld ist deshalb kein Ding, sondern ein Geflecht von Beziehungen. Das Geldsystem besteht wiederum nicht ausschließlich aus Bargeld und Münzen noch aus Zahlen in einem Geschäftsbuch, sondern ist ein System sozialer Beziehungen, ein Ausdruck für die Verteilung von Reichtum in der Gesellschaft, der durch Arbeit geschaffen wurde. Der Geldreichtum eines Individuums ist einfach nur ein Anspruch auf einen Anteil des sozialen Reichtums.
Diese sozialen und ökonomischen Beziehungen schließlich durch Rechtsbeziehungen d. h. Eigentum – begründet, was letztendlich die Rückendeckung durch die Staatsmacht bedeutet: „die besondere Formation bewaffneter Menschen“ (um es mit Lenins Worten zu sagen), die in der Klassengesellschaft agiert, um die Unantastbarkeit des Privateigentums zu verteidigen. Graeber stellt fest: Obwohl „dies nicht bedeutet, dass der Staat notwendigerweise das Geld erzeugt… Der Staat vollstreckt die Vereinbarung nur und diktiert die Rechtsbegriffe“.
Mit der Ausbreitung des Gelds werden die sozialen Beziehungen dann zunehmend in Geld- und Finanzbeziehungen umgewandelt. Mit den zuvor zitierten Worten von Engels, Geld agiert als „ätzende Säure“, die alle bestehenden sozialen Bindungen auseinanderbricht. Felix Martin kommentiert das Aufkommen des Geldes im antiken Griechenland und ist sich mit Engels einig, wie: „… mit der Erfindung des Münzwesens war eine Traumtechnologie für die Aufzeichnung und den Transfer finanzieller Verpflichtungen von einer Person auf die andere, geboren wurde… Das Ergebnis war eine weitere Beschleunigung der Geschwindigkeit bei der Monetisierung. Überall wurden die sozialen Verpflichtungen in finanzielle Beziehungen umgewandelt… Geld wurde zu dem universellen Lösungsmittel, welches alle traditionellen Verpflichtungen auflösen konnte.“
Mit der Entwicklung und Verallgemeinerung der Geldform wird die Trennung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert noch größer. Die am Geldsystem von Warenproduktion und Warenaustausch Beteiligten werden immer stärker von ihrer Arbeit entfremdet. Die Dinge, die sie herstellen, sind für sie nicht nützlich, sondern einfach nur für andere. Alle Bedürfnisse werden, wie schon erwähnt, auf das Bedürfnis nach Geld degradiert – diesem universellen Äquivalent, das man gegen alle anderen Waren tauschen kann, um jedes vorstellbare Bedürfnis zu befriedigen.
Innerhalb primitiver Gemeinwesen, wo die die Produktion ein gemeinschaftsbezogener Prozess war, existiert eine derartige Entfremdung nicht und die Warenproduktion ist ursprünglich auf die Produkte begrenzt, die am Rande der Gesellschaft mit anderen Gemeinwesen getauscht werden. Aber die Dynamik und die Gesetze der Warenproduktion und des Warenaustausches haben eine eigene Logik, die sobald sie begonnen haben, sich auflösen und sich der gesamten Gesellschaft aufdrängen. Wie Marx feststellte: „Sobald Dinge einmal im auswärtigen, werden sie auch rückschlagend im innern Gemeinleben zu Waren“. (Das Kapital, Bd. 1, S. 102)
Mit anderen Worten, sobald die Arbeitsprodukte außerhalb des Gemeinwesens gehandelt werden, und somit die relative Arbeitszeit der besagten Produkte in einem gegenseitigen Vergleich gestellt werden, beginnt derselbe Vergleich notwendigerweise zwischen den Arbeitsprodukten innerhalb des Gemeinwesens; Produkte, die vorher nicht zwischen privaten Individuen ausgetauscht wurden, sondern stattdessen als Teil des Gemeinguts produziert wurden. Die Wertgesetze fangen an sich innerhalb der Gesellschaft durchzusetzen und die Trennung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert hat sich etabliert.
“Im Laufe der Zeit muß daher wenigstens ein Teil der Arbeitsprodukte absichtlich zum Behuf des Austausches produziert werden. Von diesem Augenblick befestigt sich einerseits die Scheidung zwischen der Nützlichkeit der Dinge für den unmittelbaren Bedarf und ihrer Nützlichkeit zum Austausch. Ihr Gebrauchswert scheidet sich von ihrem Tauschwerte. “(Das Kapital, Bd. 1, S. 103)
Marx‘ Analyse über die Entwicklung des Gelds basiert deshalb auf der Erkenntnis von der Entwicklung der Ware, wie oben beschrieben. Wenn die Warenproduktion und der –austausch zunehmend verallgemeinert werden, sehen wir die allgemeine Form des Werts auftreten. Jeder einzelne Produzent will seine speziellen Produkte mit der Vielzahl der sich auf dem Markt befindenden Produkte austauschen.
Da dieses System allgemeingültig wird, wächst ein gesellschaftlicher Bedarf nach einem Wertmaß – nach einem universellen Äquivalent und einer Rechnungseinheit, welche als Maßstab agieren könnte, mit dem man den Wert aller anderen Waren vergleichen kann. Es ist das universelle Äquivalent oder die Rechnungseinheit, welche die Grundlage für das Geld bildet.
Das Konzept Geld wird dann zur endgültigen Form der Entfremdung des Produzenten/der Produzentin von seiner/ihrer Arbeit. Wir sehen nicht länger die Produktion für den direkten Konsum, noch werden Waren als Tauschwerte für den Eigentümer hergestellt, die einfach nur direkt gegen andere Waren, die Tauschwerte des Empfängers sind, gehandelt. Jetzt verlangt der Produzent stattdessen Geld im Tausch für seine Produkte – Geld, welches die abstrakteste und universellste Form der Arbeit darstellt, ohne jeglichen Gebrauchswert für den Besitzer, nur mit der Fähigkeit versehen, den Wert seiner eigenen Arbeit zu repräsentieren.
“Der Geldkristall ist ein notwendiges Produkt des Austauschprozesses, worin verschiedenartige Arbeitsprodukte einander tatsächlich gleichgesetzt und daher tatsächlich in Waren verwandelt werden. Die historische Ausweitung und Vertiefung des Austausches entwickelt den in der Warennatur schlummernden Gegensatz von Gebrauchswert und Wert. Das Bedürfnis, diesen Gegensatz für den Verkehr äußerlich darzustellen, treibt zu einer selbständigen Form des Warenwerts und ruht und rastet nicht, bis sie endgültig erzielt ist durch die Verdopplung der Ware in Ware und Geld. In demselben Maße daher, worin sich die Verwandlung der Arbeitsprodukte in Waren, vollzieht sich die Verwandlung von Ware in Geld.“ (Das Kapital, Bd. 1, S. 101-102)
Das Rätsel des Profits
An einem bestimmten Punkt führt diese zunehmende Entfremdung, die mit der Trennung vom Tauschwert verbunden ist, zu einer qualitativen Transformation. Ursprünglich ist der Kreislauf der Warenproduktion und des –austausches der von W-G-W: Waren (W) werden produziert, für Geld (G) verkauft und das Geld wird dann benutzt, um andere Waren zu kaufen.
Später verwandelt sich dieser Kreislauf jedoch in sein Gegenteil, den von G-W-G: Wir fangen mit dem Geld an, das gebraucht wird, um Waren zu kaufen, in der Hoffnung diese weiterzuverkaufen. Die Entwicklung des G-W-G-Kreislaufs ist mit dem Emporkommen der Klasse der Kaufleute verknüpft, wie von Engels oben beschrieben, einer Klasse, die sich nicht länger selbst mit der Produktion beschäftigt, sondern ausschließlich mit dem Austausch der Produkte.
In Wirklichkeit handelt es sich nicht um einen G-W-G-Kreislauf sondern um einen G-W-G’-Kreislauf, indem G’ eine Geldsumme repräsentiert, die größer ist als der ursprüngliche Geldaufwand. Das Ziel eines Kaufmannes ist es, mit anderen Worten, einfach durch den Tauschakt mehr Geld zu verdienen. Die Akkumulation des Gelds wird zum einzigen Daseinszweck des Systems; die Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse spielt nur eine untergeordnete Rolle.
Zur gleichen Zeit kommen, wie Engels ebenfalls erklärt, die Wucherer auf, die Geldverleiher und Kapitalgeber, die sich nicht die Mühe machen wollen zu kaufen und verkaufen und hoffen, Geld mit Geld zu verdienen: G-G‘
Während sowohl Kaufleute und Wucherer eine notwendige Rolle innerhalb des Marktsystem spielten (und immer noch spielen), indem sie die Ausweitung des Handels und die ununterbrochene Kontinuität der Warenzirkulation erleichterten, waren (und sind) diese sozialen Gruppen dennoch gleichzeitig unglaublich parasitär. Letztlich erzeugen weder der Kaufmann noch der Geldverleiher irgendwelche neuen Werte durch ihre Handlungen. Stattdessen stellen ihre Profite nur einen Vermögenstransfer dar – ein Teil des Werts, der woanders erzeugt wurde, nämlich in der realen Produktion.
Das Rätsel über die Ursprünge des Profits im Kapitalismus war ein Problem, dass die klassischen Ökonomen verblüffte und ausbremste, die behaupteten, dass der Profit im Tauschprozess, wie dem des Kaufmanns, der „billig einkauft und teuer verkauft“, erzielt wird. Aber wie Marx erklärte, kann eine solche Handlung, bei dem es möglich ist, dass ein Individuum ein anderes betrügt, nicht erklären, wie der Profit für die Gesellschaft als Ganzes hergeleitet wird. Denn in einem allgemeinen System der Warenproduktion und des Warenaustausches sind wir alle Käufer und Verkäufer. Selbst die Kapitalisten sind Verkäufer und Käufer: Sie verkaufen natürlich ein Produkt, aber zuerst müssen sie Rohstoffe kaufen, in Maschinen investieren und die Löhne der ArbeiterInnen bezahlen. Mit anderen Worten, was mit der einen Hand durch „Betrug“ gewonnen wird, wird später mit der anderen verloren. Der Verlust des einen ist der Gewinn des anderen und umgekehrt.
“Gesetzt nun, es sei durch irgendein unerklärliches Privilegium dem Verkäufer gegeben, die Ware über ihrem Werte zu verkaufen, zu 110, wenn sie 100 wert ist, also mit einem nominellen Preisaufschlage von 10%. Der Verkäufer kassiert also einen Mehrwert von 10 ein. Aber nachdem er Verkäufer war, wird er Käufer. Ein dritter Warenbesitzer begegnet ihm jetzt als Verkäufer und genießt seinerseits das Privilegium, die Ware 10% zu teuer zu verkaufen. Unser Mann hat als Verkäufer 10 gewonnen, um als Käufer 10 zu verlieren. Das Ganze kommt in der Tat darauf hinaus, daß alle Warenbesitzer ihre Waren einander 10% über dem Wert verkaufen, was durchaus dasselbe ist, als ob sie die Waren zu ihren Werten verkauften. Ein solcher allgemeiner nomineller Preisaufschlag der Waren bringt dieselbe Wirkung hervor, als ob die Warenwerte z.B. in Silber statt in Gold geschätzt würden. Die Geldnamen, d.h. die Preise der Waren würden anschwellen, aber ihre Wertverhältnisse unverändert bleiben.“ (Das Kapital, Bd. 1, S. 175)
“Der zirkulierende Wert hat sich um kein Atom vergrößert, seine Verteilung zwischen A und B hat sich verändert. Auf der einen Seite erscheint als Mehrwert, was auf der andren Minderwert ist, auf der einen Seite als Plus, was auf der andren als Minus... Die Gesamtheit der Kapitalistenklasse eines Landes kann sich nicht selbst übervorteilen.“ (Das Kapital, Bd. 1, S. 177)
Woher kommt der Profit, wenn er nicht aus dem Tauschakt und nicht aus der Zirkulationssphäre entspringt? Ein Kapitalist muss mit dem Geld anfangen, Waren zu ihren tatsächlichen Kosten zu kaufen, das Produkt zu einem fairen Preis verkaufen und wird über mehr verfügen als zu Beginn. „Um aus dem Verbrauch einer Ware Wert herauszuziehn, müßte unser Geldbesitzer so glücklich sein, innerhalb der Zirkulationssphäre, auf dem Markt, eine Ware zu entdecken, deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre, daher Wertschöpfung.“ (Das Kapital, Bd. 1, S. 181)
Mit anderen Worten, es muss eine Ware geben, die der Kapitalist kaufen kann und die selbst in der Lage ist, Wert zu schaffen. „Und der Geldbesitzer findet auf dem Markt eine solche spezifische Ware vor - das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft“, so Marx. (ebd.). Diese Arbeitskraft –das “Arbeitsvermögen” – wird normalerweise als Beschäftigung für einen bestimmten Zeitabschnitt ausgedrückt. Zum Beispiel erhalten ArbeiterInnen Verträge, in welchen die Wochenstundenzahlen oder Wochen pro Jahr, die sie für den Kapitalisten arbeiten müssen, festgelegt sind. Wie effizient oder hart sie in dieser Zeit arbeiten – d. h. wie viel sie tatsächlich in einer vorgegebenen Woche oder einem vorgegebenem Jahr produzieren – ist eine Frage, die der Kapitalist getrennt davon optimieren muss. Der Kapitalist bezahlt für die geleistete Zeit des Arbeiters/der Arbeiterin; es ist dann Sache des Kapitalisten, die Zeit so effektiv wie möglich zu nutzen, um so viel wie möglich zu produzieren.
Der qualitative Schritt vorwärts bei Marx war deshalb, zu erkennen, dass die ArbeiterInnen selbst nicht nur KäuferInnen von Waren sind, sondern auch die VerkäuferInnen einer sehr speziellen Ware sind: ihre Arbeitskraft – ihre Fähigkeit zu arbeiten. Was der Kapitalist vom Arbeiter/der Arbeiterin kauft ist deshalb nicht seine/ihre tatsächliche Arbeit, sondern seine/ihre Fähigkeit zu arbeiten.
Wie alle anderen Waren, erklärte Marx: „Der Wert der Arbeitskraft, gleich dem jeder andren Ware, ist bestimmt durch die zur Produktion, also auch Reproduktion, dieses spezifischen Artikels notwendige Arbeitszeit…oder der Wert der Arbeitskraft ist der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel.“ (ebd. S. 184/185)
In monetärer Hinsicht wird der Preis der Arbeitskraft durch den Lohn für die ArbeiterInnenklasse repräsentiert. Dieser Lohn muss aus diesem Grund in der Lage sein, die notwendigen Ausgaben für die ArbeiterInnen zur ihrer Selbsterhaltung zu decken, dazu gehören Nahrung, Unterkunft, Kleidung, Gesundheitsversorgung und Bildung. Weiterhin, betont Marx, dass der Wert der Arbeitskraft nicht nur die Ausgaben des einzelnen Arbeiters/der einzelnen Arbeiterin decken muss, sondern auch die der Familie und der weiteren Existenz der ArbeiterInnenklasse als Ganzes.
Der gesellschaftlich notwendige Lohn ist deshalb nicht einfach der für die bloße minimale Existenz der ArbeiterInnenklasse, sondern der in einer bestimmten sozialen und historischen Situation, der sich von Land zu Land, von einem Zeitalter zum nächsten unterscheidet. Die ArbeiterInnenklasse hat durch eine Geschichte der Klassenkämpfe die Ansprüche über die Höhe des Durchschnittslohns – und damit des durchschnittlichen Lebensstandards – erhöht. Der Wert der Arbeitskraft ist darum durch den Klassenkampf zwischen der ArbeiterInnenklasse und der Kapitalistenklasse bestimmt; ein Kampf um höhere Löhne seitens der ArbeiterInnen und größerer Profite seitens der Kapitalisten.
Der Schlüssel zu den Profiten der Kapitalisten liegt in der Fähigkeit der ArbeiterInnen im Laufe des Tages mehr Werte zu schaffen als sie am Ende des Tages in Form von Lohn zurückbezahlt bekommen. Wenn z. B. der Arbeitstag acht Stunden dauert, brauchen die ArbeiterInnen vielleicht nur den halben Arbeitstag, also vier Stunden, um die Waren zu produzieren, die ihrem Lohn entsprechen. Mit anderen Worten, die verbleibenden vier Stunden der Arbeit des Arbeiters/der Arbeiterin sind aus der Perspektive des Kapitalisten „gratis“ und die Produkte, die in diesem Zeitraum produziert werden, bilden den Mehrwert.
Die Quelle für die Profite der Kapitalisten liegen nicht im Austausch oder der Zirkulation, sondern in der Produktion. Profite werden aus diesem Mehrwert erzielt – aus der unbezahlten Arbeit der ArbeiterInnenklasse. Der restliche Mehrwert wird zwischenzeitlich geteilt – in Form von Mieten und Zinsen – unter den verschiedenen Parasiten, die sich die Reichtümer aneignen, die in der realen Produktion erzeugt wurden: den Landbesitzern, Wucherern und den Geldgebern.
Es ist das Gewinnstreben, das wiederum als Antriebsmotor innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft fungiert, dazu gehören der Wettbewerb billiger zu verkaufen, die Eroberung von Märkten und die Profitsteigerung durch Investitionen in neue Technologien, um die Produktion zu erhöhen. Mit dem Crash von 2008, den darauf folgenden Krisenjahren und der anhaltenden weltweiten wirtschaftlichen Stagnation ist deutlich geworden, dass dieser Motor abgewürgt wurde.
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